09.09.2010
Bundesfinanzhof: Beschluss vom 01.07.2010 – V B 62/09
Gründe
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
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Nach § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Revision u.a. zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) oder die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO). Die Nichtzulassung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 1 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).
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1.
Die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) aufgeführten Rechtsfragen haben keine grundsätzliche Bedeutung.
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Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Die Zulassung der Revision kommt nur wegen einer klärungsbedürftigen und klärbaren Rechtsfrage in Betracht. An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn die streitige Rechtsfrage aufgrund der Rechtsprechung bereits geklärt ist (vgl. BFH-Beschluss vom 2. April 2009 V B 15/08, BFH/NV 2009, 1284, m.w.N.).
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a)
Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob die Steuer erhoben werden darf, wenn eine mangelhafte Durchsetzung die gleiche Steuerbelastung in Frage stellt, ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des BFH bereits geklärt:
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Danach verlangt der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Eine Belastungsungleichheit, die durch Vollzugsmängel bei der Steuererhebung hervorgerufen wird, wie sie immer wieder vorkommen können und sich auch tatsächlich ereignen, führt indes noch nicht zu einer gleichheitswidrigen Benachteiligung einzelner Steuerpflichtiger und damit zur Verfassungswidrigkeit der materiell-rechtlichen Norm. Etwas anderes gilt dann, wenn sich eine Erhebungsregelung gegenüber einem Besteuerungstatbestand in der Weise strukturell gegenläufig auswirkt, dass der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann, und dieses Ergebnis dem Gesetzgeber zuzurechnen ist (vgl. BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654; BFH-Beschluss vom 29. Oktober 2003 V B 45/03, BFH/NV 2004, 540). Dies setzt "wesentliche" Erhebungsdefizite bzw. "gravierende" Erhebungsmängel voraus (BVerfG-Urteil vom 9. März 2004 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56), wobei maßgeblich auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens abzustellen ist (BVerfG-Urteile in BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654, und in BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56).
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Der Kläger hat hierzu lediglich behauptet, dass die Umsatzsteuer auf ärztliche Leistungen plastischer Chirurgen in einigen Gegenden Deutschlands --wozu auch X-Stadt gehöre-- nicht erhoben werde, aber nicht substantiiert dargelegt, dass insoweit "wesentliche" Erhebungsdefizite bzw. "gravierende" Erhebungsmängel vorliegen und nicht nur immer wieder vorkommende Vollzugsmängel. Abgesehen davon ist weder ersichtlich noch vom Kläger vorgetragen, dass eine Nichterhebung auf einer strukturell gegenläufigen Erhebungsregel beruht. Schließlich vermittelt der Gleichheitssatz keinen Anspruch auf Anwendung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis und damit auf "Gleichheit im Unrecht" (BFH-Beschluss vom 26. September 2007 V B 8/06, BFHE 219, 245, BStBl II 2008, 405, unter 2.d, m.w.N.).
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b)
Mit der Rechtsfrage, ob die Berufung der Rechtsprechung auf den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und die daraus folgende Umsetzung durch die Finanzverwaltung dann noch möglich ist, wenn die Rechtsprechung in anderen EU-Vertragsstaaten überhaupt nicht umgesetzt wird, legt der Kläger weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dar noch liegt eine solche vor.
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aa)
Zu den nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) steuerfreien "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin" hat der EuGH entschieden, dass diese der Diagnose, Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen (vgl. EuGH-Urteile vom 6. November 2003 C-45/01, Dornier, Slg. 2003, I-12911, BFH/NV Beilage 2004, 40 Rdnr. 48; vom 27. April 2006 C-443/04 und C-444/04, Solleveld, Slg. 2006, I-3617, BFH/NV Beilage 2006, 299 Rdnr. 24, und vom 8. Juni 2006 C-106/05, LuP, Slg. 2006, I-5123, BFH/NV Beilage 2006, 442 Rdnr. 26). Sie müssen einen therapeutischen Zweck haben (EuGH-Urteil vom 20. November 2003 C-307/01, Peter D'Ambrumenil, Slg. 2003, I-13989, BFH/NV Beilage 2004, 115 Rdnr. 58). Keine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin sind dagegen ärztliche Leistungen, Maßnahmen oder medizinische Eingriffe, die zu anderen Zwecken erfolgen (EuGH-Urteile vom 14. September 2000 C-384/98, D., Slg. 2000, I-6795, BFH/NV Beilage 2001, 31 Rdnr. 18; vom 10. September 2002 C-141/00, Kügler, Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30 Rdnr. 38; vom 20. November 2003 C-212/01, Unterpertinger, Slg. 2003, I-13859, BFH/NV Beilage 2004, 111 Rdnrn. 39 und 41; Peter D'Ambrumenil in Slg. 2003, I-13989, BFH/NV Beilage 2004, 115 Rdnr. 57). Aus diesen Entscheidungen hat der Senat gefolgert, dass Schönheitsoperationen nicht unter die Steuerbefreiung fallen, wenn deren Zweck nicht der Schutz der menschlichen Gesundheit ist (BFH-Urteil vom 15. Juli 2004 V R 27/03, BFHE 206, 471, BStBl II 2004, 862).
