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  • · Fachbeitrag · Die Steuer-Spielregeln im Wandel

    Reaktionsbedarf für deutsche Unternehmen ‒ Teil 2: Der Brexit und das Multilaterale Instrument

    von Prof. Dr. Dieter Endres und StB Dr. Carla Freiling, Frankfurt a.M.

    | Zu Ostern war dem FC Bayern München wie gewohnt der Gewinn der deutschen Meisterschaft quasi nicht mehr zu nehmen. Ein gleiches Maß an Beständigkeit ist dem Steuerrecht fremd. Gerade im internationalen Umfeld erscheint die Steuerwelt im Umbruch. Der zweiteilige Beitrag zeigt anhand von drei Musterfällen zu aktuellen Entwicklungen den Reaktionsbedarf für deutsche Unternehmen. Im ersten Teil wurden die Auswirkungen der US-Steuerreform dargestellt (Endres/Freiling, PIStB 18, 74 ). In den folgenden zwei Beispielsfällen werden die möglichen Steuerfolgen des Brexit und des im Rahmen von BEPS vereinbarten Multilateralen Instruments analysiert. |

    1. Wegfall von Steuerprivilegien durch den Brexit

     

    • Sachverhalt

    Die Marinagate GmbH ist Terminalbetreiber für den Containerumschlag mit Sitz in Bremerhaven. Bereits 2016 hat das Unternehmen auch einen Standort in Hull, UK eröffnet. Das britische Terminal wird als Zweigniederlassung des deutschen Unternehmens betrieben. Um die veralteten Containerbrücken in Hull zu modernisieren, wurden im Januar 2017 insgesamt acht vollabgeschriebene Containerkräne aus Bremerhaven nach Hull überführt. Die vorschriftsmäßige Wartung der Anlagen bedingte, dass den Kränen noch ein Zeitwert von 1.600.000 EUR zuzumessen ist. Die Marinagate GmbH hat aufgrund der allgemein angespannten Lage im Containerhandel das Wahlrecht nach § 4g EStG genutzt und zur Vermeidung eines sofort steuerpflichtigen Veräußerungsgewinns einen steuerlichen Ausgleichsposten in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen dem Buchwert von 0 EUR und dem gemeinen Wert gebildet. Dieser Ausgleichsposten soll in den Jahren 2017 bis 2021 gewinnerhöhend aufgelöst werden.

     

    Welches steuerliche Risiko droht der Marinagate GmbH in Bezug auf die Terminalmodernisierung in Hull durch den Brexit?

     

    1.1 Allgemeines zu den Steuerwirkungen des Brexit

    Am 23.6.16 fand im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland das Referendum zum Verbleib in der Europäischen Union statt. Die britischen Wähler haben sich mehrheitlich für das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU entschieden. Am 29.3.17 erfolgte die offizielle Austrittsmitteilung nach Art. 50 EUV, sodass mit einem EU-Austritt am 29.3.19 zu rechnen ist. Voraussichtlich wird sich an dieses Austrittsdatum noch eine zeitlich eng befristete Übergangsperiode anschließen, in der Großbritannien weiter dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion angehören darf.

     

    Die Verhandlungen über die Konsequenzen des Austritts haben bisher (in Phase I) sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Doch erst in Phase II der Gespräche zwischen der EU und Großbritannien soll über die künftigen Beziehungen entschieden werden. Daher müssen sich Unternehmen und Unternehmer nicht nur auf die vielfältigen ökonomischen Risiken, sondern auch auf die möglichen steuerrechtlichen Folgen des Brexits einstellen, ohne den Ausgang der Verhandlungen zu kennen.

     

    Derzeit ist noch nicht endgültig festgelegt, welchen rechtlichen Status Großbritannien nach dem bevorstehenden EU-Austritt haben wird. Sollte das Vereinigte Königreich Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bleiben, hätte dies für das deutsche Steuerrecht hohe Relevanz, da in vielen Steuervorschriften auch die Mitgliedschaft im EWR ausreicht. Da aber mit einer Mitgliedschaft im EWR auch die EWR-Grundfreiheiten, darunter auch die Freizügigkeit, verpflichtend wären, ist mit diesem Status Großbritanniens in Zukunft nicht zu rechnen, war doch die Einschränkung der Freizügigkeit natürlicher Personen politischer Treiber für das Referendum. Sollten die Verhandlungspartner keinen besonderen Status aushandeln, fiele Großbritannien auf den Status eines „Drittstaats“ zurück, sodass nur durch gesonderte (bilaterale) Abkommen bestimmte Privilegien zu erreichen wären.

