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  • · Fachbeitrag · Wegzugsbesteuerung

    Behandlung von Verlustvorträgen im Rahmen des § 6 Abs. 5 AStG

    von RA StB Lothar Siemers und RA StB Dipl.-Finw. Philipp Claussen, Düsseldorf

    | § 6 AStG sieht vor, dass Wertzuwächse in wesentlichen Beteiligungen natürlicher Personen an Kapitalgesellschaften bei Wegzug aus Deutschland besteuert werden. Die Ausgestaltung dieser sog. Wegzugsbesteuerung unter Umsetzung europarechtlicher Vorgaben stellt den Gesetzgeber vor eine Herausforderung. Dieser Beitrag stellt die Anforderungen der EuGH-Rechtsprechung und des Gemeinschaftsrechts an die Regelungen zur Wegzugsbesteuerung - im Speziellen an die Stundungsregelungen - kurz dar und untersucht anhand eines konkreten Musterfalls, ob insbesondere § 6 Abs. 5 S. 6 AStG hiermit vereinbar ist. |

    1. Hintergrund

    Mit der Änderung des § 6 AStG durch das am 12.12.06 verkündete Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) vom 7.12.06 (BGBl I 06, 2782) verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die Wegzugsbesteuerung europarechtskonform zu gestalten. Kernstück der Reform war die Einführung einer Stundungsregelung für die Vermögenszuwachssteuer bei EU-/EWR-Sachverhalten in § 6 Abs. 5 AStG. Ursache dieser Gesetzesänderung war u.a. die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Hughes de Lasteyrie du Saillant (EuGH 11.3.04, C-9/02, IStR 04, 236).

     

    Sowohl der EuGH als auch der BFH gehen in ständiger und gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass der Grundsatz der Niederlassungsfreiheit es dem Herkunftsmitgliedstaat verbietet, die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen oder Angehörigen anderer Mitgliedstaaten in einem anderen Mitgliedstaat zu behindern (EuGH 11.3.04, C-9/02, a.a.O.; EuGH 13.4.00, C-251/98, IStR 00, 337). Dieses Verbot gilt auch in Bezug auf steuerrechtliche Vorschriften. Eine solche, durch Art. 49 AEUV (bis zum 30.11.09 Art. 43 EG) verbotene Beschränkung ist hiernach insbesondere dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige, der in Ausübung seiner garantierten Niederlassungsfreiheit seinen Wohnsitz ins Ausland verlegen möchte, gegenüber einer Person, die ihren Wohnsitz beibehält oder innerhalb desselben Staates verlegt, benachteiligt und somit von einer Wohnsitzverlegung abgehalten wird (s. auch EuGH 7.9.06, C-470/04, IStR 06, 702).

     

    Wichtig | Art. 49 AEUV garantiert die Niederlassungsfreiheit gleichwohl nicht schrankenlos. So können einschränkende Maßnahmen zulässig sein, wenn mit ihnen ein berechtigtes und mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird, sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, ihre Anwendung zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet ist und die Maßnahmen nicht über das erforderliche Maß hinausgehen (EuGH 15.5.97, C-250/95, EuZW 97, 443). Es kann somit davon ausgegangen werden, dass nicht jede Wegzugsbesteuerung generell und unabhängig von der jeweiligen Zielsetzung mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist (vgl. BFH 25.8.09, I R 88, 89/07, IStR 09, 895 m.w.N.; bspw. Lausterer, BB-Special 8/06, 80; Schön, IStR 04, 289, Richter/Escher, FR 07, 674). In Bezug auf die einzelnen steuerrechtlichen Bestimmungen zur Wegzugsbesteuerung bleibt aber festzuhalten, dass diese daraufhin zu überprüfen sind, ob aus ihren Rechtsfolgen eine gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV entsteht. Falls dies der Fall ist, ist die Regelung nur zulässig, soweit die Beschränkungen im Einzelnen im Hinblick auf das mit der Wegzugsbesteuerung verfolgte Ziel verhältnismäßig sind.