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bb)
Sofern in anderen Mitgliedstaaten die Umsätze von Ärzten aus chirurgisch-plastischen Operationen stets steuerfrei wären, käme zwar ein Verstoß gegen den gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz in Betracht. Ein solcher liegt vor, wenn unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder wenn dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewendet wird (vgl. EuGH-Urteil vom 23. April 2009 C-460/07, Sandra Puffer, Slg. 2009, I-3251 Rdnr. 52, m.w.N.). Der Kläger hat hierzu lediglich behauptet, dass Schönheitsoperationen in mehreren Mitgliedstaaten nicht besteuert würden, aber nicht --durch Bezeichnung von Rechtsgrundlagen und/oder Zitieren von Gerichtsentscheidungen-- konkret dargelegt, worauf dies beruht.
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cc)
Im Übrigen ist es auch nach der Rechtsprechung des EuGH einem Steuerpflichtigen versagt, sich zu eigenen Gunsten auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung bei anderen zu berufen (vgl. EuGH-Urteile vom 9. Oktober 1984 C-188/83, Witte/Europäisches Parlament, Slg. 1984, 03465 Rdnr. 15; vom 31. März 1993 C-89/85, A. Ahlström Osakeyhtiö u.a., Slg. 1993, I-01307 Rdnr. 197).
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c)
Die Rechtsfrage, welcher Gesundheitsbegriff der Feststellung zur Erhebung der Umsatzsteuer zugrunde zu legen ist und wer (behandelnder Arzt, Gutachter, Patient) diese Feststellung zu treffen hat, ist nicht klärungsbedürftig.
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Nach der Rechtsprechung des EuGH und des BFH sind die Steuerbefreiungen des Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG autonome gemeinschaftsrechtliche Begriffe, die eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems vermeiden sollen (ständige Rechtsprechung, vgl. EuGH-Urteile Unterpertinger in Slg. 2003, I-13859, BFH/NV Beilage 2004, 111 Rdnr. 34; vom 14. Juni 2007 C-445/05, Haderer, BFH/NV Beilage 2007, 394, Rdnr. 17). Ob ein bestimmter Umsatz der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder von ihr zu befreien ist, kann folglich nicht davon abhängen, wie der Begriff der Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation definiert wird (vgl. BFH-Beschluss vom 18. Februar 2008 V B 35/06, BFH/NV 2008, 1001, unter 4.a, bb).
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Die Feststellung, ob bei chirurgisch-plastischen Operationen steuerpflichtige oder --wegen medizinischer Indikation-- steuerfreie Leistungen vorliegen, hat der behandelnde Arzt unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung zu treffen. Dabei kann im Regelfall von einer medizinischen Indikation ausgegangen werden, wenn die Kosten der Operation von den Sozialversicherungsträgern getragen werden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 206, 471, BStBl II 2004, 862, unter 3.).
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2.
Die Revision ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO) zuzulassen, um die vom Kläger bezeichneten Rechtsfragen zu klären.
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Eine Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts ist nur erforderlich, wenn über bisher ungeklärte abstrakte Rechtsfragen zu entscheiden wäre (vgl. BFH-Beschluss vom 10. November 2009 V B 68/09, Zeitschrift für Steuern und Recht 2010, R 164; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 41, m.w.N.).
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Die erste und die dritte der vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen sind, wie sich den Ausführungen unter 1. a) und 1. c) entnehmen lässt, als geklärt anzusehen. Hinsichtlich der zweiten Rechtsfrage scheitert eine Revisionszulassung bereits daran, dass der Kläger die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage nicht i.S. von § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt hat.