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· Fachbeitrag · Kündigungsschutz

Schwerbehinderte Mandanten richtig vertreten

von Rechtsanwaltsfachangestellter Christian Noe B.A., Leipzig

| Viele ältere Mandanten sind als schwerbehinderte Menschen anerkannt. Dieser Personenkreis profitiert von einem besonderen Kündigungsschutz (§§ 85 ff. SGB IX) bei arbeitgeberseitigen Kündigungen. Der folgende Beitrag stellt in vier Schritten die aktuelle Rechtsprechung zusammen und erklärt, worauf Sie achten müssen und welche Fristen gelten. |

1. Aktuelle Rechtsprechung

  • Das Integrationsamt (Zustimmungsentscheidung wegen einer betriebsbedingten Kündigung, Stilllegung von Unternehmensteilen) darf sich nicht mit der Feststellung begnügen, dass der Name des schwerbehinderten Menschen in einer Liste zum Interessenausgleich enthalten ist. Es muss ermitteln, ob dessen Belange und welchen Kriterien bei der Sozialauswahl überhaupt berücksichtigt wurden (VG Stuttgart 4.3.13, 11 K 3968/12).

 

  • Die Aufklärungspflicht des Integrationsamts ist hoch zu gewichten. Ist z.B. der Gesundheitszustand nicht ausreichend aufgeklärt, muss es Sachverständigengutachten einholen (Bayerischer VGH 31.1.13, 12 B 12.860).

 

  • Kündigungen von schwerbehinderten Arbeitnehmern müssen nicht mit einem kalendermäßig bestimmten Beendigungsdatum versehen sein. Der besondere Kündigungsschutz sieht insoweit keine Regelungen vor. Es genügt, wenn der gewollte Beendigungszeitpunkt für den Arbeitnehmer zweifelsfrei bestimmbar ist, er also das Ende des Arbeitsverhältnisses ohne Schwierigkeiten ermitteln oder die entsprechende Kündigungsfrist berechnen kann. Insoweit ist auch die Angabe „zum nächstzulässigen Termin“ möglich (BAG 10.4.14, 2 AZR 647/13, Abruf-Nr. 172471).

 

PRAXISHINWEIS | Weisen Sie Ihren Mandanten darauf hin, jede geäußerte Kündigungsabsicht oder -erklärung des Arbeitgebers, auch wenn sie als vage empfunden wird, ernst zu nehmen und Ihnen die schriftlichen Schreiben/Kündigungen vorzulegen.

 
  • Vorsicht bei Betriebsübergängen: Hat ein Integrationsamt einem Insolvenzverwalter die Zustimmung zur Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers erteilt, so kann sich ein späterer Betriebserwerber nicht auf diesen Zustimmungsbescheid stützen, da dieser dem Insolvenzverwalter als Kündigungsberechtigten zugestellt wurde (BAG, 15.11.12, 8 AZR 827/11). Das Integrationsamt ist erneut anzurufen.

 

  • Behindertengerechte Arbeitsplatzgestaltung: Der Arbeitgeber hat für angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz zu sorgen, falls ein Arbeitnehmer aufgrund seiner Schwerbehinderung hierauf angewiesen ist. Eine Kündigung wegen fehlender Einsatzmöglichkeit ist nur wirksam, wenn dem Arbeitgeber solche Vorkehrungen nicht möglich sind (LAG Berlin-Brandenburg 5.6.14, 26 Sa 427/14).

 

PRAXISHINWEIS | Das LAG betont, dass die „angemessenen Vorkehrungen“ weitreichend zu verstehen sind und die Beseitigung der Barrieren umfassen, die eine volle und wirksame, gleichberechtigte Teilhabe am Berufsleben behindern. Hierzu zählen materielle (Gestaltung des Arbeitsplatzes mit Hilfsmitteln), als auch organisatorische Maßnahmen. Den Arbeitgeber trifft die Beweislast, hierfür nicht Sorge tragen zu können. Sie stärken Ihre Prozesstaktik, wenn Sie einen Überblick über technische Hilfsmittel haben, die den Erhalt des Arbeitsplatzes behindertengerecht ermöglichen und insoweit Kündigungsgründe entkräften können (Noe, SR 14, 3).

 
  • Laufendes Antragsverfahren/Drei-Wochen-Zeitraum und Berechnung: Hat Ihr Mandant kürzlich einen Schwerbehinderten- oder Gleichstellungsantrag gestellt, über den noch nicht entschieden ist, und erhält nun plötzlich eine Kündigung, muss der Antrag mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt worden sein (LAG Hessen 24.3.14, 16 Sa 1239/13). Zur Fristenberechnung: Beide Verfahren - Schwerbehinderung und Gleichstellung - sind gesetzlich getrennt. Stellt ein Arbeitnehmer zunächst einen Antrag auf Schwerbehinderung (Versorgungsamt oder zuständiges Amt) und direkt nach Ablehnung wiederum einen Antrag auf Gleichstellung (Agentur für Arbeit), kann nicht auf das Eingangsdatum des ersten Antrags (Schwerbehindertenantrag) abgestellt werden (LAG Hessen, a.a.O.).

