· Fachbeitrag · Qualifikationskonflikte
Umschaltklausel in § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG auch auf negative Einkünfte anwendbar
von StB Dr. Tobias Hagemann, M.Sc., LL.M., Frankfurt (Oder)
| In § 50d EStG hat der Gesetzgeber einen Katalog sog. Treaty-Override-Vorschriften normiert, mithilfe derer Missbrauch oder eine Keinmalbesteuerung bekämpft oder schlicht das deutsche Steuersubstrat erhöht werden soll. Das FG München hat nun die im Schrifttum weit verbreitete Auffassung bestätigt, wonach über § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG auch negative Einkünfte im Inland berücksichtigt werden können (FG München 3.6.16, 1 K 848/13, EFG 17, 304, Revision unter I R 52/16). |
1. Sachverhalt
Ein Rechtsanwalt erzielte Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit (§ 18 EStG). Streitig war (u. a.) die Berücksichtigung von Aufwendungen, die im Zusammenhang mit dem Vorhalt eines Büros des Rechtsanwalts in Brüssel entstanden sind. Der Rechtsanwalt beantragte eine verbindliche Auskunft, ob das Brüsseler Büro zu in Deutschland abziehbaren Betriebsausgaben führe. Das Finanzamt vertrat die Ansicht, dass das Besteuerungsrecht bei Belgien liege, weil eine feste Einrichtung entstehe. Der Rechtsanwalt machte die Betriebsausgaben dennoch geltend.
Das Büro wurde Anfang 1991 eröffnet und verfügte über einen Eingangsbereich mit Theke und Besucherecke (20 m²), hinter der Theke befand sich ein Raum für Kopierer, Fax, Drucker, Versand und Akten (7 m²), daneben gab es einen großen Büroraum mit Schreibtisch und Besprechungstisch für sechs Personen (28 m²) sowie ein kleines Anwaltszimmer mit Schreibtisch und Besucherstühlen (11 m²). Zunächst war in dem Büro lediglich eine Teilzeitsekretärin beschäftigt, die in geringem Umfang Verwaltungstätigkeiten erledigte.
Ab 1.10.92 war ein Rechtsanwalt im Büro präsent und bis 31.12.94 dort tätig, dessen Tätigkeit neben der Repräsentation in geringfügigem Umfang auch die rechtliche Beratung von Mandanten war. Im Anschluss wurde ein ehemaliger Abteilungsdirektor der EU-Kommission als freier Mitarbeiter beschäftigt. Es wurde vereinbart, dass die Anwaltstätigkeit i. S. d. BRAO ausschließlich im Rahmen der Kanzlei auszuüben sei und alle Mandate als Mandate der Kanzlei gelten. Die in diesem Zusammenhang abgerechneten Honorare beziehen sich auf einen „anzurechnenden Grundbetrag“ im Zusammenhang mit Mandaten, die der freie Mitarbeiter für die Kanzlei bearbeitet hat.
Diese Tätigkeit endete in 2004. Die Verluste aus dem Brüsseler Büro machte der Rechtsanwalt als Betriebsausgaben geltend und legte zwei Erklärungen der belgischen Finanzverwaltung vor. Danach wurde die Kanzlei im Hinblick auf das DBA-Belgien als nicht ansässig qualifiziert. Sie sei von 1990 bis 2006 als nicht ansässiges Unternehmen nicht steuerpflichtig und hinsichtlich des Einkommens 1991 bis 2007 nicht einkommensteuerpflichtig gewesen. Ein Vortrag von Verlusten könne somit nicht eingeräumt werden.
2. Entscheidungsgründe
Die Klage des Rechtsanwalts war begründet, soweit die Anerkennung des Aufwands für den Betrieb des Brüsseler Büros begehrt wurde. Die negativen Einkünfte sind nach Auffassung des FG München gemäß § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG im Inland zu berücksichtigen.
Nach Auffassung des FA und des FG hat der Rechtsanwalt durch den Betrieb des Büros in Brüssel Einkünfte aus einer „festen Einrichtung“ erzielt, für die gemäß Art. 14 Abs. 1 DBA-Belgien Belgien das Besteuerungsrecht zustehe. Die erforderlichen Voraussetzungen seien bei dem als vollwertige Kanzlei eingerichteten Büro des Rechtsanwalts erfüllt.
MERKE | Der Begriff der festen Einrichtung wird zwar im DBA-Belgien ‒ anders als der Begriff der Betriebsstätte ‒ nicht umfassend geregelt. Dennoch sei nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 OECD-MA auf das innerstaatliche Recht zurückzugreifen, sondern der Begriff wird abkommensautonom ausgelegt. Nach der Rechtsprechung des BFH entspreche der Begriff der festen Einrichtung im Wesentlichen dem Begriff der Betriebsstätte. |
Dementgegen haben die belgischen Behörden die Kanzlei nicht als feste Einrichtung qualifiziert. Die unterschiedlichen Auffassungen der belgischen Finanzbehörden und des FG zur Auslegung des DBA-Belgien führen zu einem negativen Qualifikationskonflikt und damit zu einer doppelten Nichtberücksichtigung der Verluste. Das FG wendet darauf § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG an, der die Freistellung von Einkünften im Fall eines Qualifikationskonflikts ungeachtet eines DBA nicht gewährt, und berücksichtigt die negativen Einkünfte aus dem Brüsseler Büro im Inland.
