Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww

· Fachbeitrag · Schwerbehinderung

So wenden Sie die Schutzvorschriften für schwerbehinderte Arbeitnehmer optimal an

von Christian Noe B.A., Rechtsanwaltsfachangestellter, Leipzig

| Sind ältere Arbeitnehmer als schwerbehinderte Menschen anerkannt, greifen besondere Schutzvorschriften, die das SGB IX garantiert. Diese eröffnen dem Rechtsanwalt ergänzende Möglichkeiten, eine Kündigung anzufechten. In diesem Beitrag werden die wichtigsten gesetzlichen Regelungen sowie deren Anwendung in der Praxis vorgestellt, einschließlich zentraler Fristen während der Mandatsbearbeitung. |

1. Rechtliche Stellung schwerbehinderter Arbeitnehmer

Schwerbehinderte Arbeitnehmer haben eine günstigere Position im Betrieb als ihre Kollegen. Für sie greift nach Ablauf der ersten sechs Monate im Arbeitsverhältnis der besondere Kündigungsschutz (§§ 85 ff. SGB IX). Dies wird von vielen Arbeitgebern übersehen oder in der Hoffnung ignoriert, dass es der Arbeitnehmer nicht weiß. Auch gehen Arbeitgeber irrtümlich oft davon aus, dass der Arbeitnehmer von sich aus über eine bestehende Schwerbehinderteneigenschaft informieren muss. Dies ist jedoch falsch, denn in Einstellungsgesprächen und während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses sind Fragen nach einer vorliegenden Schwerbehinderteneigenschaft nicht zulässig. Anders sieht es für den Zeitraum nach den ersten sechs Monaten aus: Fragt der Arbeitgeber konkret nach einem Schwerbehindertenstatus, darf der Arbeitnehmer diesen nicht leugnen. Verschweigt er ihn dennoch, verliert er seinen besonderen Kündigungsschutz (BAG 16.2.12, 6 AZR 553/10, Abruf-Nr. 121792, AA 12, 115).

 

Das BAG hat klargestellt, dass für die Anwendung des besonderen Kündigungsschutzes eine durch Bescheid festgestellte Schwerbehinderteneigenschaft oder aber ein entsprechendes, laufendes Antragsverfahren vorliegen muss. Dabei muss zwischen Antragstellung und der späteren Kündigung ein Zeitraum von mindestens drei Wochen liegen.

2. Zuerkennungsverfahren

Über die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft entscheidet das örtliche Versorgungsamt/Amt für soziale Angelegenheiten (ASA) bzw. die nach Landesrecht zuständige Behörde am Wohnsitz des Antragstellers. Grundsätzlich kann der Mandant diesen Antrag selbst formlos stellen, ohne entscheidende rechtliche Nachteile befürchten zu müssen.

 

Die Entscheidung über den Antrag kann sich erheblich in die Länge ziehen. Hintergrund ist, dass das Amt ärztliche Befundberichte unterschiedlichster Stellen einholt (behandelnde Ärzte, Fachkliniken, Rehabilitationszentren). Dies ist wesentliche Voraussetzung, um über den Antrag des Versicherten auf der Grundlage seines aktuellen Gesundheitszustands zu entscheiden.

 

3. Schwerbehinderteneigenschaft und Kündigungszeitpunkt

Oft kommt es zu Missverständnissen, was den Zeitpunkt des Beginns der Schwerbehinderteneigenschaft betrifft. Falsch ist, dass der Arbeitnehmer bereits zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs als Schwerbehinderter anerkannt sein muss. Ausschlaggebend ist, dass der Antrag vor der Kündigung gestellt worden ist und zwischen Antragstellung und Kündigungszugang mindestens drei Wochen liegen (BAG 1.3.07, 2 AZR 217/06, Abruf-Nr. 070986). Die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft geschieht rückwirkend ab dem Tag der Antragstellung. Allerdings muss sich der Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung gegenüber dem Arbeitgeber oder (bei Erhebung einer Kündigungsschutzklage) in der Klagebegründung auf den Sonderkündigungsschutz wegen Schwerbehinderung berufen (BAG NZA 06, 1035; NZA 11, 411). Wichtig: Dies gilt auch, sofern das Verfahren über den Schwerbehindertenantrag noch nicht abgeschlossen ist.

