02.08.2013
Finanzgericht Hamburg: Urteil vom 17.04.2013 – 2 K 149/12
1. Bei Zahlungen an die Gesellschafter
aus der Auflösung einer Kapitalrücklage nach § 272
Abs. 2 Nr. 4 HGB kann § 27 Abs. 1 Satz 3 KStG 2002 a. F. nicht
dahingehend ausgelegt werden, dass abweichend von der gesetzlichen Verwendungsreihenfolge
ein Direktzugriff auf das steuerliche Einlagekonto möglich
ist. Der Wortlaut der Regelung ist eindeutig.
2. Von einer Inanspruchnahme der Kapitalgesellschaft
als Haftungsschuldnerin ist nicht deshalb abzusehen, weil dadurch
möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt eine
Doppelbesteuerung desselben Steuersubstrats ausgelöst werden
kann.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Inanspruchnahme als
Haftungsschuldnerin nach § 27 Abs. 5 des Körperschaftsteuergesetzes
in der im Streitjahr geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 15.10.2002
(KStG 2002 a. F.).
Die Klägerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter
Haftung, die vormals unter der Firma A Verwaltungsgesellschaft mbH
auftrat. Gesellschafter sind B, C und seit 2004 D.
Im Dezember 2000 brachte die Gesellschafterin C ... Aktien der
E AG in die Klägerin ein. Dieser Einbringungsvorgang wurde
von der Finanzverwaltung als steuerbarer Vorgang gewertet. In Höhe
der daraus resultierenden Zahlungsverpflichtung von 2.545.001,58 € wurde
mit Gesellschafterbeschluss vom 01.04.2005 eine disquotale Ausschüttung
an C beschlossen. Gegen den Einkommensteuerbescheid für
2000 der C wurde Einspruch eingelegt. Für den Fall, dass
der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid erfolgreich sein sollte,
verpflichtete sich C bereits im Rahmen des Gesellschafterbeschlusses vom
01.04.2005, den ausgezahlten Betrag wieder in die Kapitalrücklage
der Gesellschaft einzulegen. Im Einzelnen wurde beschlossen:
„1. Aus der Kapitalrücklage der Gesellschaft
wird abweichend von der Satzung, die eine quotale Beteiligung vorsieht,
ausschließlich an Frau C ein Betrag in Höhe von
Euro 2.545.001,58 ausgezahlt (disquotale Ausschüttung aus
der Kapitalrücklage).
2. Soweit der unter I. genannte Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid nicht
erfolgreich ist und es dadurch nicht zu einer entsprechenden Einlage
in die Gesellschaft durch Frau C in Höhe des zuvor aufgrund
des Beschlusses nach Ziff. II.1 erhaltenen Betrages von Euro 2.545.001,58
kommt, wird zum Ausgleich etwaiger Vermögensnachteile der
Gesellschafterin D bereits hiermit beschlossen, dass anteilig im
Verhältnis zu der unter Ziff. II.1 beschlossenen disquotalen
Ausschüttung an die Gesellschafterin C, eine dem derzeitigen Anteil
der Gesellschafterin D am Stammkapital der Gesellschaft (in Höhe
von 17 %) entsprechende disquotale Ausschüttung
in Höhe von ... € erfolgt.”
Mit Gesellschafterbeschluss vom 13.06.2005 beschlossen die Gesellschafter der
Klägerin eine „disquotale Rückzahlung
aus der Kapitalrücklage” an D in Höhe
von 24.222 €. Die Gesellschafterin D wurde zugleich verpflichtet,
im Rahmen des „Schütt-aus-Hol-zurück-Verfahren” den
ausgezahlten Betrag der Rücklage wieder zuzuführen.
Hintergrund dieser Auszahlung war die Schenkung der Gesellschaftsanteile
seitens der Großeltern an D in 2004. Zur Begleichung der
darauf festgesetzten Schenkungsteuerschuld wurde der im Übrigen einkommenslosen
Gesellschafterin D der entsprechende Betrag aus dem steuerlichen
Einlagekonto gezahlt.