     

    Beachten Sie | Als Zwischenlösung ist denkbar, dass Großbritannien einen Status wie die Schweiz in der EFTA (Europäische Freihandelsassoziation) einnimmt, die u. a. eine Freihandelszone eingerichtet hat. Die Ausgestaltung eines entsprechenden Freihandelsabkommens sollte bis zum EU-Gipfeltreffen am 18.10.18 abgestimmt sein.

     

    Eindeutig ist aber, dass EU-Richtlinien wie z. B. die Mutter-Tochter-Richtlinie (umgesetzt in § 43b EStG), die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie (umgesetzt in § 50g EStG), die Fusionsrichtlinie (umgesetzt im UmwStG) und weitere Richtlinien zur Amtshilfe und zur Beitreibung nur innerhalb der EU anwendbar sind. So würde bei einem harten Brexit auf Ausschüttungen deutscher Tochter- an UK-Muttergesellschaften die 5 %-Kapitalertragsteuer wieder aufleben; im Umkehrfall, bei Dividendenzahlungen von UK-Tochtergesellschaften, drohen für den deutschen Ausschüttungsempfänger Belastungsrisiken bei der Gewerbesteuer (vgl. Lüdicke, IStR 17, 936). Auch der Motivtest im Rahmen der Aktivitätsklausel des § 8 Abs. 2 AStG würde entfallen, was angesichts des niedrigen UK-Körperschaftsteuertarifs zur Erweiterung des Anwendungsbereichs der Hinzurechnungsbesteuerung führt. Im Übrigen greift auch die „Anti-BEPS-RL“ nur im EU-Bereich, wobei sich UK als OECD-Mitglied zumindest politisch zu BEPS-Maßnahmen verpflichtet hat.

     

    1.2 Privilegierung bei Entstrickungssachverhalten in der EU

    Als Entnahme i. S. d. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG bzw. als Veräußerung i. S. d. § 12 Abs. 1 KStG gilt der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder der Nutzung eines Wirtschaftsguts. Insbesondere liegt ein solcher Ausschluss des Besteuerungsrechts vor, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte des Steuerpflichtigen zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist.

     

    Wird ein Wirtschaftsgut eines Steuerpflichtigen durch Zuordnung zu einer Betriebsstätte desselben Steuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat der EU nach § 4 Abs. 1 S. 3 und 4 EStG als entnommen bzw. nach § 12 Abs. 1 KStG als veräußert behandelt, kann gemäß § 4g Abs. 1 S. 1 EStG ein Ausgleichsposten in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen dem Buchwert und dem gemeinen Wert gebildet werden (aufgeschobene Gewinnverwirklichung). Dieser Ausgleichsposten ist nach § 4g Abs. 2 S. 1 EStG grundsätzlich im Jahr der Bildung und in den folgenden vier Wirtschaftsjahren zu je 1/5 gewinnerhöhend aufzulösen (zu Details vgl. Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, 8. Aufl., München 2016, 800 ff.).

     

    Der Ausgleichsposten ist jedoch in voller Höhe aufzulösen, wenn das als entnommen geltende Wirtschaftsgut aus der Besteuerungshoheit der Mitgliedstaaten der EU ausscheidet (§ 4g Abs. 2 S. 2 Nr. 2 EStG). Dieses Szenario ist bei Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU im Jahr 2019 gegeben. Selbst der Verbleib im EWR würde hieran nichts ändern, denn die Bildung eines Ausgleichspostens ist an die Mitgliedschaft in der Europäischen Union geknüpft (vgl. § 4g Abs. 1 S. 1 EStG). Obwohl die Zwecksetzung der Vorschrift des § 4g Abs. 2 S. 2 Nr. 2 EStG offensichtlich ist, bleibt bei reiner Wortlauttreue ein erhebliches steuerliches Risiko. Der Gesetzgeber wollte mit der Regelung Situationen verhindern, bei denen das entnommene Wirtschaftsgut über eine vorläufige EU-Zuordnung schließlich in einer Drittland-Betriebsstätte landet, ohne dass es zur Aufdeckung und sofortigen Besteuerung der stillen Reserven kommt. Der Austritt eines Mitgliedstaats aus der Union war bis 2016 kein Szenario, das dem Gesetzgeber vor Augen schwebte. Trotzdem ist die Formulierung der Vorschrift so offen, dass auch der Brexit ihre Konsequenzen auslösen kann (so auch Herbst/Gebhardt, DStR 16, 1705, 1708). Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der Steuerpflichtige nach § 4g Abs. 5 EStG verpflichtet ist, der zuständigen Finanzbehörde das Ausscheiden der als entnommen bzw. veräußert geltenden Wirtschaftsgüter aus der Besteuerungshoheit der Mitgliedstaaten der EU unverzüglich anzuzeigen.

