· Fachbeitrag · Wirtschaftlichkeitsprüfung
Beratung vor Regress: Widersprüchliche Urteile
von RA, FA für MedR, Wirtschaftsmediator Dr. Tobias Scholl-Eickmann, www.kanzlei-am-aerztehaus.de und RA Nico Gottwald, www.rpmed.de
| Das LSG Nordrhein-Westfalen (NRW) hat zwei Entscheidungen des SG Düsseldorf aufgehoben und den zum 1.1.12 eingeführten Grundsatz „Beratung vor Regress“ in § 106 Abs. 5e SGB V extrem restriktiv ausgelegt (LSG NRW 20.11.13, L 11 KA 49/13 und L 11 KA 81/13 B ER). Am Folgetag hat das SG Stuttgart (S 11 KA 5773/12), ohne dass es von der Entscheidung des LSG NRW wusste, ein gegenteiliges Urteil gefällt. Das LSG NRW hat die Revision, das SG die Sprungrevision zugelassen. Das BSG wird nun befasst werden. Der Beitrag fußt auf den Mitteilungen der Gerichte aus den jeweiligen mündlichen Verhandlungen.d |
1. Der Fall des LSG NRW
Im Fall des LSG NRW ging es um einen Hausarzt, der u. a. regelmäßig Gastroskopien durchführte. Aufgrund dieser Leistungen fiel regelhaft ein erhöhtes Maß an Verordnungen von Protonenpumpeninhibitatoren an. Im Jahr 2006 und 2007 kam es bei Ausgangsüberschreitungen der Richtgrößen von 48 % bzw. 37 % im Rahmen der Richtgrößenprüfung (RGP) letztlich zu keiner Maßnahme. 2009 wurde bei unverändertem Verordnungsverhalten bei einer Ausgangsüberschreitung von 42 % am 10.5.12 durch den Beschwerdeausschuss ein Regress von 19.500 EUR festgesetzt, 2010 bei einer Ausgangsüberschreitung von 68 % durch Bescheid vom 10.4.13 ein Regress von 87.700 EUR. Gegen den Regress der RGP 2009 klagte der Arzt und berief sich insbesondere auf den zum 1.1.12 in Kraft getretenen § 106 Abs. 5e SGB V und den darin verankerten Grundsatz „individuelle Beratung vor Regress“.
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Nach dem am 1.1.12 in Kraft getretenen § 106 Abs. 5e SGB V erfolgt bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % eine individuelle Beratung. Ein Erstattungsanspruch kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden. Das Nähere zur Umsetzung regeln die Vertragspartner auf Landesebene. Zum 26.10.12 hat der Gesetzgeber dann noch in S. 7 eine „Klarstellung“ aufgenommen, wonach § 106 Abs. 5e SGB V auch für Verfahren gilt, die am 31.12.11 noch nicht (durch Bescheid im Widerspruchsverfahren) abgeschlossen waren. |
Das SG Düsseldorf entschied zugunsten des Arztes (vgl. AMK 5/2013, S. 1): § 106 Abs. 5e SGB V finde auch auf „Altfälle“ Anwendung. Ob die Ergänzung vom 26.10.12 eine „Klarstellung“ sei, könne dahinstehen. Maßgeblich sei der objektivierte Wille des Gesetzgebers. Unzweifelhaft sollten alle Ende 2011 noch offenen Verfahren der Norm unterfallen.
Der Zweck der Norm, einer wiederholten Überschreitung des Richtgrößenvolumens durch individuelle Beratung vorzubeugen, widerspreche einer weitergehenden Regressierung. Zunächst müsse daher beraten werden.
In gleicher Weise entschied das SG Düsseldorf auch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes zu der den Arzt betreffenden RGP 2010. In beiden Fällen griff das SG dabei auf eine Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 19.2.13 zurück (vgl. AMK 04/2013, S. 15).
2. Die Entscheidungen des LSG NRW
Das LSG entschied in zweiter Instanz nun nach fast vierstündiger Verhandlung zulasten des Arztes: Auf den Bescheid zur RGP 2012 vom Mai 2012 finde § 106 Abs. 5e SGB V - in der Fassung bis zum 26.10.12 - schon keine Anwendung. Nach der Rechtsprechung des BSG (9.4.08, Az. B 6 KA 34/07) gelten materiell-rechtliche Änderungen grundsätzlich erst nach Inkrafttreten. Im Bereich der Wirtschaftlichkeitsprüfung seien somit auf die jeweiligen Prüfzeiträume die seinerzeit geltenden Regelungen anzuwenden (BSG 15.8.12, B 6 KA 45/11). Etwas anderes gälte nur dann, wenn der Gesetzgeber dies ausdrücklich angeordnet hätte.
Eine solche ausdrückliche konstitutive Anordnung habe der Gesetzgeber aber auch durch den zum 26.10.12 nachgeschobenen S. 7 nach Ansicht des LSG NRW nicht gemacht. In der mündlichen Verhandlung sah das LSG NRW hier einen nicht klar formulierten Willen des Gesetzgebers und gelangte letztlich über eine Auslegung zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung des hohen Guts der „Wirtschaftlichkeitsprüfung“ eine restriktive Auslegung vorzunehmen sei. Eine „partielle Nullstellung“ der Wirtschaftlichkeitsprüfung habe der Gesetzgeber wohl nicht gewollt.