In 2006 erhielt die Gesellschafterin D weitere Gesellschaftsanteile
geschenkt. Zur Begleichung der darauf festgesetzten Schenkungssteuer
wurde in 2008 eine weitere disquotale Auszahlung in Höhe
von ... € an D beschlossen.
In 2011 hatte der Rechtsbehelf der C gegen den Einkommensteuerbescheid 2000
Erfolg, die Steuer wurde vom Finanzamt erstattet.
Durch Gesellschafterbeschluss vom 18.04.2012 wurde vereinbart,
dass die erfolgten disquotalen Ausschüttungen angepasst
und die Verhältnismäßigkeit der Entnahmen
zur Beteiligungsquote künftig gewahrt werden sollten. Auf Grund
dessen erfolgte eine Auszahlung an B. C hatte in Erfüllung
ihrer bedingten Einlageverpflichtung aus dem Gesellschafterbeschluss
vom 01.04.2005 nur mehr einen Betrag von 1.258.242,18 € an
die Klägerin zurückzuzahlen.
Für die Zahlungen an C und D im Streitjahr 2005 stellte
die Klägerin jeweils eine Steuerbescheinigung für
die Gesellschafterinnen aus, wonach es sich dabei um steuerfreie
Leistungen aus dem steuerlichen Einlagekonto (§ 27 KStG
2002 a. F.) handele. Bei den beiden Gesellschafterinnen wurden dementsprechend die
ausgeschütteten Beträge einkommensteuerlich nicht
berücksichtigt.
Mit Bescheid vom 24.08.2009 stellte der Beklagte das steuerliche
Einlagekonto unter Berücksichtigung der Ausschüttung
zum 31.12.2005 auf ... € fest.
Mit Haftungsbescheid vom 09.12.2009 nahm der Beklagte die Klägerin
als Haftungsschuldnerin gemäß § 27 Abs.
5 KStG 2002 a. F. in Anspruch. Die Klägerin treffe die
Haftung als Ausstellerin unrichtiger Steuerbescheinigungen. Die
von der Klägerin erbrachten Leistungen in Höhe
von insgesamt 2.569.223,58 € stellten weder die Rückzahlung
von Nennkapital dar noch werde der auf den 31.12.2004 ermittelte
ausschüttbare Gewinn durch die Ausschüttungen
unterschritten. Die Leistungen könnten daher keine Minderung
des steuerlichen Einlagekontos bewirken, so dass die ausgestellten
Steuerbescheinigungen nicht den Anforderungen des § 27
Abs. 3 S. 1 KStG 2002 a. F. entsprächen. Entgegen der Auffassung
der Klägerin erlaube § 27 Abs. 1 KStG 2002 a. F.
nicht einen Direktzugriff auf das steuerliche Einlagekonto. Der
vorliegende Sachverhalt sei auch nicht mit den im Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen vom 04.06.2003 (BStBl I 2003,
366 - BMF-Schreiben) aufgeführten Sonderfällen
vergleichbar. Auch die Verwendung des Wortes „insbesondere” in
dem genannten BMF-Schreiben erlaube es nicht, im vorliegenden Fall
einen Direktzugriff auf das steuerliche Einlagekonto entgegen dem
Wortlaut des Gesetzes zuzulassen. Im Übrigen verdeutliche
die Ergänzung des § 27 Abs. 1 S. 3 KStG 2002 a.
F. durch das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen
zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und
zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 07.12.2006 (BGBl 2006, 3310 -
SEStEG) die Notwendigkeit eines restriktiven Umgangs mit den Ausnahmen.