     

    1.3 Auswirkungen des Brexit auf den Ausgangssachverhalt

    Die Marinagate GmbH hat den Ausgleichsposten nach § 4g EStG im Jahr der Überführung der Krananlagen in Höhe von 1,6 Mio. EUR gebildet. Für die Jahre 2017 und 2018 ist der Ausgleichsposten jährlich um 320.000 EUR aufzulösen. 2019 ‒ zum Zeitpunkt des Brexit ‒ besteht der Ausgleichsposten also noch in Höhe von 960.000 EUR. Die Marinagate GmbH trägt das Risiko, dass dieser Betrag in 2019 in voller Höhe gewinnwirksam aufzulösen ist ‒ mit dem Vollzug des Brexit entfiele der Steuerstundungseffekt. Eine weitere Streckung der Besteuerung bis 2021 wäre ausgeschlossen. Wird also bis 2019 keine diesbezügliche steuerliche Regelung mit den Folgen des EU-Austritts für deutsche Steuerpflichtige vereinbart, hat die Marinagate GmbH den zuständigen Finanzbehörden das Ereignis anzuzeigen, dass die Besteuerungshoheit über die 2017 überführten Krananlagen mit dem Brexit nicht mehr bei einem Mitgliedstaat der Europäischen Union liegt.

     

    1.4 Drohende Brexit-Konsequenzen bei der Verletzung von Sperrfristen

    Für Besteuerungszwecke besteht eine Reihe von Vergünstigungen, soweit Sachverhalte innerhalb der EU betroffen sind (vgl. u. a. die Auflistung bei Peykan/Hanten/Gegusch, DB 16, 1526 sowie den Tagungsband zur ifst-Jahrestagung 2017, ifst-Schrift 520). Bei einem harten Brexit finden diese Regelungen keine Anwendung mehr. Es ist offensichtlich, dass das hieraus resultierende steuerliche Ergebnis nicht befriedigt. Es stellt sich die Frage, ob ein steuerauslösender Sachverhalt nicht immer ein aktives Verhalten eines Steuerpflichtigen voraussetzt (zur Kritik an einer Entnahmebesteuerung trotz einer bloßen Beobachterrolle des Steuerpflichtigen ‒ wie z. B. auch beim Neuabschluss eines DBA ‒ vgl. Förster, DB 07, 72; vgl. auch Herbst/Gebhardt, DStR 16, 1708). Weder der Steuerpflichtige noch der deutsche Gesetzgeber hatten Einfluss auf das Referendum in Großbritannien, sodass es an einer dem Steuerpflichtigen zurechenbaren Handlung fehlt. Hier ist eine Klarstellung des Gesetzes dringend erforderlich, um unbillige Ergebnisse von deutschen Steuerpflichtigen durch die Brexit-Entscheidung abzuwenden.

     

    Wie eingangs erwähnt stehen der Musterfall und die Problematik des § 4g Abs. 2 S. 2 Nr. 2 EStG nur exemplarisch für viele Vorschriften des deutschen Steuerrechts, die Privilegierungen für EU-Sachverhalte vorsehen. Ähnliches wie im Musterfall gilt in den Fällen der grenzüberschreitenden Betriebsverlegung nach § 16 Abs. 3a EStG i. V. m. § 36 Abs. 5 EStG, wobei die Streckung der Steuerbelastung über fünf Jahre nach § 36 Abs. 5 EStG auch auf EWR-Fälle anwendbar ist. Gemäß Satz 4 dieser Vorschrift ist für den Fall, dass der verlagerte Betrieb in einen Drittstaat weiterverlagert wird, die gestundete Reststeuer innerhalb eines Monats fällig. Die Norm stellt somit auf den Akt der Weiterverlagerung ab, weshalb vertreten werden kann, dass ein EU-Austritt seitens UK die Vorschrift nicht auslöst. Ob diese Argumentation aber zum Tragen kommt, wird sich erst zukünftig zeigen. Eine eindeutige rechtliche Klarstellung in bereits verwirklichten Entstrickungsfällen wäre wünschenswert.

