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· Fachbeitrag · Härtefallregelung

Einholung eines Sachverständigengutachtens ist bei Bestreiten des Vermieters obligatorisch

von RiOLG a. D. Günther Geldmacher, Düsseldorf

| Haben sich Senioren einmal für eine altersgerechte Mietwohnung entschieden, führt dies oft zu langjährigen Mietverhältnissen. So kann es vorkommen, dass gerade älteren Mietern nach vielen Jahren wegen Eigenbedarfs gekündigt wird. Dann stellt sich die Frage: Kann der Senior der Kündigung unter den Voraussetzungen des § 574 Abs. 1 BGB widersprechen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen? Was muss er zur Substanziierung seines Härtefalls vortragen und darf das Gericht ohne Sachverständigengutachten entscheiden? Mit diesen Fragen hat sich jetzt der BGH befasst. |

Sachverhalt

Der Kläger ist Eigentümer der 1986 an den Beklagten vermieteten Wohnung. Mit Anwaltsschreiben vom 29.9.16 erklärte der Kläger die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses zum 30.6.17 wegen Eigenbedarfs für seine Tochter. Diese wolle dort nach dem Abitur einen eigenen Hausstand begründen. Der im Jahr 1949 geborene Beklagte widersprach der Kündigung und berief sich auf das Vorliegen von Härtegründen.

 

Die Räumungs- und Herausgabeklage scheitert in den Instanzen. Das LG hat die Berufung zwar auch zurückgewiesen, anders als das AG aber die Eigenbedarfskündigung des Klägers durchgreifen lassen. Es hat jedoch auf den Härteeinwand des Beklagten angeordnet, dass das zwischen den Parteien bestehende Mietverhältnis zu den bisherigen Vertragsbedingungen auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird.

 

  • 1. Auch wenn ein Mieter seine Behauptung, ihm sei ein Umzug wegen einer bestehenden Erkrankung nicht zuzumuten, unter Vorlage bestätigender ärztlicher Atteste geltend macht, ist im Falle des Bestreitens dieses Vortrags regelmäßig die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich.
  • 2. An der für die Anschlussrevision erforderlichen Beschwer des Anschlussrevisionsklägers fehlt es, wenn das Berufungsgericht von der Wirksamkeit einer diesem gegenüber ausgesprochenen Kündigung (hier: wegen Eigenbedarfs) ausgegangen ist und dessen Klageabweisungsbegehren allein deshalb entsprochen hat, weil es eine Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit zu den bisherigen Vertragsbedingungen nach §§ 574, 574a BGB bestimmt hat.
 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat Erfolg. Die Anschlussrevision des Beklagten wird als unzulässig verworfen.

 

Begründung der Kündigung

Das Kündigungsschreiben genügt den (formellen) Anforderungen des § 573 Abs. 3 BGB.

 

Der Zweck des Begründungserfordernisses besteht darin, dem Mieter zum frühestmöglichen Zeitpunkt Klarheit über seine Rechtsposition zu verschaffen und ihn dadurch in die Lage zu versetzen, rechtzeitig alles Erforderliche zur Wahrung seiner Interessen zu veranlassen. Dem wird im Allgemeinen Genüge getan, wenn das Kündigungsschreiben ‒ wie hier ‒ den Kündigungsgrund so bezeichnet, dass er identifiziert und von anderen Gründen unterschieden werden kann (Nachweise Urteilsgründe Tz. 14). Eine solche Konkretisierung ermöglicht es dem Mieter, der die Kündigung nicht hinnehmen will, seine Verteidigung auf den angegebenen Kündigungsgrund auszurichten, dessen Auswechselung dem Vermieter durch das Begründungserfordernis gerade verwehrt werden soll.

 

Das LG hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Eigenbedarfswunsch des Klägers von vernünftigen und nachvollziehbaren Gründen getragen ist und den Kündigungstatbestand des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB erfüllt.

 

Sachverständigengutachten erforderlich

Das Berufungsgericht durfte sich aber nicht allein aufgrund der vom Beklagten vorgelegten Atteste die Überzeugung bilden, die Beendigung des Mietverhältnisses bedeute für ihn aufgrund seines gesundheitlichen Zustands eine Härte, welche auch unter Würdigung der Vermieterinteressen nicht zu rechtfertigen sei.