     

    1.1 Ausgestaltung der Regelungen zur Steuerstundung

    Aus den Entscheidungen des EuGH zu den Rechtssachen Hughes de Lasteyrie du Saillant (EuGH 11.3.04, C-9/02, a.a.O.) und N (EuGH 7.9.06, C-470/04, a.a.O.) lässt sich entnehmen, dass eine Wegzugsbesteuerung nicht allein deswegen unzulässig ist, weil die Steuer auf den Wertzuwachs bereits im Zeitpunkt des Wegzugs festgesetzt und zugleich gestundet wird. Jedoch setzt die Verhältnismäßigkeit im Sinne einer gerechtfertigten Einschränkung der Niederlassungsfreiheit danach voraus, dass die Maßnahme, hier die Festsetzung und Stundung der Steuer im Wegzugszeitpunkt, nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des im Allgemeininteresse liegenden Ziels erforderlich ist:

     

    • Beispielsweise ist die Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung anlässlich des Wegzugs (zwecks Festsetzung der Steuer) eine verhältnismäßige Maßnahme in diesem Sinne, da der Steuerpflichtige hierdurch nicht mehr belastet ist, als er dies später im Falle der tatsächlichen Realisierung des Wertzuwachses wäre; denn auch in diesem Zeitpunkt sind die erforderlichen Angaben und Unterlagen durch den Steuerpflichtigen vorzulegen (EuGH 7.9.06, C-470/04, a.a.O.)

     

    • Dagegen ist eine Stundung, die unter der Voraussetzung der Stellung von Sicherheiten gewährt wird, unverhältnismäßig. Denn die Funktionsfähigkeit und die Wirksamkeit eines Besteuerungssystems werden bereits durch die Amtshilferichtlinie (Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15.2.11 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG) und die Beitreibungsrichtlinie (Richtlinie 2010/24/EU des Rates vom 16.3.10 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen, ABl EU L 84/2010 31.3.10, 1) in ausreichendem Maße gewährleistet, sodass Sicherheitsleistungen nicht erforderlich sind.

     

    1.2 § 6 AStG im Zusammenhang mit der Stundung in EG-/EWR-Fällen

    Die Regelungen der deutschen Wegzugsbesteuerung in den Fällen des Wegzugs von EG-/EWR-Staatsangehörigen in EG-/EWR-Staaten werden in der Literatur und Rechtsprechung in einem weitreichenden Spektrum unterschiedlich bewertet. Nach der Rechtsprechung des BFH genügt § 6 AStG in der Fassung nach SEStEG prinzipiell und unbeschadet von Einzelfragen den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben (BFH 25.8.09, I R 88, 89/07, IStR 09, 895, ebenso im vorausgegangen Verfahren zum vorläufigen Rechtsschutz BFH 23.9.08, I B 92/08, DStR 08, 2154; ebenso FG Düsseldorf 14.11.07, 9 K 1270/04 E). Auch nach der herrschenden Auffassung in der Literatur werden die Neuregelungen den Vorgaben des EuGH im Wesentlichen gerecht (Schraufl, PIStB 07, 122; Richter/Escher, FR 07, 674 m.w.N.; Grotherr IWB 07, Fach 3, Gruppe 1, 2153, Dörfler/Ribbrock, BB 08, 304; Elicker in: Blümich, EStG-KStG-GewStG, § 6 AStG Rz. 1 ff; F/W/B § 6 Rz. 26; Haase § 6 Rz. 17). Zu bestimmten Fallkonstellationen werden in unterschiedlichem Umfang Zweifel an der Gesamtkonzeption der Wegzugsbesteuerung oder an einzelnen Teilregelungen angemeldet (Wassermeyer, IStR 07, 833; Elicker in: Blümich, EStG-KStG-GewStG, § 6 AStG Rz. 1 ff. m.w.N.; hierzu im Einzelnen Kraft § 6 Rz. 190 ff.; Haase § 6 Rz. 18 ff.; Lausterer, BB-Special 8/06, 80; Reimer in: Ostertun/Reimer, Wegzugsbesteuerung, 1. Aufl. 2007, 150).

