· Fachbeitrag · Plausibilitätsprüfung
„Überdiagnostik“ in der Notfallambulanz ‒ Kassenärztliche Vereinigungen fordern Geld zurück
von RA Dr. Tobias Scholl-Eickmann, FA MedizinR, Dortmund, www.kanzlei-am-aerztehaus.de
| Mehrere Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) haben bereits Plausibilitätsprüfungen eingeleitet, mit denen die Notwendigkeit der in der Notfallambulanz durchgeführten Leistungen überprüft wird. Einzelne Krankenhäuser sehen sich erheblichen Regressforderungen ‒ teils in größerer sechsstelliger Höhe ‒ gegenüber. Der wirksamste Schutz liegt in der Vermeidung von „Überdiagnostik“. Der Beitrag verdeutlicht, wie brisant das Thema ist. |
1. Prüfungsbefugnis der KV
Nach § 106d Abs. 2 SGB V stellt die KV die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen ‒ und damit auch der an der ambulanten Notfallversorgung teilnehmenden Krankenhäuser ‒ fest. Die Prüfung auf sachlich-rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen zielt auf die Feststellung, ob die Leistungen rechtmäßig, also im Einklang mit den gesetzlichen, vertraglichen oder satzungsrechtlichen Vorschriften des Vertragsarztrechts ‒ mit Ausnahme des Wirtschaftlichkeitsgebots, für das es gesonderte Wirtschaftlichkeitsprüfungen gibt ‒ erbracht und abgerechnet worden sind.
Grundsätzlich erfolgt die ambulante Versorgung von gesetzlich versicherten Patienten durch die Vertragsärzte bzw. die zugelassenen MVZ (§ 95 Abs. 3 SGB V). Daher ist die Arztwahl der Versicherten regelhaft auf zugelassene (oder gesondert ermächtigte) Ärzte bzw. Einrichtungen gesetzlich beschränkt (§ 76 Abs. 1 S. 1 SGB V). Krankenhäuser, die über keinen Teilnahmestatus bezogen auf die Erbringung ambulanter Leistungen verfügen, dürfen gesetzlich Versicherte daher grundsätzlich nur in Notfällen behandeln. Nur in diesen Fällen besteht dann auch ein Vergütungsanspruch des Krankenhauses gegenüber der KV nach den für die Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen maßgeblichen Bestimmungen.
Der EBM als maßgeblicher Rahmen für die Abrechnung im ambulanten Bereich sieht wiederum in Ziffer 4 der Präambel zum Kapitel 1.2 (Gebührenordnungspositionen für die Versorgung im Notfall und im organisierten ärztlichen Not(-fall)dienst) vor, dass Krankenhäuser die betreffenden Gebührenordnungspositionen nur berechnen dürfen, wenn
- die Erkrankung des Patienten aufgrund ihrer Beschaffenheit einer sofortigen Maßnahme bedarf und
- die Versorgung durch einen Vertragsarzt entsprechend § 76 SGB V nicht möglich und/oder aufgrund der Umstände nicht vertretbar ist.
Aus der Zuordnung der Notfallleistungen zur vertragsärztlichen Versorgung folgert die Rechtsprechung, dass die KV sodann konsequenterweise auch berechtigt und verpflichtet ist, die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Abrechnung von Notfallleistungen zu prüfen, die durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Krankenhäuser erbracht werden (dazu bereits BSG 10.12.08, B 6 KA 37/07 R). Ferner ist zu beachten, dass sich das BSG zuletzt wiederholt zu Fragen der Notfallambulanz geäußert und einen strengen Rahmen vorgegeben hat.
2. Gebotener Behandlungsumfang in der Notfallversorgung
Das BSG (26.6.19, B 6 KA 68/17 R) stellt zunächst heraus, dass ein Vergütungsanspruch eines Krankenhauses nur für solche diagnostischen und therapeutischen Leistungen besteht, die
- entweder erforderlich sind, um erkennen zu können, ob ein Notfall vorliegt, oder
- die ggf. für eine Erstversorgung des Patienten erforderlich sind.
Dabei hat sich die Erstversorgung aber darauf zu konzentrieren, Gefahren für Leib und Leben sowie unzumutbaren Schmerzen der Patienten zu begegnen sowie die Notwendigkeit einer stationären Behandlung abzuklären (BSG 12.12.12, B 6 KA 5/12 R). Dadurch beschränkt das BSG die Notfallversorgung auf das unbedingt erforderliche Maß, die Behandlung darf demnach im Ergebnis nicht über die erforderliche Erstversorgung hinausgehen.
Gleichwohl kann vor diesem Hintergrund der diagnostische sowie therapeutische Rahmen deutlich über die Notfallgrundpauschalen hinausgehen. So können etwa Labor- oder Schnittbilddiagnostik ebenso wie die Durchführung eines kleinchirurgischen Eingriffs oder die Bestimmung der Blutalkoholkonzentration im Einzelfall erforderlich sein.
