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· Fachbeitrag · Mietrecht

Eigenbedarfskündigung: Im Härtefall ist einGutachten zum Gesundheitszustand erforderlich

von RiOLG a. D. Günther Geldmacher, Düsseldorf

| Gerade ältere Mieter kann eine Eigenbedarfskündigung hart treffen. Machen sie Härtegründe aus gesundheitlichen Gründen geltend, stellt sich für den Tatrichter die Frage, ob er sich insoweit auf eine Zeugenvernehmung beschränken darf. Nein, sagt der BGH, und klärt, warum ein Sachverständigengutachten einzuholen ist. |

 

Sachverhalt

Die Beklagten (Eheleute) widersprachen der Eigenbedarfskündigung des Vermieters und machten Härtegründe geltend. Sie legten mit der Klageerwiderung zahlreiche Atteste über ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie amtliche Bescheinigungen über einen Behinderungsgrad vor. Danach sei dem Beklagten (Ehemann) ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar. Er ist seit 2014 in ambulanter nervenärztlicher Behandlung und laut Attest aufgrund seiner multiplen Erkrankungen in seiner Belastbarkeit erheblich beschränkt. Insbesondere aufgrund einer stark reduzierten kognitiven Anpassungsmöglichkeit könne er sich an Veränderungen in seinem unmittelbaren Lebensumfeld schwer gewöhnen. Eine Veränderung der Wohnsituation hätte eine Verschlimmerung der Anpassungsminderung zur Folge.

 

Das AG gab der Klage nach Zeugenbeweis ohne Räumungsfrist statt. Zweitinstanzlich haben die Beklagten ein Attest des behandelnden Neurologen vorgelegt. Darin wird dem Beklagten ein demenzielles Syndrom mit organischer Hirnstörung und Verhaltensstörung bescheinigt, aufgrund dessen er in seiner Anpassungsbreite massiv beeinträchtigt sei, Änderungen seiner Umgebung nicht mehr adäquat verarbeiten könne und darauf mit Ratlosigkeit reagiere. In fremder Umgebung infolge eines Wohnortwechsels würde sich die Symptomatik verschlechtern. Das LG verfuhr nach § 522 Abs. 2 ZPO. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs Erfolg.

 

Beruft sich der Mieter im Räumungsprozess darauf, die Beendigung des Mietverhältnisses stelle für ihn eine unzumutbare Härte dar (§ 574 Abs. 1 S. 1 BGB) und trägt er zu seinen diesbezüglich geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen substanziiert sowie unter Vorlage aussagekräftiger fachärztlicher Atteste vor, verstößt die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens zum Gesundheitszustand des Mieters sowie zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen seiner ‒ behaupteten ‒ Erkrankungen auf die Lebensführung im Allgemeinen und im Fall des Verlusts der vertrauten Umgebung regelmäßig gegen das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG; im Anschluss an Senatsurteile vom 22.5.19, VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133, Rn. 31, 44 und VIII ZR 167/17, NJW-RR 19, 972 Rn. 38).

(Abruf-Nr. 216453)

 

Entscheidungsgründe

Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen sowie erhebliche Beweisanträge zu berücksichtigen. Deren Nichtberücksichtigung verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet.

 

So liegen die Dinge hier: Das Berufungsgericht durfte das Vorliegen einer Härte (§ 574 Abs. 1 S. 1 BGB) nicht verneinen, ohne den (angebotenen) Sachverständigenbeweis zu erheben. Macht der Mieter im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels substanziiert, unter Vorlage von aussagekräftigen Attests des Facharztes, ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, müssen die Tatsacheninstanzen regelmäßig sachverständige Hilfe einholen. Sie müssen sich ein genaues, nicht nur oberflächliches Bild davon verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen mit einem Umzug verbunden sind. Diese Pflicht zum besonders sorgfältigen Prüfen des Parteivorbringens bei schwerwiegenden Eingriffen in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folgt schon aus der grundrechtlichen Verbürgung in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (BGH 22.5.19, VIII ZR 180/18, a. a. O. Rn. 41; VIII ZR 167/17, NJW-RR 19, 972).

 

Relevanz für die Praxis

Im Eigenbedarfsprozess sollten Sie Härtegründe (§ 574 Abs. 1 BGB) konkret vortragen und gesundheitliche Beeinträchtigungen möglichst durch aussagekräftige Arztatteste belegen. Denn der Tatrichter muss diese gründlich prüfen, ebenso wie die berechtigten Interessen des Vermieters, und diese beiderseitigen Belange würdigen und gewichten.

 

Als mögliche Härtegründe nennt der BGH unter Hinweis auf BGHZ 222, 133:

  • leichtere Erkrankungen i. V. m. weiteren Umständen (Alter, durch eine lange Mietdauer geprägte Verwurzelung im bisherigen Lebensumfeld) und
  • einen gesundheitlichen Zustand, der für sich genommen einen Umzug nicht zulässt oder schließlich die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters im Falle eines Wohnungswechsels darstellt.

 

Beachten Sie | Sind die Härtegründe bestritten, ist ‒ auf Antrag des Mieters oder von Amts wegen (§ 144 ZPO) ‒ ein Sachverständigengutachten einzuholen über Art, Umfang und konkrete Auswirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung. Hierbei ist auch die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen zu klären.

 

PRAXISTIPP | Da dem Tatrichter eigene Sachkunde oft fehlen wird, versetzt ihn erst das Sachverständigengutachten in die Lage, die Konsequenzen des Umzugs für den Mieter im Rahmen der notwendigen Abwägung sachgerecht zu gewichten. Kommt er dem nicht nach, verstößt er gegen das Gebot rechtlichen Gehörs und schafft die Grundlage für eine erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde. Zeichnet sich ‒ wie hier ‒ ab, dass das Gericht ohne Gutachten entscheiden will, sollten Sie als Mieteranwalt auf dessen Notwendigkeit eindringlich hinweisen.

 
Quelle: Ausgabe 11 / 2020 | Seite 185 | ID 46923500