Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww

· Fachbeitrag · Arbeitsvertrag

Diskriminierung durch automatisches Ende des Arbeitsverhältnisses mit 60 Jahren?

von RA Christian Deutz, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Aachen

| Endet ein Arbeitsverhältnis automatisch mit Ablauf des 60. Lebensjahres, muss darin nicht in jedem Fall eine Diskriminierung wegen des Alters liegen. Entscheidend ist der Einzelfall. Das ist die Kernaussage des EuGH zu dieser Thematik. |

1. Die gesetzlichen Vorgaben

Die Richtlinie 2000/78/EG des Rats vom 27.11.00 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf („RL“) regelt im Hinblick auf den unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, dass es keine Diskriminierung etwa wegen des Alters geben darf (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 der RL). Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person etwa wegen des Alters in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde (Art. 2 Abs. 2a der RL).

 

Gemäß Art. 2 Abs. 5 der RL berührt diese nicht die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.

 

Schließlich regelt Art. 4 Abs. 1 der RL, dass ungeachtet der vorgenannten Regelungen die Mitgliedsstaaten vorsehen können, dass eine Ungleichbehandlung etwa wegen des Alters keine Diskriminierung darstellt. Voraussetzung ist, dass das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.

 

Die Verordnung Nr. 1178/2011 der Kommission vom 3.11.11 zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt („VO“) regelt im Anhang I, FCL.065 u. a., dass ein Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, nicht als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig sein darf.

2. Der Fall vor dem EuGH

Der EuGH hatte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des italienischen Kassationsgerichtshofs mit der Frage zu beschäftigen, ob eine nationale Regelung, die insbesondere die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Erreichen des Alters von 60 Jahren vorsieht, der o. g. VO zuwider läuft, soweit diese die Altersgrenze für die Beschäftigung von Piloten im gewerblichen Luftverkehr auf 65 Jahre festlegt, und diese VO auf den vorliegenden Fall überhaupt Anwendung findet. Hilfsweise sollte der EuGH entscheiden, ob ‒ sofern die VO auf den Fall sachlich (zeitlich) nicht anwendbar ist ‒ die vorstehend genannte nationale Regelung gegen das Diskriminierungsverbot wegen des Alters im Sinne der RL verstößt.

 

Hintergrund des Verfahrens in Italien war der Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber über die automatische Beendigung seines Arbeitsverhältnisses aufgrund der Tatsache, dass er das 60. Lebensjahr vollendet hat. Der Arbeitnehmer war Pilot. Der Arbeitgeber ist eine Fluggesellschaft, die für die Geheimdienste des italienischen Staats vertrauliche Tätigkeiten zum Schutz der nationalen Sicherheit ausübt. Der Arbeitgeber teilte dem Arbeitnehmer mit, dass sein Arbeitsvertrag im September 2012 automatisch endet, da er zu diesem Zeitpunkt das 60. Lebensjahr vollendet.

 

Der Arbeitnehmer will festgestellt haben, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtswidrig war. Erst- und zweitinstanzlich unterlag er. Hiergegen hat er Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht eingelegt.

 

Nach dessen Auffassung sind die vom Arbeitgeber verwendeten Luftfahrzeuge nach nationalem Recht den Luftfahrzeugen des Staats gleichzustellen. Folge wäre, dass auch der Kläger nationalen Sonderbestimmungen unterlag, die u. a. die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Vollendung des 60. Lebensjahres vorsahen.

 

Das vorlegende Gericht hatte Zweifel, ob die VO auf einen Piloten von Luftfahrzeugen anwendbar ist, der bei einem Unternehmen wie dem beklagten Arbeitgeber beschäftigt ist, dessen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Schutz der nationalen Sicherheit stehen und, wenn ja, wie diese Vorschriften und die RL auszulegen sind.

3. So entschied der EuGH die Vorlagefragen

Der EuGH hat im Rahmen seines Urteils vom 7.11.19, C‒396/18, Abruf-Nr. 214745, entschieden, dass

 

  • Art. 2 Abs. 5 der RL dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der hier streitgegenständlichen nicht entgegensteht, die vorsieht, dass das Arbeitsverhältnis von Piloten, die bei einem Unternehmen beschäftigt sind, das Luftfahrzeuge für Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Schutz der nationalen Sicherheit eines Mitgliedsstaats betreibt, mit Vollendung des 60. Lebensjahres automatisch endet, sofern diese Regelung für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit im Sinne dieser Bestimmung erforderlich ist. Das zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts;

 

  • Art. 4 Abs. 1 der RL dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der zuvor genannten nicht entgegensteht, sofern diese Regelung angemessen im Sinne dieser Bestimmung ist. Das müsse das vorlegende Gericht prüfen.

 

Die VO Nr. 1178/2011 war auf den Ausgangsrechtsstreit zeitlich (noch) nicht anwendbar. Aus diesem Grund musste der EuGH die erste Vorabentscheidungsfrage des vorlegenden Gerichts nicht beantworten.

 

Bezogen auf die zweite Frage hat der EuGH zunächst festgestellt, dass durch die in Rede stehende nationale Regelung eine Ungleichbehandlung wegen des Alters vorliegt. Vor diesem Hintergrund hat der EuGH die RL, Art. 2 Abs. 5 und Art. 4 Abs. 1, ausgelegt.