 

PRAXISHINWEIS | Wird die Schwerbehinderteneigenschaft dem Arbeitgeber erstmals durch Sachvortrag in der Kündigungsschutzklage mitgeteilt, so ist die Mitteilungsfrist auch gewahrt, wenn die Klageschrift fristgerecht bei Gericht eingeht, dem Arbeitgeber aber erst nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist zugestellt wird (BAG 23.2.10, 2 AZR 659/08, Abruf-Nr. 103351).

 

2. Fristen und Voraussetzungen

Genießen die Klägerparteien in Kündigungsschutzverfahren den besonderen Kündigungsschutz gem. §§ 85 ff. SGB IX, muss der Arbeitgeber ergänzende Fristen beachten. Sie selbst müssen jedoch das Alter Ihres Mandanten berücksichtigen und erfragen, ob Ansprüche aufgrund von Sozialplänen bestehen.

 

Checkliste /  Voraussetzungen und Fristen

Handlung
Frist/Zeitpunkt
Fristbeginn

Hat der Arbeitgeber die Mindestkündigungsfrist beachtet (§ 86 SGB IX)?

Vier Wochen

Liegt die vom Arbeitgeber einzuholende Zustimmung des Integrationsamts vor? (zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung, zuletzt VG Augsburg 4.11.14, Au 3 K 14.40)?

Einholung vor Kündigung

Hat der Arbeitgeber nach Zustimmung des Integrationsamtes fristgerecht die Kündigung ausgesprochen (§ 88 Abs. 3 SGB IX)?

1 Monat

Zustellung des Zustimmungsbescheids

Außerordentliche Kündigung: Wurde die verkürzte Frist des § 91 Abs. 2 SGB IX (Antrag auf Zustimmung des Integrationsamts) beachtet?

2 Wochen

Kenntnis Kündigungsgrund/-gründe

 

Mandanten, die 58 Jahre oder älter sind, haben keinen besonderen Kündigungsschutz, wenn Sie Abfindungs- und Entschädigungsansprüche aus einem Sozialplan beim Arbeitgeber haben, rechtzeitig über die beabsichtigte Kündigung informiert werden und ihr bis zum Ausspruch nicht widersprechen. Hierzu zählen auch Ansprüche auf Knappschaftsausgleichsleistungen nach dem SGB VI oder Anpassungsgelder für entlassene Arbeitnehmer im Bergbau (§ 90 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX).

 

PRAXISHINWEIS | Der besondere Kündigungsschutz muss ausdrücklich geltend gemacht werden, daher ist in der Klageschrift vorzutragen, dass „der Kläger sich auf den Kündigungsschutz gem. § 85 ff. SGB IX beruft und mit Bescheid des (..)-amts (..) seit dem (..) als schwerbehinderter Mensch/Gleichgestellter anerkannt ist“ bzw. „am (..) beim (..) ein Antrag auf die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch/Gleichstellung gestellt wurde, über den bislang noch nicht entschieden wurde“. Bescheid oder Schwerbehindertenausweis sollten in Kopie beigefügt werden (BAG 11.12.08, 2 AZR 395/97). Achten Sie angesichts der seit dem 1.1.13 neu gestalteten Ausweise im kleinen Kartenformat auf lesbare Ablichtungen.

 

3. Hinweise für Ihren Mandanten

Die häufigste Frage von Mandanten bezieht sich auf ihre Informationspflichten bzw. dem Fragerecht des Arbeitgebers nach einer Schwerbehinderung und ob ein Arbeitnehmer ungefragt hierauf hinweisen muss. Insoweit hat sich die Rechtsprechung zuletzt entscheidend geändert.

 

Entgegen anderslautenden Meinungen ist in einem bestehenden Arbeitsverhältnis die Frage des Arbeitgebers nach einer Schwerbehinderung bzw. eines diesbezüglich gestellten Antrages nach sechs Monaten (Erwerb Sonderkündigungsschutz) zulässig. Sie ist vom Arbeitnehmer wahrheitsgemäß zu beantworten und diskriminiert ihn hinsichtlich seiner Behinderung nicht i.S. des § 3 Abs. 1 S. 1 AGG (BAG 16.2.12, 6 AZR 553/10).