     

    Vergleichbar ist auch die Rechtslage zu § 6b Abs. 2a EStG. Danach ist bei Anschaffung eines zu einer ausländischen EU/EWR-Betriebsstätte gehörenden Wirtschaftsguts eine antragsgebundene fünfjährige Verteilung der Steuer vorgesehen, die auf den Gewinn aus der Auflösung der stillen Reserven in dem veräußerten Wirtschaftsgut entfällt. Für bereits realisierte Anschaffungsvorgänge in einer UK-Betriebsstätte, bei denen der Stundungszeitraum über den Austrittszeitpunkt hinausreicht, sollte keine sofortige Fälligkeit der gestundeten Steuer eintreten. Aber auch hier muss eine gesetzliche Klarstellung angestrebt werden, um das steuerliche Risiko aus dem EU-Austritt nicht auf die Steuerpflichtigen abzuwälzen. Weitere Sperrfristverletzungen sind bei Einbringungen und dem Anteilstausch nach § 22 UmwStG, in Wegzugsfällen (§ 6 Abs. 5 AStG) und auch im Erbfall (§§ 13a, b ErbStG) denkbar. Stellvertretend verdeutlichen sie die Komplexität, die der Trennungsprozess gerade auch im steuerlichen Bereich hervorruft.

    2. Auswirkungen des im Rahmen von BEPS vereinbarten Multilateralen Instruments (MLI)

     

    • Sachverhalt

    Ein chinesischer Investor in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft erwirbt im Jahr 1 alle Anteile an der Biostrom GmbH, die Solarzellen produziert. In den vorangegangenen Jahren sind die erwirtschafteten Überschüsse nicht ausgeschüttet worden, da das Management und die bisherigen Gesellschafter der Biostrom GmbH große Investitionen in neue Fabrikationsanlagen planten. Der neue Anteilseigner aus China tätigt den Anteilserwerb aber lediglich in der Absicht,

    deutsche Patente, Vertriebsstrukturen und den Kundenstamm der GmbH zu nutzen. Eine Investition in neue Produktionsanlagen in Deutschland ist dagegen nicht beabsichtigt. Die chinesische Gesellschaft beschließt daher drei Monate nach Erwerb der Anteile eine Vollausschüttung ihrer Tochtergesellschaft von 1 Mio. EUR.

     

    In welcher Höhe ist von der Biostrom GmbH Quellensteuer auf die Dividendenzahlung einzubehalten und abzuführen?

     

    2.1 Zustandekommen und Wirkungsweise des MLI

    Die OECD hat im Rahmen des BEPS-Projekts in ihrem finalen Abschlussbericht unter Punkt 15 des OECD-Aktionsplans das Ziel „Development of a Multilateral Instrument to implement the Tax Treaty related BEPS Measures“ formuliert. Die Entwicklung eines multilateralen Instruments sei wünschenswert und realisierbar, um die seitens der OECD vorgeschlagenen Maßnahmen schnellstmöglich umzusetzen, ohne dass jedes einzelne betroffene DBA nachverhandelt werden muss.

     

    Am 24.11.16 ist dieses Multilaterale Instrument (MLI) von der OECD herausgegeben worden, mit dem abkommensrelevante Maßnahmen des BEPS-Projekts in bestehende DBA umgesetzt werden sollen (vgl. für den Text des MLI in deutscher Sprache http://www.oecd.org/tax/treaties/beps-multilateral-instrument-text-translation-german.pdf). Die „signing ceremony“ hat am 7.6.17 stattgefunden, bei der 67 Staaten ‒ darunter auch Deutschland ‒ das Übereinkommen unterzeichnet haben. Einige weitere Staaten sind seither noch hinzugekommen, sodass per Stand Ende Oktober 2017 71 Staaten das Dokument unterzeichnet haben. Das MLI beeinflusst dadurch mehr als 1.100 DBA weltweit.