     

    Anhand des nachfolgenden Musterfalls wird aufgezeigt, dass erhebliche Zweifel an der Europarechtskonformität des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG bestehen und diese Regelung zumindest einer europarechtskonformen Auslegung bedarf.

    2. Sachverhalt

    Der seit seiner Geburt in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtige deutsche Staatsangehörige Max Meier, 45 Jahre, konfessionslos, ledig, kinderlos, ist seit vielen Jahren zu 12 % am Stammkapital der ebenfalls in Deutschland ansässigen Im- und Export Meier GmbH (nachfolgend: GmbH) beteiligt. Das Stammkapital der GmbH beträgt 100.000 EUR. Max Meier hat die Beteiligung von seinem am 31.5.85 verstorbenen Vater, der einer der Gründungsgesellschafter der GmbH war, als Alleinerbe geerbt. Die Anschaffungskosten seines Vaters für die Beteiligung an der am 31.3.79 gegründeten GmbH betragen 12.000 EUR.

     

    Am 30.6.09 ist Max Meier unter Aufgabe seines Wohnsitzes in Deutschland nach Österreich verzogen. Bei Wegzug am 30.6.09 betrug der gemeine Wert seiner Beteiligung an der GmbH 6.000.000 EUR. Am 31.3.99 betrug der gemeine Wert der Beteiligung 2.000.000 EUR.

     

    Max Meier erzielt zudem Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus in Deutschland belegenen Immobilien. Diese Einkünfte betragen im Jahr 2009 und auch in den Jahren danach jeweils 100.000 EUR. Weitere Einkünfte erzielt Max Meier nicht. Für Max Meier ist auf den 31.12.08 ein verbleibender Verlustvortrag zur Einkommensteuer von 1.000.000 EUR gesondert festgestellt worden.

    3. Lösungshinweise

    Wegen der Aufgabe seines inländischen Wohnsitzes i.S.d. § 8 AO ist Max Meier grundsätzlich ab dem 1.7.09 gemäß § 1 Abs. 4 EStG mit seinen inländischen Einkünften i.S.d. § 49 EStG beschränkt einkommensteuerpflichtig.

     

    3.1 Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung

    Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung von Max Meier sind nach § 21 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG einkommensteuerpflichtig und rechnen gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 6 EStG auch zu den inländischen Einkünften. Die Einkünfte von 100.000 EUR sind damit insgesamt in die Veranlagung für das Jahr 2009 gemäß § 2 Abs. 7 S. 3 EStG einzubeziehen.

     

    3.2 Beteiligung an der GmbH

    Die Beteiligung von Max Meier an der GmbH stellt eine sog. wesentliche Beteiligung i.S.d. § 17 EStG dar. Aufgrund des Wegzugs nach Österreich und der damit verbundenen Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht sind die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 S. 1 AStG erfüllt. Die Höhe der nach § 6 Abs. 1 AStG steuerpflichtigen Einkünfte bestimmt sich nach § 17 Abs. 2 EStG, wobei an die Stelle des Veräußerungserlöses gemäß § 6 Abs. 1 S. 4 AStG der gemeine Wert der Beteiligung an der GmbH im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht tritt.

     

    MERKE | Bei der Berechnung sind die Grundsätze der Entscheidung des BVerfG vom 7.7.10 (2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05 und 2 BvR 1738/05, BStBl II 11, 86) und des hierzu ergangenen BMF-Schreibens vom 20.12.10 (V C 6 - S 2244/10/10001, DStR 11, 29) zur rückwirkenden Absenkung der Beteiligungsgrenze in § 17 Abs. 1 S. 4 EStG i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 1 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 zu berücksichtigen. Danach sind die Gewinne aus der Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften i.S.d. § 17 EStG in einen steuerbaren und einen nicht steuerbaren Wertzuwachs aufzuteilen. Der nicht steuerbare Wertzuwachs ist dabei unabhängig von einer tatsächlichen Veräußerung der Beteiligung auf den 31.3.99 zu bestimmen. Die vorstehenden Grundsätze des BMF-Schreibens sind auf Fälle des § 6 AStG entsprechend übertragbar, weil § 6 AStG die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht einer Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung i.S.d. § 17 EStG gleichstellt. Somit sind grundsätzlich nicht die historischen Anschaffungskosten der Beteiligung von 12.000 EUR, sondern der gemeine Wert zum 31.3.99 von 2.000.000 EUR zu berücksichtigen.