Weder eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH)
noch eine herrschende Meinung in der Literatur vertrete einen derartigen
Direktzugriff. Die Besteuerung der Leistungen auf Ebene der Gesellschafterinnen
als Einkünfte aus Kapitalvermögen sei aufgrund
der fehlerhaften Steuerbescheinigungen unterblieben. Die dadurch
verkürzten Steuern führten zu dem Haftungsbetrag
von ... €. Die Haftung setze kein Verschulden voraus. Auch
im Rahmen der Ermessensausübung sei von einer Inanspruchnahme
nicht abzusehen, weil die Klägerin gemeint habe, sich hinsichtlich
ihrer Vorgehensweise auf Rechtsprechung und Literaturmeinungen stützen
zu können. Für die Klägerin sei erkennbar
gewesen, dass es insoweit weder eine gefestigte Rechtsprechung noch
eine herrschende Literaturmeinung gegeben habe. Vielmehr habe es
eine im BMF-Schreiben vertretende abweichende Verwaltungsauffassung
gegeben. Ebenfalls sei nicht wegen einer möglichen Doppelbesteuerung
von der Inanspruchnahme abzusehen. Die gesetzlich vorgeschriebene
Haftung sei gerade Ausfluss der fehlerhaften Steuerbescheinigung.
Folge man der Argumentation der Klägerin, würde
die Haftungsvorschrift leerlaufen.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 10.01.2010
Einspruch ein, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 08.04.2010,
zugestellt am 12.04.2010, als unbegründet zurückwies.
Am 07.05.2010 hat die Klägerin Klage erhoben.
Mit Beschluss vom 03.11.2010 wurde auf übereinstimmenden
Anträgen der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens bis zur
Entscheidung des BFH in der Sache I R 69/10 angeordnet.
Nach Wiederaufnahme des Verfahrens führt die Klägerin
zur Begründung aus, dass sie auch nach der Entscheidung
des BFH in der Sache
I R 69/10 daran festhalte, dass die ausgestellten
Steuerbescheinigungen die Voraussetzungen des § 27 Abs.
3 KStG 2002 a. F. erfüllten und nicht Grundlage einer Haftung
bilden könnten. Das Urteil des BFH sei noch zu dem alten
Anrechnungsverfahren ergangen, das nach der Umstellung auf das Halbeinkünfteverfahren
so nicht mehr gelten könne. Auch seien im Streitverfahren
die haftungsrechtlichen Besonderheiten zu berücksichtigen.
Schließlich stehe die Entscheidung offensichtlich im Widerspruch
zu der Entscheidung des VIII Senats vom 23.02.1999 (VIII R 60/96), nach
der eine ergebnisunabhängige Auflösung einer Kapitalrücklage
bei einer GmbH im Rahmen eines selbständigen Auszahlungsbeschlusses
als Einlagenrückgewähr beim Empfänger
ergebnisneutral zu behandeln sei. Mit der Rechtsprechung des VIII.
Senats sei die Verwendungsreihenfolge des § 27 KStG 2002
a. F. nicht zu beachten. Darüber hinaus sei die durch das
SEStEG eingeführte Verwendungsreihenfolge auf vor dem Veranlagungszeitraum
2006 verwirklichte Sachverhalte nicht anzuwenden. Ohne die darin
vorgesehene Loslösung vom Handelsrecht habe das Steuerrecht
trotz Verwendungsfiktion grundsätzlich den handelsrechtlich
eindeutigen Vorgaben (Rückgewähr von Einlagen)
zu folgen. Erst für Veranlagungszeiträume ab 2006
habe damit der Gesetzgeber geregelt, dass - unabhängig
von der handelsrechtlichen Einordnung - steuerlich die Verwendungsfiktion
einzuhalten sei.
Zudem sei die Entscheidung des Beklagten ermessensfehlerhaft
ergangen. Er habe im Rahmen seiner Ermessenserwägungen
nicht berücksichtigt, dass sie, die Klägerin,
auf die Rechtsprechung des BFH und gewichtiger Stimmen in der Literatur
vertraut und deshalb ohne Verschulden gehandelt habe.