     

    Von den 70 anderen unterzeichnenden Ländern unterhält Deutschland mit 61 Staaten DBA auf dem Gebiet der Ertragsteuern bzw. sogenannte Auskunftsabkommen. Doch sieht das MLI nicht vor, dass alle DBA eines Unterzeichnerstaats automatisch umgestaltet werden. Vielmehr bleibt es dem Signatarstaat überlassen, diejenigen Abkommen durch Notifikation auszuwählen, auf die das Rahmenabkommen angewendet werden soll (sog. „Covered Tax Agreements“). Deutschland hat in einem ersten Schritt 35 DBA für eine Modifikation durch das MLI vorgesehen, wobei nur 32 Staaten ihrerseits das MLI notifiziert haben.

     

    Beachten Sie | Jeder Staat kann entscheiden, in welchem Umfang er einzelnen Elementen des MLI zustimmt. Obwohl das MLI eine sehr weitreichende Flexibilität hinsichtlich der wählbaren Elemente bietet, um es möglichst vielen Staaten zu erleichtern, die OECD-Mindeststandards einzuführen, enthält das Übereinkommen auch Artikel, die nicht vollständig abwählbar sind.

     

    Die Änderungen gelten für einige Regelungsbereiche nur dann, wenn beide Staaten symmetrisch einer Änderung zugestimmt haben. Für andere Regelungsbereiche kann es zu asymmetrischer Anwendung kommen. Die gewählten Regelungen können nachträglich jederzeit durch die Staaten geändert werden.

     

    Schließlich muss die gewählte Regelung in Deutschland noch durch einen entsprechenden Gesetzgebungsprozess ratifiziert werden, um wirksam zu werden. Dieser Gesetzgebungsprozess ist in Deutschland noch nicht abgeschlossen. Gemäß Art. 34 tritt das MLI erstmals in Kraft, wenn es von mindestens fünf Vertragsstaaten ratifiziert wurde und eine Frist von drei Monaten abgelaufen ist. Es kann damit gerechnet werden, dass die Regeländerungen in Deutschland erstmals für Steuersachverhalte Relevanz erlangen werden, die nach dem 1.1.19 realisiert werden.

     

    2.2 Lösung des Sachverhalts allein nach nationalem Recht

    Die Biostrom GmbH ist nach § 44 Abs. 1 S. 3 i. V. m. § 43 Abs. 1 Nr. 1 und § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG zum Kapitalertragsteuerabzug verpflichtet. Der Steuerabzug ist ungeachtet des § 8b KStG vorzunehmen (§ 43 Abs. 1 S. 3 EStG). Die Kapitalertragsteuer beträgt nach § 43a Abs. 1 Nr. 1 EStG 25 % zuzüglich 5,5 % Solidaritätszuschlag (§ 1 Abs. 3 SolZG); bei beschränkt steuerpflichtigen Körperschaften werden allerdings zwei Fünftel der einbehaltenen und abgeführten Kapitalertragsteuer (unabhängig von weiterreichenden Freistellungen nach einem DBA) erstattet (§ 44a Abs. 9 EStG).

     

    Nach rein nationaler Rechtslage muss die chinesische Muttergesellschaft also mit einer saldierten Kapitalertragsteuerbelastung in Deutschland von 15 % zzgl. Solidaritätszuschlag rechnen. Bezogen auf die Dividendenzahlung von 1 Mio. EUR ergibt sich somit eine Quellensteuerzahlung von 158.250 EUR (150.000 EUR zzgl. 8.250 EUR).

     

    2.3 Reduzierung der Kapitalertragsteuerbelastung nach dem DBA D/China

    Das neue deutsche DBA mit China vom 28.3.14 ist am 6.4.16 in Kraft getreten und ist grundsätzlich ab dem 1.1.17 anwendbar. Es folgt weitgehend den OECD-Standards und ist daher eines der modernsten Abkommen, das Deutschland abgeschlossen hat. In Art. 10 des Abkommens ist das international übliche Schachtelprivileg für Dividenden geregelt. Der Ansässigkeitsstaat des Dividendenempfängers hat zwar nach Art. 10 Abs. 1 das Besteuerungsrecht, aber der Quellenstaat behält sich nach Abs. 10 Abs. 2 ein (beschränktes) Anrecht auf Quellenbesteuerung vor. Art. 10 Abs. 2 Buchst. a ) DBA D/China sieht eine Quellensteuer von 5 % vor, wenn der Nutzungsberechtigte eine Gesellschaft ist, die unmittelbar 25 % der Anteile an der die Dividenden zahlenden Gesellschaft hält. Die Behandlung als Schachteldividende bei einer Mindestbeteiligungshöhe von 25 % wird nach dem DBA nicht an eine Vorbesitzzeit geknüpft. Art. 10 Abs. 2 b) u. c) regeln dann noch für spezielle Dividenden von steuerbegünstigten Investmentvehikeln ein 15%iges Quellenbesteuerungsrecht und eine Quellensteuer von 10 % in allen übrigen Fällen.