    Die Einkünfte i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG i.V.m. § 17 EStG vor Anwendung des Teileinkünfteverfahrens gemäß §§ 3 Nr. 40, 3c Abs. 2 EStG betragen für Max Meier im Veranlagungszeitraum 2009 somit 4.000.000 EUR.

     

    PRAXISHINWEIS | Falls der gemeine Wert der Beteiligung zum 31.3.99 nicht ermittelt werden kann, kann die in Tz. C II. 1. a) des BMF-Schreibens enthaltene Vereinfachungsregelung zur Bestimmung des steuerbaren Wertzuwachses im Wege einer linearen zeitanteiligen Zuordnung der Besitzzeit angewendet werden. Die Besitzzeit und die Anschaffungskosten des Vaters von Max Meier sind diesem als Gesamtrechtsnachfolger zuzurechnen. Im Beispielsfall umfasst die Besitzzeit den Zeitraum vom 31.3.79 bis zum 30.6.09, somit insgesamt 363 Monate. Der Wertzuwachs der Beteiligung beträgt insgesamt 5.988.000 EUR (6.000.000 EUR gemeiner Wert zum 30.6.09 abzgl. 12.000 EUR historische Anschaffungskosten). Auf den Zeitraum bis zum 31.3.99 entfällt pro rata temporis ein nicht steuerbarer Wertzuwachs von rd. 3.959.008 EUR, sodass ein steuerbarer Wertzuwachs von lediglich rd. 2.028.992 EUR vor Anwendung des Teileinkünfteverfahrens verbleibt.

     

    Achtung | Bislang nicht entschieden ist - soweit ersichtlich - die Frage, ob die vorstehend dargestellte Vereinfachungsregelung des BMF zur Bestimmung des steuerbaren Vermögenszuwachses einer wesentlichen Beteiligung ein echtes Wahlrecht für den Steuerpflichtigen eröffnet, oder lediglich subsidiär anzuwenden ist, wenn der gemeine Wert einer Beteiligung auf den 31.3.99 - z.B. aus tatsächlichen Gründen - nicht bestimmt werden kann. Die Regelungen in Tz. C II. 1. c) im BMF-Schreiben vom 20.12.10 legen allerdings den Schluss nahe, dass die tatsächlichen Wertverhältnisse vorrangig zu berücksichtigen sind, daher verbleibt es im Musterfall bei Einkünften i.S.d. § 6 AStG i.V.m. § 17 EStG von 4.000.000 EUR vor Anwendung des Teileinkünfteverfahrens.

     

    ZWISCHENFAZIT | Unter Anwendung des Teileinkünfteverfahrens betragen die steuerpflichtigen Einkünfte i.S.d. § 6 AStG i.V.m. § 17 EStG daher 2.400.000 EUR: Gemeiner Wert der Beteiligung zum 30.6.09 6.000.000 EUR abzüglich 40 % steuerfreier Anteil, verbleiben 3.600.000 EUR. Davon werden 60 % des gemeinen Wertes der Beteiligung zum 31.3.99 in Höhe von 2.000.000 EUR (= 1.200.000 EUR) abgezogen. Somit ergibt sich ein steuerpflichtiger Teil von 2.400.000 EUR. Die Summe der Einkünfte von Max Meier im Veranlagungszeitraum 2009 beträgt insgesamt 2.500.000 EUR (100.000 EUR aus § 21 EStG und 2.400.000 EUR aus § 6 AStG, § 17 EStG).