Beachten Sie | Die Vorschrift ist zwar erst mit dem JStG 2007 eingeführt worden, sie findet jedoch auch auf den Streitfall Anwendung. § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG ist gemäß § 52 Abs. 59a S. 6 EStG a. F. mit Rückwirkung für alle Veranlagungszeiträume anzuwenden, für die die Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt wurde. Eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung liege hierbei nicht vor, weil sich § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG für den Streitfall ausschließlich begünstigend auswirke und gegen die Rückwirkung begünstigender Steuergesetze keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestünden.
3. Praxishinweise
Das Urteil stellt soweit ersichtlich die erstmalige Entscheidung eines FG zur Anwendbarkeit des § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG auch auf negative Einkünfte dar. Die Auffassung, der Wortlaut der Vorschrift erfasse „Einkünfte“ im Allgemeinen und daher sowohl positive als auch negative, entspricht auch der im Schrifttum überwiegenden Meinung (Cloer/Hagemann, in: Bordewin/Brandt, EStG, § 50d Rn. 322 m. w. N.). Zwar ließe sich dieser Auffassung entgegenhalten, das § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG vorrangig auf die Beseitigung einer Minderbesteuerung abzielt und somit steuererhöhend wirkt. Das ergibt sich z. B. daraus, dass nur negative Qualifikationskonflikte, nicht aber positive ‒ also i. d. R. Doppelbesteuerung herbeiführende ‒ Qualifikationskonflikte erfasst werden. Gleichwohl spricht aber neben dem offenen Wortlaut insbesondere die Gesetzesbegründung für ein derartiges Verständnis, weil dort offenbar von einer Anwendung des § 50d Abs. 9 EStG auch auf Verluste ausgegangen wurde (BT-Drucks. 16/2712, 61 f.).
Schließlich ist auch nach unionsrechtskonformer Auslegung von einer Anwendung des § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG auf negative Einkünfte auszugehen, weil es ein anerkannter Grundsatz des Unionsrechts ist, positive und negative Einkünfte gleich zu behandeln (sog. Symmetriethese, vgl. auch Oellerich, in: Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Rn. 8.99).
MERKE | Kommt es zu einer doppelten Freistellung von negativen Einkünften, kann dies im Ergebnis einer Doppelbesteuerung entsprechen. Zur Vermeidung einer solchen sind sämtliche Möglichkeiten zu prüfen, die das inländische Besteuerungsrecht wieder aufleben lassen. Von großer Bedeutung ist diese Prüfung insbesondere dann, wenn die Abkommensanwendung in Deutschland sich vom internationalen Standard unterscheidet, z. B. bei der Freistellung vergeblicher Gründungskosten für eine Betriebsstätte (dazu Hagemann, BB 15, 226 f.). |
Im Revisionsverfahren vor dem BFH (I R 52/16) darf mit Spannung erwartet werden, ob sich der BFH zum Ausnahmetatbestand für Hilfstätigkeiten bei der „festen Einrichtung“ äußert. Im Ergebnis dürfte hier aber dem FG zuzustimmen sein, dass ohnehin keine Hilfstätigkeit vorliegt. Denn eine Hilfstätigkeit liegt nur dann vor, wenn sich die ausgeübte Tätigkeit von der Haupttätigkeit unterscheidet (Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 5 OECD-MA Rn. 178). Dies dürfte jedenfalls für den (überwiegenden) Zeitraum, in dem ein Rechtsanwalt im Brüsseler Büro tätig war, zu verneinen sein.
Nicht nachgehen musste das FG dem Begehren des Rechtsanwalts, hilfsweise die Berücksichtigung der Betriebsausgaben als sog. „finale Verluste“ zuzulassen. Das FG bejahte den Wechsel von der Freistellung zur Anrechnung über § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG, weshalb keine freigestellten ‒ ggf. finalen ‒ Betriebsstättenverluste mehr gegeben sein konnten. Der BFH wird jedoch die Anwendung des § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG ggf. kritisch überprüfen. Dem Urteil ließe sich nämlich durchaus entnehmen, dass Belgien bereits nach nationalem Recht nicht besteuert hätte. Für die Anwendung des § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG muss hingegen die Abkommensanwendung Ursache für die Minderbesteuerung sein (BFH 24.8.11, I R 46/10, BStBl II 14, 764). Somit könnte der Finalitätsfrage durchaus wieder Bedeutung zukommen.
PRAXISHINWEIS | Der I. Senat des BFH scheint jüngst ‒ dem EuGH folgend (EuGH 17.12.15, C-388/14, Timac Agro, IStR 16, 74) ‒ die sog. Finalitätsrechtsprechung aufgegeben zu haben, weshalb insoweit keine Aussicht auf Berücksichtigung der Betriebsausgaben bestehen dürfte (BFH 22.2.17, I R 2/15, s. ausführlich Kahlenberg, PIStB 17, 243). |