Die Entscheidung sei auch deshalb ermessensfehlerhaft, weil die
Haftung zu einer unzulässigen Doppelbesteuerung, mithin
zu einer Bestrafung der Beteiligten führe, wenn der fiktive
Steuervorteil von ihr, der Klägerin, im Wege der Haftung
zu leisten sei, nachdem das steuerliche Einlagekonto inzwischen
reduziert worden sei und somit der (faktisch versteuerte) Betrag
nicht mehr auf dem Einlagekonto zur Verfügung stünde.
Diese Rechtsfolge könne nicht als bloßer Ausfluss
der gesetzlichen Haftung Bestand haben.
Die Klägerin beantragt,
den Haftungsbescheid vom 09.12.2009 und die Einspruchsentscheidung
vom 08.04.2010 aufzuheben;
hilfsweise
den Haftungsbescheid vom 09.12.2009 mit der Maßgabe
zu ändern, dass die Haftung auf die Einkommensteuer beschränkt
wird, die sich nach Subtraktion der Rückzahlung der Einlage
in Höhe von 1.258.242,18 € ergeben würde
(mithin eine Steuer auf ... €).
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte sieht sich in seiner Rechtsauffassung durch die
Entscheidung des BFH in der Sache I R 69/10 bestätigt
und ist weiterhin der Auffassung, dass die Voraussetzungen für
eine Inanspruchnahme der Klägerin nach § 27 Abs.
5 KStG 2002 a. F. vorliegen, weil ein direkter Zugriff auf das steuerliche
Einlagekonto auch vor der Änderung des § 27 Abs.
1 Satz 3 KStG 2002 a. F. durch das SEStEG nicht zulässig
gewesen sei. Vielmehr stelle eine handelsrechtlich zulässige,
ergebnisunabhängige Entnahme steuerlich stets eine Auskehrung
dar, für die die in § 28 Abs. 3 KStG 2002 a. F.
geregelte Verwendungsreihenfolge maßgebend sei. Aufgrund
der von der Klägerin ausgestellten Steuerbescheinigungen
sei auf der Ebene der Gesellschafterinnen keine Besteuerung der
fraglichen Zahlungen erfolgt, so dass es zu einer Steuerverkürzung
gekommen sei.
Die Entscheidung sei auch nicht ermessensfehlerhaft, weil von
einem schuldlosen Verhalten der Klägerin nicht ausgegangen
werden könne. Die Klägerin habe keinesfalls aufgrund
eines umstrittenen Urteils des BFH davon ausgehen können,
dass ein Direktzugriff auf das steuerliche Einlagekonto möglich
sei. Eine etwaige Doppelbelastung sei von dem Gesetzgeber als Rechtsfolge
der Haftung zumindest in Kauf genommen worden, denn andernfalls
wäre die Haftungsvorschrift bedeutungslos.
Dem Gericht haben die Akte betr. Feststellung des verwendbaren
Eigenkapitals, die Haftungsakte und die Rechtsbehelfsakte des Beklagten
zu der Steuernummer .../.../... vorgelegen.
Gründe
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Der angefochtene
Haftungsbescheid ist rechtmäßig und verletzt die
Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin
hat keinen Anspruch auf Aufhebung (I.) oder Herabsetzung (II.) des
Haftungsbescheids vom 09.12.2009.
I. Nach § 191 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) kann durch
Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes
für eine Steuer haftet. Nach § 27 Abs. 5 KStG
2002 a. F. haftet der Aussteller einer Bescheinigung, die nicht den
Absätzen 3 und 4 entspricht, für die aufgrund
der Bescheinigung verkürzten Steuern oder zu Unrecht gewährten
Steuervorteile.