    3.3 Einbeziehung des Verlustvortrags durch das Finanzamt

    Bis zu dieser Stelle birgt der hier vorliegende Musterfall keine großen Besonderheiten hinsichtlich der festzusetzenden Steuer und der Stundung gemäß § 6 Abs. 5 AStG. Dies ändert sich jedoch grundlegend, wenn der verbleibende Verlustvortrag zur Einkommensteuer auf den 31.12.08 in die weiteren Überlegungen einbezogen wird.

     

    Das zuständige Einkommensteuerfinanzamt vertrat im Musterfall zusammengefasst folgende Rechtsauffassung: § 10d EStG sehe für die Durchführung des Verlustvortrags anders als für den Verlustrücktrag kein Wahlrecht zur Begrenzung der Verlustverrechnung vor. Demnach sei der Abzug des verbleibenden Verlustvortrags zum 31.12.08 in voller Höhe gemäß § 10d Abs. 2 EStG im Veranlagungszeitraum 2009 durchzuführen. Insbesondere sei § 6 Abs. 5 S. 6 AStG nach seinem Wortlaut auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.

     

    Hinweis | § 6 Abs. 5 S. 6 AStG lautet: „Ist im Fall des Satzes 1 oder Satzes 3 der Gesamtbetrag der Einkünfte ohne Einbeziehung des Vermögenszuwachses nach Absatz 1 negativ, ist dieser Vermögenszuwachs bei Anwendung des § 10d EStG nicht zu berücksichtigen.“

     

    Bei einer Anwendung des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG nach dessen Wortlaut ergibt sich, dass die Einkünfte i.S.d. § 6 AStG für Zwecke des § 10d EStG nur dann nicht zu berücksichtigen sind, wenn der Gesamtbetrag der Einkünfte im Wegzugsjahr ohne den Wertzuwachs i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG negativ ist. Im Musterfall beträgt der Gesamtbetrag der Einkünfte i.S.d. § 2 Abs. 3 EStG ohne Einbeziehung des Wertzuwachses gemäß § 6 Abs. 1 AStG 100.000 EUR und ist damit positiv. Der zum 31.12.08 gesondert festgestellte Verlustvortrag (1.000.000 EUR) ist daher im Wegzugsjahr 2009 vom Gesamtbetrag der Einkünfte (2.500.000 EUR) abzuziehen. Dies hat insbesondere für die nachfolgenden Kalenderjahre zur Folge, dass kein Verlustvortrag mehr zur Nutzung vorhanden sei und die Einkünfte der Folgejahre unter Berücksichtigung der Regelungen zur beschränkten Einkommensteuerpflicht zu versteuern sind.

     

    Das zuständige Finanzamt ermittelte daher die festzusetzende Einkommensteuer für den Veranlagungszeitraum 2009, die gemäß § 6 Abs. 5 AStG zu stundenden Beträge und den verbleibenden Verlustvortrag zur Einkommensteuer auf den 31.12.09 wie folgt:

     

    Hinweis | Aus Vereinfachungsgründen wird unterstellt, dass die Summe der Einkünfte abzgl. des Verlustvortrags die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer (zvE) darstellt und darauf ein durchschnittlicher Steuersatz von 40 % zzgl. 5,5 % Solidaritätszuschlag anzuwenden ist):

     

    Steuer-/Stundungsbetrag
    Verlustvortrag
    2009
    2009

    Summe d. Einkünfte

    2.500.000 EUR

    Verlustvortrag 31.12.08

    1.000.000 EUR

    abzgl. Verlustvortrag

    -1.000.000 EUR

    Verlustabzug 2009

    -1.000.000 EUR

    zu versteuerndes Einkommen

    1.500.000 EUR

    Verlustvortrag 31.12.09

    0 EUR

    ESt 40 %

    600.000 EUR

    Vorauszahlungen ab 2010

    SolZ 5,5 %

    33.000 EUR

    Gesamtbetrag/ Stundungsbetrag

    633.000 EUR

    zu versteuerndes Einkommen (§ 21 EStG)