 

MERKE | Vielmehr hätte es der Einholung eines ‒ von beiden Parteien wiederholt als Beweismittel angebotenen ‒ Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der vom Beklagten behaupteten Erkrankung auf dessen Lebensführung im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung bedurft.

 

Relevanz für die Praxis

Der BGH knüpft an seine Entscheidung MK 19, 132 an und bestätigt, dass das Gericht sich i. d. R. kein genaues Bild davon verschaffen kann, welche konkreten gesundheitlichen Folgen für den Mieter mit einem Umzug verbunden sind, wenn es hierzu kein Sachverständigengutachten einholt.

 

Vor allem darf das Gericht bei der Härtefallprüfung ein ärztliches Attest des Mieters nicht ungeprüft seiner Interessenabwägung zugrunde legen, wenn der Vermieter die attestierten Gesundheitsbeeinträchtigungen zulässig bestreitet.

 

MERKE | Der Mieter, der geltend macht, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zumutbar, genügt seiner Substanziierungslast als medizinischer Laie, wenn er ein ausführliches fachärztliches Attest vorlegt. Ebenso darf sich der Vermieter darauf beschränken, Art und Ausmaß der behaupteten Erkrankungen sowie die feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Folgen eines erzwungenen Wohnungswechsels, die nicht Gegenstand seiner eigenen Wahrnehmung gewesen sind, nach § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen zu bestreiten.

 

Die Pflicht, ein Gutachten einzuholen, ist zwingend und besteht von Amts wegen (§ 144 ZPO), wenn ‒ anders als hier ‒ keine Partei einen entsprechenden Beweisantrag gestellt hat. Gutachterlich zu klären ist vor allem die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der infolge des erzwungenen Wohnungswechsels zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen. Versäumnisse des Gerichts in diesem Punkt bieten hinreichende Erfolgsaussicht für ein Rechtsmittel.

 

Der BGH bemängelt zu Recht, dass das Berufungsgericht eine unbefristete Fortsetzung des Mietverhältnisses angeordnet hat. Nach den in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommenen Vorstellungen soll im Regelfall die Fortsetzung des Mietverhältnisses nur auf bestimmte Zeit erfolgen. Den Gerichten steht also ein ‒ rechtsfehlerfrei auszuübendes ‒ Ermessen zu. Hieran fehlte es im Streitfall.

 

Beachten Sie | Die Entscheidung ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil sie die in der Senatsrechtsprechung entwickelten Prüfkriterien für eine formell und materiell berechtigte Eigenbedarfskündigung zusammenfassend darstellt (Urteilsgründe Tz. 13 bis 22).

 

Mit der Angabe, seine Tochter wolle in der Wohnung einen eigenen Hausstand begründen, hat der Kläger die Begründungsanforderungen des § 573 Abs. 3 BGB erfüllt. Mit den erst im weiteren Verlauf konkretisierten Überlegungen der Tochter, die Wohnung zusammen mit einem Freund oder anderen Personen in Form einer Wohngemeinschaft nutzen zu wollen, hat der Kläger aus Sicht des BGH nicht die Eigenbedarfsbegründung unzulässig ausgetauscht, sondern es handelt sich hierbei um die Angabe zusätzlicher Tatsachen, die der näheren Erläuterung, Ergänzung und Ausfüllung des geltend gemachten Kündigungsgrunds dienen und als solche grundsätzlich auch noch im Prozess nachgeschoben werden können.

 

PRAXISTIPP | Der Revisionsbeklagte kann sich dem Rechtsmittel des Gegners nur anschließen, wenn und soweit ihn das Berufungsurteil beschwert, das Urteil also zu seinen Gunsten abgeändert werden kann. Unzulässig ist hierbei ein Antrag, der dem bereits in der Vorinstanz zuerkannten Klageantrag entspricht. Das LG hat ‒ mit anderer rechtlicher Begründung, doch im Ergebnis dem AG folgend ‒ das Mietverhältnis als fortbestehend angesehen und nur die vom AG ausgesprochene Klageabweisung bestätigt. Selbst wenn das LG rechtsfehlerhaft angenommen hätte, die Eigenbedarfskündigung sei wirksam, könnte der Beklagte daher keine Abänderung des Berufungsurteils erreichen.

 
Quelle: Ausgabe 09 / 2021 | Seite 148 | ID 47574085