1. Die Voraussetzungen für
eine Inanspruchnahme der Klägerin als Haftungsschuldnerin
liegen vor. Die Klägerin hat Steuerbescheinigungen für
C und D ausgestellt, die nicht den Voraussetzungen des § 27
Abs. 3 KStG 2002 a. F. entsprechen. Danach hat eine Kapitalgesellschaft
ihren Anteilseignern Leistungen, die nach § 27 Abs. 1 Satz
3 KStG 2002 a. F. als Abgang auf dem steuerlichen Einlagekonto zu
berücksichtigen sind, nach amtlich vorgeschriebenem Muster
zu bescheinigen. Nach § 27 Abs. 1 Satz 3 KStG 2002 a. F.
mindern Leistungen der Kapitalgesellschaft mit Ausnahme der Rückzahlung
von Nennkapital im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 2 KStG 2002
a. F. das steuerliche Einlagekonto nur, soweit die Summe der im
Wirtschaftsjahr erbrachten Leistungen den auf den Schluss des vorangegangenen
Wirtschaftsjahres ermittelten ausschüttbaren Gewinn übersteigt.
Die Klägerin hat mit Steuerbescheinigungen im Sinne
des § 27 Abs. 3 KStG 2002 a. F. vom 05.04.2005 bzw. 15.06.2005
Leistungen aus dem steuerlichen Einlagekonto an die Gesellschafterin
C in Höhe von 2.545.001,58 € und an die Gesellschafterin
D in Höhe von 24.222 € bescheinigt. Zum Schluss
des vorangegangenen Wirtschaftsjahres betrug das Eigenkapital der Klägerin
laut Steuerbilanz unstreitig ... €, in dem ein ausschüttbarer
Gewinn von ... € enthalten war. Es war somit im Streitjahr
ein ausreichender ausschüttbarer Gewinn zur Deckung der
an die Gesellschafterinnen erfolgten Leistungen vorhanden.
Die erteilten Steuerbescheinigungen über Leistungen
aus dem steuerlichen Einlagekonto entsprachen danach nicht den Voraussetzungen
des § 27 Abs. 3 KStG 2002 a. F., denn die Leistungen der
Klägerin an ihre Anteilseignerinnen hätten gemäß § 27
Abs. 1 Satz 3 KStG 2002 a. F. nicht als Abgang auf dem steuerlichen
Einlagekonto berücksichtigt werden dürfen. Die
nach dieser Regelung vorgesehene Verwendungsreihenfolge sieht eine
Minderung des steuerlichen Einlagekontos nur vor, soweit die erbrachten
Leistungen den ausschüttbaren Gewinn übersteigen.
Ein von dem Wortlaut der Regelung abweichender direkter Zugriff
auf das steuerliche Einlagekonto ist im vorliegenden Fall nicht
möglich. Nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 1 Satz
3 KStG 2002 a. F. kann die Kapitalgesellschaft nicht frei bestimmen,
ob sie Einlagen oder Gewinnrücklagen an die Anteilseigner
auskehrt. Vielmehr erfolgt eine Minderung des steuerlichen Einlagekontos
nur, soweit die Leistungen den ausschüttbaren Gewinn übersteigen.
Zwar sind die Worte „unabhängig von ihrer handelsrechtlichen
Einordnung” erst durch das SEStEG und damit nach dem hier
relevanten Zeitpunkt eingefügt worden. Aber auch der Wortlaut
der im Streitjahr geltenden Fassung ist eindeutig und lässt
nicht die Auslegung zu, dass bei dem vorliegenden Sachverhalt abweichend
von der geregelten Verwendungsreihenfolge ein Direktzugriff auf
das steuerliche Einlagenkonto möglich ist.
Es besteht insoweit auch keine Regelungslücke. Einlagen,
die in die Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr.