    100.000 EUR

    ESt 40 %

    40.000 EUR

    SolZ 5,5 %

    2.200 EUR

    Gesamtbetrag

    42.200 EUR

    3.4 Der Inlandsfall im Vergleich

    Wäre Max Meier innerhalb Deutschland umgezogen, so wäre ein Verlustabzug gemäß § 10d Abs. 2 EStG mangels Wertzuwachs i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG nur in Höhe des „verbleibenden“ Gesamtbetrags der Einkünfte von 100.000 EUR vorzunehmen und es stünde ein verbleibender Verlustabzug von 900.000 EUR in den Folgejahren zur Verfügung. Zukünftige, beschränkt steuerpflichtige inländische Einkünfte würden bis zur Höhe des verbleibenden Verlustvortrags tatsächlich nicht besteuert. Im Ergebnis liegt somit eine Benachteiligung des Steuerpflichtigen aufgrund seines Wegzugs in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Vergleich zu einem innerstaatlichen Umzug vor.

     

    Fraglich ist, ob die Grundsätze der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Hughes de Lasteyrie du Saillant (EuGH 11.3.04, a.a.O.) auf den Musterfall anwendbar sind. Anders als im Urteilsfall entsteht hier die benachteiligende Steuerbelastung nicht in Form einer Steuerpflicht für ein noch nicht realisiertes Einkommen in Gestalt des Wertzuwachses i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG, sondern für ein Einkommen, welches der Steuerpflichtige in den Folgejahren tatsächlich erzielt und wegen des Verbrauchs des Verlustvortrags aufgrund der Wegzugsbesteuerung auch versteuern muss.

     

    Bei rein wirtschaftlicher Betrachtung tritt die benachteiligende Steuerbelastung lediglich zeitlich verschoben und abhängig von der Höhe der zukünftig im Wegzugsstaat steuerpflichtigen Einkünfte ein. Anhaltspunkte dafür, dass der EuGH bei der Prüfung einer gemeinschaftsrechtswidrigen Benachteiligung im Rahmen der Wegzugsbesteuerung ausschließlich auf die Besteuerung des Wertzuwachses abstellt, ohne weitere, damit im Zusammenhang stehende Nachteile zu berücksichtigen, ergeben sich - auch aus der Entscheidung in der Rechtssache N (EuGH 7.9.06, a.a.O.) - nicht.

     

    Nach der Rechtsprechung des EuGH liegt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV bereits dann vor, wenn Maßnahmen geeignet sind, die Entscheidung des Steuerpflichtigen über einen Wegzug ins EU-Ausland zu beeinträchtigen. Der Abzug des zum 31.12.08 gesondert festgestellten Verlustvortrages von den Einkünften i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG im Wegzugsjahr 2009 führt mittelbar zu einer Steuerbelastung in den Folgejahren. Die Tatsache, dass es im Wegzugsjahr ungewiss ist, ob in den folgenden Veranlagungszeiträumen (beschränkt) steuerpflichtige Einkünfte erzielt werden und es damit tatsächlich zu einer Benachteiligung des weggezogenen Steuerpflichtigen kommt, ändert nichts an der einschränkenden Wirkung des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG i.S.d. EuGH-Rechtsprechung.

     

    Rechtfertigungsgründe für diese unterschiedliche Behandlung, die eine Zulässigkeit dieser einschränkenden Wirkung zu begründen vermögen, sind nicht ersichtlich.

     

    3.5 Europarechtskonforme Auslegung des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG möglich?

    Fraglich ist, ob die Vorschrift so ausgelegt werden kann, dass sie mit dem vorrangigen Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Als Auslegungsmaßstab kommt der Sinn und Zweck der Vorschrift in Betracht, der sich aus der gesetzgeberischen Motivation und der Historie des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG ergeben kann.

     

    Wie eingangs erwähnt, hat der Gesetzgeber § 6 Abs. 5 AStG als Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Hughes de Lasteyrie du Saillant umfassend neu geregelt (BT-DrS. 16/2710 vom 25.9.06). Nach der Gesetzesbegründung soll die Steuer aus den Wertzuwächsen im Sinne des § 6 Abs. 1 AStG erst dann erhoben werden, wenn der Steuerpflichtige tatsächlich einen Veräußerungserlös erzielt. Dieser Intention wird § 6 Abs. 5 AStG in vielen Fällen, insbesondere bei fehlenden Verlustvorträgen, auch gerecht.