Damit sei das Verfahren bezüglich der RGP 2009 zulasten des Arztes zu entscheiden, da die Regelung des § 106 Abs. 5e SGB V auf einen Regress, der im Mai ausgesprochen wurde, schon keine Anwendung finde.
Für den Regress in der RGP 2010 sei die Regelung zwar anwendbar. Hier erfülle der Arzt indes nicht die Voraussetzungen der Norm: Er habe bereits zu früheren Zeiten, nämlich 2006 und 2007, sein Richtgrößenvolumen um mehr als 25 % überschritten. Abzustellen sei nämlich nach dem Wortlaut der Regelung auf die Ausgangsüberschreitung (!). Damit aber sei die Überschreitung im Jahr 2010 nicht mehr „erstmalig“. Denn erstmalig meine eben nicht zweitmalig. Dabei gelangte das LSG NRW im Rahmen einer Auslegung zu dem Ergebnis, dass auch die Voraussetzung „erstmalig“ restriktiv auszulegen sei. Schutzbedürftig sei nur, wer bislang - also auch in der Vergangenheit - unauffällig verordnet habe. Der Gesetzgeber habe insbesondere die Niederlassung neuer Ärzte im Blick gehabt, die in den Schutzbereich dieser neuen Regelung kommen sollten.
Unbeachtlich sei, dass die Vertragspartner auf Landesebene in der regionalen Prüfvereinbarung am 30.11.2012 verankert hatten, dass eine individuelle Beratung in allen Verfahren, für die in 2012 ein Bescheid versandt wurde, zu erfolgen habe. Die Vertragspartner seien nicht der Gesetzgeber.
3. Die Entscheidung des SG Stuttgart
In diesem Fall wandte sich ein Orthopäde gegen einen Heilmittelregress in Höhe von 10.300 EUR, der im Rahmen der RGP 2008 durch Bescheid des Beschwerdeausschusses vom 19.9.12 festgesetzt worden war. Im Prüfjahr lag die Ausgangsüberschreitung des Richtgrößenvolumens des Orthopäden bei +68 %. Gegen den Arzt waren zudem bereits in den RGP 2006 und 2007 Regresse bestandskräftig festgesetzt worden. Das SG gab der Klage des Arztes gegen den Regress bezüglich der RGP 2008 nach einer kurzen mündlichen Verhandlung statt.
Das Urteil steht im Widerspruch zu den zuvor dargestellten Entscheidungen des LSG NRW, die dem SG Stuttgart indes zum Zeitpunkt der Verhandlung wohl nicht bekannt waren. Zwar sei der Wortlaut des § 106 Abs. 5e SGB V - so das SG Stuttgart - unklar, da nicht deutlich werde, ob der S. 2 („Ein Erstattungsbetrag kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgelegt werden“) ausdrücklich auf S. 1 Bezug nehme und daher nur für eine Überschreitung anzuwenden sei, die auf eine erstmalige Überschreitung folge, oder allgemein für künftige, d.h. mehrmalige Überschreitungen gelte.
Der unklare Wortlaut eröffne aber die Möglichkeit, die Gesetzesbegründung zur Auslegung der Vorschrift heranzuziehen. Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich aber gerade nicht, dass die Beratungspflicht nur bei erstmaligen Überschreitungen gelten solle. Vielmehr stelle die Gesetzesbegründung fest, dass ein Regress auch bei künftigen Überschreitungen erst zulässig sei, wenn in dem vorherigen Verordnungszeitraum eine (individuelle) Beratung erfolgt sei. Durch die Ergänzung vom 26.10.12 habe der Gesetzgeber unmissverständlich geäußert, dass die Norm für alle Verfahren gelte, die am 31.12.11 noch nicht abgeschlossen seien. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass sich der Absatz nur auf Verfahren bezieht, in denen es um eine (numerisch) erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens geht, hätte das auch so in den Gesetzestext aufgenommen werden müssen.
Dem Vortrag des Beschwerdeausschusses, wonach § 106 Abs. 5e SGB V nur für Vertragsärzte gelte, gegen die noch nie ein Regress festgesetzt worden sei, folgte das SG Stuttgart nicht. Zur weiteren Begründung verwies die Richterin in der mündlichen Verhandlung auf die Begründung des LSG Baden-Württemberg in der Entscheidung vom 19.2.12.
4. Fazit
Die widersprüchlichen Entscheidungen sollen an dieser Stelle nicht weiter analysiert oder kommentiert werden. Abzuwarten sind zunächst die schriftlichen Urteilsgründe. Es zeigt sich gleichwohl, dass die Rechtsprechung sich höchst unterschiedlich mit einem vermeintlich eindeutigen Willen des Gesetzgebers beschäftigt. In der Beratungspraxis stellt sich nun die Frage, wie mit dieser unglücklichen Konstellation umgegangen werden soll. Es steht zu befürchten, dass viele Prüfgremien, die bereits eine Anwendbarkeit des § 106 Abs. 5e SGB V auch für Altfälle zugestanden hatten, nun ihre Ansicht überdenken. Inwieweit auf regionaler Ebene ggf. noch Vergleiche in Betracht kommen, bleibt abzuwarten. Für die Praxis werden wohl erst die Entscheidungen des BSG Gewissheit bringen. Diese dürfen mit großer Spannung erwartet werden.