4 des Handelsgesetzbuches (HGB) gestellt werden, sind auch im steuerlichen
Einlagekonto zu erfassen. Rückzahlungen aus der Kapitalrücklage
an die Gesellschafter sind nicht so außergewöhnlich, dass
der Gesetzgeber sie bei der Regelung des § 27 Abs. 1 Satz
3 KStG 2002 a. F. nicht bedacht haben könnte. Hätte
er gewollt, dass die Rückzahlung von Kapitalrücklagen
nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB unmittelbar das steuerliche Einlagekonto
mindert, hätte er eine entsprechende ausdrückliche
Regelung getroffen. Da er dies nicht getan hat, ist davon auszugehen,
dass es auf die handelsrechtliche Einordnung der Leistung als Einlagenrückgewähr
nicht ankommen soll (vgl. BFH-Urt. vom 08.06.2011, I R 69/10, BFH/NV
2011, 1921 zur Verwendung von EK 04; FG Baden Württemberg,
Urteil vom 18.11.2011, 11 K 1481/09, EFG 2012, 949).
Die grundlegenden Ausführungen des BFH in dem Verfahren I R 69/10 beanspruchen
nicht nur Geltung für die im alten Körperschaftsteuerrecht
geregelte Verwendungsreihenfolge, sondern sind auch auf die geänderte
Rechtslage übertragbar. Abweichend hiervon kann nicht allein
aus der Änderung der § 27 Abs. 1 Satz 3 KStG 2002
a. F. durch das SEStEG im Umkehrschluss gefolgert werden, dass bis
2005 die handelsrechtliche Einordnung der Leistung maßgebend
sein sollte.
Die Klägerin kann sich für einen Direktzugriff
auf das steuerliche Einlagekonto auch nicht auf die Rechtsprechung
des BFH oder eine entsprechende Handhabung in der Steuerverwaltung
berufen. Soweit der BFH mit Urteil vom 30.05.1990 (I R 41/87, BStBl II 1991,
588) eine steuerlich anzuerkennende Form der Kapitalrückzahlung
angenommen hat, lag dem der Verzicht eines Gesellschafters auf eine
Forderung gegen die GmbH unter der auflösenden Bedingung
zu Grunde, dass im Besserungsfall die Forderung wieder aufleben
soll. Nur für den Fall, dass eine Einlage unter der auflösenden
Bedingung gewährt wird und die auflösende Bedingung
eintritt, hat der BFH entschieden, dass sich das Eigenkapital wieder
in Fremdkapital umwandelt, ohne dass deshalb eine Ausschüttung
anzunehmen wäre. Die Finanzverwaltung ist dieser Rechtsprechung
gefolgt und erkennt nach dem BMF-Schreiben vom 04.06.2003 in derartigen
Fällen die Verringerung des steuerlichen Einlagekontos
unabhängig von der Höhe des ausschüttbaren
Gewinns an. Ein weiterer Sonderfall ist nach dem BMF-Schreiben bei
Rückzahlungen von Nachschüssen der Anteilseigner
im Sinne des § 26 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften
mit beschränkter Haftung (GmbHG) gegeben, die nicht zur
Deckung eines Verlustes am Stammkapital erforderlich sind. Beide Konstellationen
sind im vorliegenden Fall nicht gegeben, so dass es dahinstehen
kann, ob und inwieweit die Klägerin sich auf die Anwendung
des BMF-Schreibens berufen kann.
Die Klägerin kann ihre Rechtsauffassung auch nicht auf
das Urteil des BFH vom 23.02.1999 (VIII R 60/96, BFH/NV 1999,
1200) stützen, denn diese das Streitjahr 1994
betreffende Entscheidung enthält keine grundsätzlichen
Aussagen zur Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Behandlung
einer Ausschüttung oder zur Abweichung von einer steuerlich
vorgesehenen Verwendungsreihenfolge, die auch nach der geänderten
Rechtslage Bestand haben könnten.
Durch die unzutreffenden Steuerbescheinigungen sind die Leistungen
an die Gesellschafterinnen nicht als Einnahmen nach § 20
Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteuert worden.
Auf ein Verschulden der Klägerin kommt es nicht an (vgl.
Heger in Gosch KStG 2. Aufl. 2009, § 27 Rn. 48a), so dass
die Tatbestandsvoraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt
sind.