Es gilt aber für die Leistungserbringung in der Notfallambulanz stets: Ein Vergütungsanspruch für solche Leistungen besteht nur, wenn diese entweder erforderlich sind, um erkennen zu können, ob ein Notfall vorliegt oder aber diese für eine Erstversorgung des Patienten erforderlich sind.
3. Notfallvergütung auch während üblicher Sprechstundenzeiten der Vertragsärzteschaft?
In einem vom BSG entschiedenen Fall wurde vor allem moniert, dass Leistungen auch zu Zeiten erbracht und abgerechnet wurden, die innerhalb der üblichen Sprechstundenzeiten der Vertragsärzteschaft lagen. Darin liegt, selbst wenn der Patient einen Notfall proklamiert, in der Regel kein Notfall.
Immerhin hatte aber auch das BSG ein Einsehen mit der Realität einer Notfallambulanz und hat zugestanden, dass die Vergütung einer Notfallbehandlung durch ein Krankenhaus nicht davon abhängig gemacht werden darf, dass ein Vertragsarzt oder eine vertragsärztliche Notfallpraxis nicht in zumutbarer Zeit aufgesucht werden konnten, weil die Mitarbeiter von Notfallambulanzen mit solchen Ermittlungen vielfach überfordert wären (so BSG 2.7.14, B 6 KA 30/13 R). Einem Versicherten, der eine Notfallsituation annehme, dürfe daher die Behandlung auch innerhalb üblicher Sprechstundenzeiten der Vertragsärzteschaft nicht ohne Weiteres verweigert werden. Vielmehr muss sich der Krankenhausarzt zumindest über die Beschwerden des Patienten und dessen Zustand unterrichten, ehe er eine Entscheidung über das weitere Vorgehen trifft. Bereits diese orientierende Befragung und Untersuchung ist eine ärztliche Tätigkeit, die einen Vergütungsanspruch nach sich zieht (so schon BSG 1.2.95, 6 RKa 9/94).
4. Mitwirkungspflicht der Krankenhäuser/Krankenhausärzte im Regressverfahren
In einem aktuell vom BSG (14.5.20, B 6 KA 6/19 R) entschiedenen Fall hatte die KV Hessen die ‒ tatsächlich offenbar breit gefächerten und über eine reine Notfallversorgung hinausgehenden ‒ Laborleistungen regressiert, die ein Krankenhaus in der Notfallambulanz abgerechnet hatte. Die Notwendigkeit der Ansätze hätte das Krankenhaus im Rahmen des Verfahrens darlegen müssen. Das Krankenhaus wiederum war der Auffassung, dass die KV die fehlende Notwendigkeit darlegen müsse. Das BSG hat insoweit nun eine Mitwirkungspflicht der Krankenhäuser manifestiert: Jedenfalls dann, wenn erkennbar eine Überdiagnostik zugrunde liege, müsse das Krankenhaus im Rahmen der Mitwirkungspflicht die Notwendigkeit der Laboruntersuchungen im Rahmen der Notfallbehandlung darlegen.
5. Relevanz für die Praxis
Der lange schwelende Streit um die Notfallvergütung, der von einigen KVen prominent geführt wurde, setzt sich nun auf der Ebene der Plausibilitätsprüfung der Abrechnung in der Notfallambulanz fort.
Wie tief der Graben ist, zeigt sich etwa daran, dass in Prüfverfahren teils gezielt verkürzte Informationen mitgeteilt werden, um einen sachgerechten Vortrag durch die Krankenhäuser zu verhindern. So wurde in einem Fall angekündigt, dass der Ansatz einzelner Leistungsziffern ‒der GOP 01210, 01212 und 01214 u. a. EBM ‒ geprüft und im Rahmen eines „kollegialen“ Gesprächs näher erörtert werden sollen. In dem Gespräch wird dann eröffnet, dass die gesamte Labordiagnostik sowie die radiologischen Leistungen als „Überdiagnostik“ gewertet werden; es sei ja schließlich durch den Zusatz „u. a.“ verdeutlicht, dass sämtliche angesetzten Leistungen überprüft würden. Die Ansätze der GOP 01210, 01212 oder 01214 wurden nicht korrigiert. Eine Verteidigung im Gespräch wird dann ad hoc erwartet ‒ ein evident treuwidriges Vorgehen unter Verstoß gegen die Grundsätze fairen Verfahrens. Es bleibt zu hoffen, dass die Gerichte dieser Posse eine Grenze setzen.
Die beste Verteidigung besteht letztlich aber darin, die in vielen Notfallambulanzen anzutreffende „Überdiagnostik“ unter Berücksichtigung des jeweiligen Patienten sowie der sich zeigenden Indikation zu minimieren. Praktikabilität ist dabei mit der strengen Vorgabe aus der Rechtsprechung bestmöglich in Einklang zu bringen ‒ ein schweres, aber gebotenes Unterfangen, um zeit- und kostenintensive Regressverfahren zu vermeiden.