     

    Zudem hat der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 6 Abs. 5 S. 6 AStG (BT-DrS. 16/2710 vom 25.9.06, 54) auch die Problematik der Wegzugsbesteuerung in den Fällen erkannt, in denen neben dem Wertzuwachs i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG Verluste aus anderen Einkunftsarten bestehen. § 6 Abs. 5 S. 6 AStG soll daher die Schlechterstellung solcher Steuerpflichtiger im Vergleich zum Inlandsfall vermeiden. Gleichwohl beschränkt sich die Gesetzesbegründung auf die Fälle, in denen der Gesamtbetrag der Einkünfte im Wegzugsjahr ohne den Wertzuwachs i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG negativ ist.

     

    Zu bereits bestehenden Verlustvorträgen gibt es weder eine ausdrückliche gesetzliche Regelung noch Ausführungen in der Gesetzesbegründung. Damit stellt sich die Frage: Ist die Auslegung des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG in dem Sinne, dass der Wertzuwachs für Zwecke des § 10d EStG auch bei bestehenden Verlustvorträgen nicht berücksichtigt werden kann, mit dem gesetzgeberischen Willen vereinbar ist? Einerseits lässt sich auf Grundlage der Gesetzesbegründung annehmen, dass eine Besteuerung erst im Fall der tatsächlichen Realisierung erfolgen soll. Andererseits finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber den Fall bestehender Verlustvorträge bewusst abweichend von einem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte ohne Berücksichtigung des Wertzuwachses i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG im Wegzugsjahr regeln wollte.

     

    Wichtig | Ungeachtet dessen muss aber im Rahmen jeder Auslegung der Wortlaut der gesetzlichen Regelung als äußerste Grenze beachtet werden. Positives Tatbestandsmerkmal des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG ist ein negativer Gesamtbetrag der Einkünfte ohne Berücksichtigung des Wertzuwachses i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG. Eine europarechtskonforme Auslegung der Vorschrift im Musterfall setzt voraus, dass für einen positiven Gesamtbetrag der Einkünfte ohne Berücksichtigung des Wertzuwachses i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG keine Regelung und somit eine Gesetzeslücke vorliegt.

     

    Wenn man eine Anwendung der Vorschrift im Wege der Auslegung auf die Fälle mit bestehenden Verlustvorträgen als von der gesetzgeberischen Intention gedeckt ansieht, so beansprucht dies aufgrund des Wortlauts des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG unseres Erachtens die Grenzen der Auslegung in bedenklicher Weise. Die einschlägige Kommentierung stellt einen negativen Gesamtbetrag der Einkünfte als Tatbestandsvoraussetzung für die Rechtsfolge des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG dar, ohne die Fälle bestehender Verlustvorträge zu problematisieren (Wassermeyer in: Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 6 Rz. 256; Strunk/Kaminski in: Strunk/Kaminski/Köhler, Außensteuergesetz Doppelbesteuerungsabkommen, § 6 AStG Rz. 236; Menck in: Blümich, EStG KStG GewStG, § 6 AStG Rz. 66 für Anwendung bei Verlust und Verlustvorträgen ohne weitere Begründung).

     

    PRAXISHINWEIS | Das FG München hat in einem Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz nach § 69 Abs. 3 FGO ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des § 6 Abs. 5 S. 6 AStG auf Grundlage der vorstehenden Argumente bestätigt (FG München vom 3.6.09, 9 V 1438/09, EFG 09, 1435). Im anschließenden Klageverfahren hat das FG im Sinne des Klägers entschieden, dass § 6 Abs. 5 S. 6 AStG europarechtskonform dahingehend auszulegen ist, dass die Einkünfte i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG für die Ermittlung des Verlustabzugsbetrags nach § 10d EStG insgesamt unberücksichtigt zu lassen sind (FG München vom 14.4.10, 9 K 680/10, EFG 10, 1221). Dabei ist das FG davon ausgegangen, dass die für eine Auslegung der Norm erforderliche Regelungslücke gegeben ist. Das Urteil ist mittlerweile rechtskräftig. Die beim BFH eingelegte Revision wurde zwischenzeitlich nach einem Beschluss des BFH zur Beiladung des BMF zurückgenommen.