 

Das BAG hat im übrigen klargestellt, dass eine Schwerbehinderteneigenschaft - klar erkennbar - in Bewerbungsschreiben mitgeteilt werden muss, sofern später der besondere Kündigungsschutz gelten soll. Dies gilt sogar, sofern hierauf bereits in einer früheren Bewerbung beim gleichen Arbeitgeber hingewiesen wurde (18.9.14, 8 AZR 759/13). Es spielt daher keine Rolle mehr, ob der Arbeitgeber überhaupt eine Schwerbehinderung nachfragt. Im Vorstellungsgespräch ist die Frage wahrheitsgemäß zu beantworten, da sonst der besondere Kündigungsschutz entfällt. Weisen Sie Ihren Mandanten darauf hin, die Schwerbehinderteneigenschaft direkt im Anschreiben oder hervorgehoben im Lebenslauf zu erwähnen. Die unauffällige Information oder Mitteilung, z.B. in Form einer Kopie des Schwerbehindertenausweises unter mehreren Anlagen, genügt nicht.

 

PRAXISHINWEIS | Eine während der Beschäftigung erworbene Schwerbehinderteneigenschaft muss nicht grundsätzlich dem Arbeitgeber mitgeteilt werden. Eine solche Pflicht besteht nur, wenn ihn seine Behinderungen bei der Tätigkeit einschränken (arbeitsplatzrelevante Minderleistungen) oder sogar eine Gefahr für ihn oder weitere Mitarbeiter besteht. Viele Leistungsminderungen können jedoch unerheblich für die Arbeitsleistung sein (BAG 3.12.98, 2 AZR 754/97).

 

Checkliste /  So muss sich Ihr Mandant verhalten

Bewerbung
Vorstellungsgespräch
Bestehendes Arbeitsverhältnis

Schwerbehinderung deutlich im Anschreiben oder hervorgehoben im Lebenslauf erwähnen, unkommentierte Anlagen genügen nicht

Frage ist zulässig, wahrheitsgemäße Antwort, ansonsten Verlust Sonderkündigungsschutz

  • Frage ist zulässig nach 6 Monaten, wahrheitsgemäße Antwort
  • Ohne Nachfrage keine Mitteilungspflicht gegenüber Arbeitgeber, außer die Behinderung beeinträchtigt Arbeitsleistung oder Sicherheit.
 

4. Schwerbehindertenanträge rechtzeitig stellen

Eine möglichst frühe Antragstellung ist aufgrund des o.g. Drei-Wochen-Zeitraums wichtig. Der Mandant sollte stets genau auf Indikatoren achten, die eine Kündigung oder kündigungsvorbereitende Maßnahmen wahrscheinlich sein lassen (Information Betriebsrat, drohende Insolvenz, betriebliche Veränderungen).

 

PRAXISHINWEIS | Ein Gleichstellungs- oder Schwerbehindertenantrag kann jederzeit, kostenfrei und formlos gestellt werden. Es gibt keinen Grund mit solchen Anträgen zu warten oder sie zu scheuen. Dringend zu empfehlen ist stets die zeitgleiche Stellung beider Anträge an das Versorgungs- oder landesrechtlich zuständige Amt bzw. die Agentur für Arbeit, um die Erfolgschancen zu erhöhen.

 

Musterformulierung / Stellung eines Schwerbehindertenantrags

Versorgungs- oder zuständiges Amt nach Landesrecht

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

in der o.g. Angelegenheit zeigen wir an, dass wir Herrn/Frau .. anwaltlich vertreten. Eine auf uns lautende Vollmachtsurkunde ist beigefügt. Namens und in Vollmacht unseres Mandanten beantragen wir für den/die vorbezeichnete/n Herrn/Frau ... die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch gem. § 69 SGB IX.

 

Wir bitten um zeitnahe Einleitung eines entsprechenden Verfahrens und genaue Prüfung des Gesundheitszustandes unseres Mandanten. Nach Beiziehung der erforderlichen Unterlagen wird um kurzfristige Verbescheidung gebeten.

 

In der Anlage überreichen wir vorab ... Berichte der ... Kliniken sowie ... fachärztliche Atteste und teilen mit, dass unser Mandant bei Dr. ... (Name und vollständige Anschrift) in hausärztlicher Behandlung steht.

 

Aus anwaltlicher Fürsorge wird an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, den Eingang dieses Schreibens als Tag der Antragstellung in Ihren Akten zu vermerken und uns den Eingang kurzfristig zu bestätigen.

 

Rechtsanwalt

 

PRAXISHINWEIS | Zwischenzeitlich ist die Antragstellung oft auch via Internet möglich (siehe z.B. www.sozialverwaltung.nrw.de). Dies ist nicht nur eine bequeme, sondern auch angezeigte Variante, um das Antragsdatum dokumentiert zu wissen. Wichtige Informationen hinsichtlich Antragsverfahren und den zuständigen Stellen finden Sie auch auf den Internetseiten www.integrationsaemter.de, www.einfach-teilhaben.de und www.bmas.de.

Quelle: Ausgabe 01 / 2015 | Seite 15 | ID 43139617