2. Die Entscheidung des Beklagten weist auch
keine Ermessensfehler auf.
Die Inanspruchnahme der Klägerin als Haftungsschuldnerin
steht nach § 191 Abs. 1 AO im Ermessen des Beklagten.
Nach § 102 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann
eine Ermessensentscheidung des Beklagten durch das Gericht nur daraufhin überprüft
werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten
sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung
nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Das Gericht
ist nicht befugt, eine eigene Entscheidung an die Stelle der Entscheidung
des Beklagten zu setzen. Spätestens in der Einspruchsentscheidung
muss der Beklagte die wesentlichen Gründe seiner Entscheidung
wiedergeben, insbesondere erkennen lassen, dass er im konkreten
Einzelfall das Für und Wider einer Inanspruchnahme abgewogen
hat.
Der Beklagte hat sowohl sein Entschließungs- als auch
sein Auswahlermessen erkannt und ausgeübt. Insbesondere
ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte es im Rahmen seiner
Ermessenserwägungen abgelehnt hat, von einer Inanspruchnahme
der Klägerin abzusehen, weil sie nach ihrer Auffassung
ohne Verschulden gehandelt habe, weil sie sich für ihre
Rechtsauffassung auf gewichtige Stimmen in Literatur und Rechtsprechung
habe stützen können. Der Beklagte weist zu Recht
darauf hin, dass die Frage eines Direktzugriffs auf das steuerliche
Einlagekonto in der Literatur umstritten war und die dabei in Bezug
genommene Entscheidung des BFH vom 23.02.1999 (VIII R 60/96)
hierzu keine eindeutige Aussage enthielt. Zwar ist der Entscheidung
die Aussage zu entnehmen, dass die Auskehrung einer Kapitalrücklage
an die Gesellschafter Verteilung von Vermögen der Gesellschaft
und nicht Gewinnausschüttung sei und es sich um eine Ausschüttung
aus dem EK 04 der GmbH handle. Streitgegenstand dieser Entscheidung
war jedoch nicht ein Bescheid über die Gliederung des verwendbaren
Eigenkapitals. Überdies finden sich weder im Sachverhalt
noch in den Gründen des Urteils Ausführungen dazu,
wie sich das verwendbare Eigenkapital (vEK) der ausschüttenden
GmbH zusammensetzte. Dem Urteil kann daher nicht die Aussage entnommen
werden, die Rückzahlung einer Kapitalrücklage
sei auch dann als Einlagenrückgewähr zu behandeln,
wenn nach der Regelung des § 28 Abs. 3 KStG 1996 vorrangig
zu verwendendes anderes vEK vorhanden war (vgl. BFH-Urt. vom 08.06.2011, I R 69/10, BFH/NV
2011, 1921). Insofern bestand gerade keine eindeutige Rechtslage,
auf die die Klägerin sich hätte stützen
können. Vielmehr ist die sachkundig vertretene Klägerin
auch nach damaliger Lage der Dinge bei Anwendung hinreichender Sorgfalt
erkennbar ein rechtliches Risiko eingegangen, so dass die Ausstellung
der unzutreffenden Steuerbescheinigung nicht ohne Verschulden erfolgt
ist.
Von einer Inanspruchnahme als Haftungsschuldnerin ist auch nicht
deshalb abzusehen, weil dadurch möglicherweise eine Doppelbesteuerung
ausgelöst werden kann. Eine Doppelbesteuerung erfolgt nicht
durch die Inanspruchnahme der Klägerin auf der Grundlage
von § 27 Abs. 5 KStG 2002 a. F., sondern kann zu einem
späteren Zeitpunkt eintreten - dann allerdings nicht bei
demselben Steuersubjekt, sondern nur dasselbe Steuersubstrat betreffend -,
wenn der ausschüttbare Gewinn in vollem Umfang ausgeschüttet
und besteuert wird. Ob dann eine erneute Besteuerung des hier streitgegenständlichen
Betrages erfolgt oder evtl. im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung zu
unterbleiben hat, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.