     

    3.6 Ergebnis im Musterfall

    Bei der Veranlagung von Max Meier für das Jahr 2009 sind unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG München die Einkünfte i.S.d. § 6 Abs. 1 AStG im Rahmen der Anwendung des § 10d EStG außer Betracht zu lassen, sodass eine Verlustverrechnung lediglich in Höhe der verbleibenden Einkünfte (100.000 EUR aus § 21 EStG) vorzunehmen ist und das danach verbleibende Verlustvortragspotenzial für zukünftige Veranlagungszeiträume zur Verfügung steht. Demzufolge sind keine Vorauszahlungen für den Veranlagungszeitraum 2010 festzusetzen. Auf dieser Grundlage sind die Steuerbescheide wie folgt zu ändern:

     

    Steuer-/Stundungsbetrag
    Verlustvortrag
    2009
    2009

    Summe d. Einkünfte

    2.500.000 EUR

    Verlustvortrag 31.12.08

    1.000.000 EUR

    abzgl. Verlustvortrag

    -1.000.000 EUR

    Verlustabzug 2009

    -100.000 EUR

    zu versteuerndes Einkommen

    1.500.000 EUR

    Verlustvortrag 31.12.09

    900.000 EUR

    Verlustabzug 2010

    -100.000 EUR

    ESt 40 %

    600.000 EUR

    Verlustvortrag 31.12.10

    800.000 EUR

    SolZ 5,5%

    33.000 EUR

    Gesamtbetrag/

    Stundungsbetrag

    633.000 EUR

    Vorauszahlungen ab 2010

    Summe d. Einkünfte (§ 21 EStG)

    100.000 EUR

    Verlustabzug

    -100.000 EUR

    zu verst. Einkommen

    0 EUR

     

    Zu beachten ist jedoch, dass es z.B. im Falle einer zukünftigen tatsächlichen Veräußerung der Beteiligung an der GmbH in entsprechender Anwendung des § 6 Abs. 5 S. 7 EStG zu einer „rückwirkenden“ Anwendung des § 10d EStG im Wegzugsjahr und einer entsprechenden Änderung der Steuerbescheide kommen dürfte.

     

    FAZIT | Für die Behandlung von Verlustvorträgen im Zusammenhang mit der Wegzugsbesteuerung i.S.d. § 6 AStG fehlt es an einer klaren gesetzlichen Grundlage. Den durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelten Vorgaben für eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Wegzugsbesteuerung kann die derzeit bestehende Regelung in § 6 Abs. 5 AStG allenfalls unter Zuhilfenahme einer äußerst weitreichenden Auslegung gerecht werden. Aufgrund der dargestellten Bedenken gegen eine solche Auslegung ist ein Verstoß gegen vorrangiges Gemeinschaftsrecht keinesfalls ausgeschlossen. Für den Rechtsanwender ist eine klarstellende Änderung des Gesetzeswortlauts nicht nur wünschenswert, sondern erforderlich, um außergerichtliche und gerichtliche Verfahren zu vermeiden.

    Weiterführende Hinweise

    • Zu den Autoren | RA StB Lothar Siemers ist Partner bei PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Düsseldorf; RA StB Dipl.-Finanzwirt (FH) Philipp Claussen ist Mitarbeiter bei PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Düsseldorf.
    • Zur Wegzugsbesteuerung bei Kapitalgesellschaften: Rechtssache National Grid Indus BV - Wohin führt der Weg der Entstrickungsbesteuerung? s. Kessler, Philipp, Eicke, PIStB 12, 67
    Quelle: Ausgabe 01 / 2013 | Seite 13 | ID 36628990