     

    Die Voraussetzung einer unmittelbaren Beteiligung über 25 % des Kapitals der die Dividende zahlenden Gesellschaft ist im Beispielsfall erfüllt. Der von der Biostrom GmbH zu viel einbehaltene Betrag von 108.250 EUR kann auf Antrag des chinesischen Gläubigers der Kapitalerträge vom Bundeszentralamt für Steuern erstattet werden (§ 50d Abs. 1 S. 3 EStG). Alternativ kann der Gläubiger einen Antrag auf (Teil-)Freistellung der Kapitalerträge von der Kapitalertragsteuer nach § 50d Abs. 2 EStG stellen. Wenn der Biostrom GmbH zum Zeitpunkt der Ausschüttung eine solche Freistellungsbescheinigung vorliegt, kann der Steuerabzug direkt mit dem niedrigeren Steuersatz von 5 % erfolgen.

     

    2.4 Konsequenzen durch das MLI

    Eine der von Deutschland notifizierten Regelungen des MLI betrifft Begünstigungen von Schachteldividenden. Art. 8 (Transaktionen zur Übertragung von Dividenden) des MLI sieht eine Mindesthaltedauer für die Gewährung des Schachtelprivilegs vor. Die in Art. 10 Abs. 2 OECD-MA enthaltene Reduzierung des Quellensteuersatzes auf 5 % bei Schachteldividenden ab einer Beteiligungshöhe von mindestens 25 % oder ähnliche Bestimmungen in den Einzel-DBA zur Quellensteuerreduzierung sollen durch Art. 8 Abs. 1 des MLI dahingehend ergänzt werden, dass für die Inanspruchnahme dieser Vergünstigungen eine Mindesthaltedauer von 365 Tagen einschließlich des Tages der Dividendenzahlung erforderlich ist. Gemäß Art. 8 Abs. 2 MLI gilt die Mindesthaltedauer anstelle oder in Ermangelung einer Mindesthaltedauer in den Einzel-DBA.

     

    MERKE | Da Art. 8 MLI eine optional zu wählende Bestimmung ist, sieht Abs. 3 Buchst. a) die Möglichkeit vor, diesen Artikel nicht anzuwenden. Diese Option hat Deutschland nicht ausgeübt, sodass Art. 8 grundsätzlich Anwendung findet. Art. 8 Abs. 3 Buchst. b) MLI bietet jedoch die Möglichkeit, trotz grundsätzlicher Anwendung von Art. 8 für bestimmte einzelne DBA keine Änderung vorzusehen. Von dieser Möglichkeit macht Deutschland in Bezug auf die DBA-Regelungen mit Italien, Japan, Liechtenstein und den USA Gebrauch.

     

    Gemäß Art. 8 Abs. 4 MLI gilt die Bestimmung des Abs. 1, d. h., die Einführung der Mindesthaltedauer gilt nur dann, wenn auch der andere Vertragsstaat eine entsprechende Notifikation abgegeben hat. Dies trifft gegenwärtig nur auf China, Costa Rica, Frankreich, Irland, Israel, Mexiko, Niederlande, Rumänien, Russland, Slowakei, Slowenien und Spanien zu.

     

    Somit wird im Verhältnis zu China (unser Beispielsfall) das bislang zweistufige Prüfverfahren zur Ermittlung der Kapitalertragsteuerbelastung bei Ausschüttungen an einen ausländischen Anteilseigner (zunächst nationales Recht, dann DBA) nach Inkrafttreten des MLI durch eine dritte Ebene ausgeweitet. Ist im Ausschüttungsjahr 1 laut Sachverhalt bereits das MLI in Kraft getreten, müssen auch Auswirkungen dieser multilateralen Vereinbarung geprüft werden. Insoweit ist die zusätzliche Voraussetzung einer Mindesthaltedauer zu beachten. Da im Beispielsfall die erforderliche Haltedauer der Beteiligung von 365 Tagen zum Zeitpunkt der Ausschüttung noch nicht erfüllt ist, kann nach Wirksamwerden des MLI die deutsche Kapitalertragsteuer nicht auf 5 % reduziert werden. Vielmehr kommt ein Quellensteuersatz von 10 % zum Tragen. Allzu rasche Auskehrungen aus neu erworbenen Beteiligungen sind also zukünftig noch genauer im Hinblick auf ihre kapitalertragsteuerlichen Konsequenzen zu überprüfen.