 

Der EuGH hat festgestellt, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers in bestimmten, in der RL aufgeführten Fällen die dort aufgestellten Grundsätze für Maßnahmen, die Ungleichbehandlungen wegen des Alters enthalten, nicht gelten, vorausgesetzt allerdings, dass diese Maßnahmen zum Erreichen definierter Ziele (z. B. Flugsicherheit und Schutz der nationalen Sicherheit) notwendig sind.

 

Insofern sind in eng umrissenen Grenzen Abweichungen vom Grundsatz des Verbots von entsprechenden Diskriminierungen möglich.

 

Weiter hat der EuGH festgestellt, dass die streitgegenständliche nationale Regelung Ziele verfolgt, die sich auf die öffentliche Sicherheit beziehen, konkret nämlich die Flugsicherheit und die nationale Sicherheit.

 

Nach Auffassung des EuGH ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit „notwendig“ ist. Dabei hat der EuGH ausgeführt, dass die im konkreten Fall vom beklagten Arbeitgeber betriebenen Flüge zur Durchführung von Einsätzen im Zusammenhang mit dem Schutz der nationalen Sicherheit im Allgemeinen größere Gefahren hervorrufen als der gewerbliche Luftverkehr.

 

Insoweit ist der EuGH zu dem Ergebnis gelangt, dass nicht allgemein davon ausgegangen werden kann, dass die Altersgrenze für die Durchführung von Flügen wie die hier streitgegenständlichen grundsätzlich dem im Bereich des gewerblichen Luftverkehrs zugrunde gelegten Alter von 65 Jahren entsprechen muss. Insofern ist es Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob die streitgegenständliche nationale Regelung in Ansehung der vorstehenden Ausführungen für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit notwendig bzw. erforderlich ist.

 

Im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der RL hat der EuGH darauf hingewiesen, dass für die Ausübung des Berufs des Verkehrspiloten das Vorhandensein besonderer körperlicher Fähigkeiten als eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ angesehen werden kann und dass diese Fähigkeiten altersabhängig sind. Insofern muss nach Ansicht des EuGH geprüft werden, ob die von der nationalen Regelung gestellte Anforderung, die die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses der beim Arbeitgeber beschäftigten Piloten mit Vollendung des 60. Lebensjahres vorsieht, unter Berücksichtigung der besonderen Art der Tätigkeit und der körperlichen Anforderungen „angemessen“ ist.

 

Dies zu prüfen wiederum ist nach Auffassung des EuGH aber Sache des vorlegenden Gerichts. Vor diesem Hintergrund hat der EuGH die zweite Frage wie eingangs dargelegt beantwortet.

4. Fazit und Hinweise für die Praxis

Im Ergebnis steht nach Auffassung des EuGH der unionsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz einer nationalen Regelung, wonach das Arbeitsverhältnis von Piloten mit Vollendung des 60. Lebensjahres automatisch endet, nicht grundsätzlich entgegen.

 

Der EuGH hat klargestellt, dass die Frage, ob eine unionsrechtswidrige Diskriminierung vorliegt, zunächst von den mit der Regelung verfolgten Zielen abhängt. Ob die genannte nationale Regelung angemessen und erforderlich ist, hat der EuGH aber im konkreten Fall ausdrücklich offengelassen. Das muss nun das vorlegende Gericht prüfen.

 

Der EuGH hat aber klargestellt, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters in jedem Fall nur in sehr engen Grenzen möglich ist.

 

Das Urteil des EuGH hat die Besonderheiten des konkreten Einzelfalls berücksichtigt. Die dort aufgestellten Grundsätze können daher nicht verallgemeinert werden.

 

Zudem hat der EuGH die Frage nicht beantworten müssen, ob die streitgegenständliche nationale Regelung auch mit der VO Nr. 1178/2011 vereinbar ist. Diese war vorliegend in zeitlicher Hinsicht nicht anzuwenden. Nach dieser VO dürfen Piloten erst ab Erreichen eines Alters von 65 Jahren nicht mehr als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig sein.

 

In Deutschland ist die RL 2000/78/EG durch das AGG umgesetzt worden. Bezüglich des Themas „Alter“ finden sich entsprechende Regelungen insbesondere in § 10 AGG. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters ‒ ungeachtet des § 8 AGG ‒ auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel, mit denen das Ziel erreicht werden soll, müssen angemessen und erforderlich sein. § 10 S. 3 AGG beinhaltet Beispiele für sachliche Rechtfertigungsgründe.

 

In der arbeitsrechtlichen Praxis zeigen sich potenzielle Altersdiskriminierungen etwa in den Bereichen Stellenausschreibungen, Entlassungen, Umfang des Urlaubsanspruchs und Kündigungsfristen. Derartige Regelungen können auf Gesetz, Tarifvertrag oder Arbeitsvertrag beruhen.

 

Insbesondere zu der Frage, wann eine verbotene Benachteiligung wegen des Alters vorliegt, die nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist, gab es in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Gerichtsentscheidungen. Die Rechtsentwicklung ist hier mitnichten abgeschlossen; zahlreiche Fragen sind nach wie vor offen.

Quelle: Ausgabe 04 / 2020 | Seite 64 | ID 46400996