Eine andere Würdigung ist auch nicht deshalb geboten,
weil das KStG 2002 a. F. eine Anpassung des steuerlichen Einlagekontos
(noch) nicht ermöglichte (anders nach der Änderung
durch das SESTEG gemäß § 27 Abs. 5 S.
6 KStG 2002 n. F.) und somit im Hinblick auf die Festschreibung
der Verwendung durch die Bescheinigung nach § 27 Abs. 1
Satz 5 KStG 2002 a. F. im Ergebnis eine unzutreffende Feststellung
des steuerlichen Einlagekontos nach § 27 Abs. 2 KStG a.
F. erfolgte. Das im KStG 2002 a. F. insoweit vorhandene Regelungsdefizit
führt nicht dazu, dass der Haftungstatbestand als verfassungswidrig
zu beurteilen wäre oder im Rahmen der Ermessenserwägungen
von einer Haftungsinanspruchnahme abzusehen wäre. Die dadurch möglichweise
in Zukunft eintretende Folge einer Doppelbesteuerung ist im Zeitpunkt
ihres Eintritts zu würdigen.
Durch diese Verweisung der Überprüfung eines
Verbots einer doppelten Besteuerung auf den Zeitpunkt des Eintritts
wird das Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht verletzt (vgl. BFH-Urteil
vom 18.11.2009 X
R 34/07, BStBl. II 2010, 99; BVerfG-Beschluss
vom 13.02.2008 2
BvR 1220/04, 410/04, BVerfGE 120,
169).
Die Entscheidung des Beklagten ist auch nicht ermessensfehlerhaft,
weil er in seine Ermessenserwägungen nicht die im Gesellschafterbeschluss
vom ... 2005 bereits vorgesehene bedingte Rückzahlungsverpflichtung
der Gesellschafterin C ausdrücklich gewürdigt
hat. Hierfür bestand für den Beklagten zum Zeitpunkt
der Einspruchsentscheidung am 08.04.2010, dem für seine Entscheidung
maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage, kein sachlicher
Grund. Denn er hatte ausweislich der Sachakten keine Erkenntnisse darüber,
ob dem Einspruch der Gesellschafterinnen C gegen ihren Einkommensteuerbescheid
zwischenzeitlich Erfolg beschieden und eine Rückzahlung
erfolgt war. Tatsächlich war der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid
auch erst 2011 erfolgreich und erst auf der Grundlage eines erneuten
Gesellschafterbeschlusses erfolgte eine teilweise Rückzahlung
der Ausschüttung.
Der Hauptantrag auf Aufhebung des Haftungsbescheides war deshalb
abzuweisen.
II. Auch soweit die Klägerin hilfsweise beantragt, den
Haftungsbescheid mit der Maßgabe zu ändern, dass
der Haftungsbetrag unter Einbeziehung des 2012 zurückgezahlten
Betrag von 1.258.242,18 € herabgesetzt wird, ist die Klage abzuweisen.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung
der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten behördlichen
Entscheidung. Dies war der Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung
am 08.04.2010. Zu dieser Zeit war der an die Gesellschafterin C
ausgeschüttete Betrag auch noch nicht teilweise zurückgezahlt,
die Rückzahlung stand auch nicht unmittelbar bevor. Der
Beklagte hätte im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung
die später erfolgte teilweise Rückzahlung aus
tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigen
können, so dass der Haftungsbescheid insoweit nicht wegen
Ermessensfehler aufzuheben und zur erneuten Entscheidung zurück
zu verwiesen ist. Ob eine andere Ermessensentscheidung zu treffen
gewesen wäre, wenn diese Umstände bereits eingetreten
gewesen wären, kann offen bleiben.
III. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 115
Abs. 2 FGO liegen nicht vor.