     

    2.5 Zusammenfassung und Ausblick

    Das MLI ist ein wichtiges Element bei der Umsetzung des BEPS-Projekts. Es ermöglicht die effiziente Modifikation von Abkommensinhalten, ohne dass mühsam eine vierstellige Anzahl an DBA auf bilateralem Wege zu ändern ist. Der Musterfall verdeutlicht aber auch, dass die Prüfung internationaler Sachverhalte durch das MLI erheblich komplexer wird. Es ist dabei gegenwärtig noch nicht entschieden, ob die überdachenden Regelungen des MLI in den Text der jeweils betroffenen DBA eingefügt werden, um dem Rechtsanwender die korrekte Abkommensanwendung zu erleichtern. Da es jederzeit zu Änderungen des Rechtsverständnisses durch die Signatarstaaten kommen kann, ist aber zu vermuten, dass dieser dynamische Prozess nicht in den Einzel-DBA abgebildet wird.

     

    PRAXISHINWEIS | Der Steuerpflichtige wird zukünftig dreistufige Prüfprozesse durchlaufen müssen, um eine korrekte Antwort auf seine internationalen Steuerfragen zu erhalten. Insoweit tut gut daran, wer die Zeit bis zum 1.1.19 nutzt, um alle relevanten länderspezifischen Informationen zu sammeln und so über die erforderlichen Handlungsgrundlagen zu verfügen.

     

    3. Resümee

    Mit den drei Musterfällen werden einige brisante Entwicklungen angesprochen, die den aktuellen Umbruch im Steuerrecht besonders nachdrücklich belegen. Umfassend oder gar erschöpfend ist die Fallauswahl freilich nicht. So ließe sich die Liste an Regeländerungen im deutschen Recht beispielsweise durch die Einführung einer Lizenzschranke, das neue Investmentsteuerrecht oder durch verschiedene Reparaturvorhaben (wie z. B. bei der Hinzurechnungsbesteuerung aufgrund von BEPS-Impulsen) fast beliebig verlängern. Im Ausland lösen ‒ neben den beschriebenen US-Entwicklungen und BEPS-Umsetzungsmaßnahmen ‒ u. a. Steuersatzänderungen und Reformen bezüglich der Bemessungsgrundlage in Großbritannien, China, Frankreich und Südkorea möglichen akuten Handlungsbedarf für dort operierende Unternehmen aus. Ergänzt um Aufgaben bei der Neuabbildung von tiefgreifenden Änderungen in den globalen Geschäftsprozessen, der digitalen Transformation und immer weiter steigenden Dokumentations-, Anzeige- und weiteren Compliance-Verpflichtungen ergibt sich ein nachhaltiger Eindruck über die enormen Anforderungen an das heutige Steuermanagement.

     

    Häufig liegt ein neuralgischer Punkt zur Bewältigung all dieser Aufgaben in der Ressourcenausstattung der Steuerabteilung. Dort wird notwendigerweise den dringlichen Fragestellungen des Tagesgeschäfts Priorität eingeräumt, sodass für außerplanmäßige Themen und das Schritthalten mit dem Tempo der Veränderung oft zu wenig Zeit bleibt. Dennoch ‒ die Dynamik gerade im internationalen Steuerrecht erfordert auch strategische Antworten, vor denen sich der verantwortungsbewusste Unternehmer nicht scheuen darf. Der Blick auf das Anforderungsprofil in der Steuerabteilung ist dabei keine Momentaufnahme, sondern dürfte auch die Zukunft abbilden. Denn wie hat der französische Lyriker und Philosoph Paul Valery bereits früh festgestellt: „The trouble with our time is that the future is not what it used to be.“

    Quelle: Ausgabe 04 / 2018 | Seite 103 | ID 45145598