 

  • Beispiel

Der Antrag des Arbeitnehmers A geht am 7.8.13 beim Versorgungsamt ein. Am 6.9.13 erhält A von Arbeitgeber B die Kündigung. Hiergegen erhebt A fristgerecht Kündigungsschutzklage, in der er sich auf den besonderen Kündigungsschutz beruft und das Gericht über den gestellten Antrag informiert. Am 19.9.13 geht A der Bescheid zu, mit dem er ab 7.8.13 als Schwerbehinderter anerkannt ist. A teilt daraufhin dem Gericht die Schwerbehinderteneigenschaft unter Vorlage des Bescheids mit.

 

Lösung: Da zwischen Antragstellung und Kündigung mehr als drei Wochen liegen, greift der besondere Kündigungsschutz.

 

Das Amt bildet aus den einzelnen Gesundheitsstörungen einen Gesamtgrad der Behinderung (GdB). Voraussetzung für den Sonderkündigungsschutz ist ein amtlich festgestellter GdB von mindestens 50 oder die Gleichstellung des Arbeitnehmers durch die Agentur für Arbeit.

 

In einer Kündigungsschutzklage kann dies auch mit einem entsprechenden Passus formuliert werden. Für die Erhebung der Kündigungsschutzklage eines schwerbehinderten Arbeitnehmers gilt im übrigen die Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG. Daher empfiehlt sich im Fall der Klageerhebung, obligatorisch die Klageschrift mit der Mitteilung der Schwerbehinderteneigenschaft zu verbinden, da die Fristlängen (Klagefrist und Mitteilungsfrist für Schwerbehinderung) identisch bemessen sind (Drei-Wochen-Frist).

4. Mögliche Alternative der Gleichstellung prüfen

Erscheinen die Erfolgsaussichten für einen Schwerbehindertenantrag gering, kann die Durchführung eines Gleichstellungsverfahrens überlegt werden. Behinderten Menschen gleichgestellte Personen mit einem GdB unter 50 (aber mindestens 30) genießen denselben besonderen Kündigungsschutz wie schwerbehinderte Arbeitnehmer (§§ 68, 85 SGB IX).

 

Vorteil |Für den Mandanten wird primär der Kündigungsschutz angestrebt, und keine der sonstigen Merkmale, die mit der Anerkennung als schwerbehinderter Mensch verbunden sind. Daher kann ein Antrag auf Gleichstellung prozesstaktisch klüger sein, da hierfür bereits ein GdB von 30 ausreichend ist. Dies empfiehlt sich insbesondere, wenn vermutet wird, dass die gesundheitlichen Einschränkungen für einen GdB von 50 nicht ausreichen. Auch hier gilt: Bei einer erfolgreichen Gleichstellung geht die Schutzwirkung auf den Tag der Antragstellung zurück (§ 68 Abs. 2 S. 2 SGB IX).

 

PRAXISHINWEIS | Für das Gleichstellungsverfahren ist nicht das Versorgungsamt/ASA, sondern die örtliche Agentur für Arbeit zuständig. Wird der Antrag irrtümlich an das Versorgungsamt gerichtet, geht angesichts der Bedeutung der Antragstellung (Stichtag Zugangstag) wertvolle Zeit verloren. Kündigt zwischenzeitlich der Arbeitgeber, wird der Drei-Wochen-Zeitraum zwischen Antragstellung und Kündigung möglicherweise nicht erreicht. Die Entscheidung über den Gleichstellungsantrag wird dem Arbeitnehmer bekannt gegeben (§§ 68, 69 SGB IX).

 

Taktisch sinnvoll ist ein „zweigleisiges“ Vorgehen: Die kombinierte Stellung eines Schwerbehindertenantrags beim Versorgungsamt/Amt für soziale Angelegenheiten (ASA) und eines Gleichstellungsantrags bei der Agentur für Arbeit. Denn scheitert der Schwerbehindertenantrag, mag vielleicht dem Gleichstellungsantrag Erfolg beschieden sein und folglich der Sonderkündigungsschutz greifen. Da das entsprechende Verfahren bei beiden Ämtern mit keinerlei Kosten verbunden ist, lohnt es durchaus, aus anwaltlicher Vorsorge einen Antrag zu stellen.

 

Beachten Sie | Fragen Sie Mandanten stets, ob der Arbeitgeber konkrete Kündigungsabsichten angedeutet oder gar bereits weitere, sowohl schwerbehinderte als auch nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer entlassen hat.

 

Musterformulierung / Stellung eines Schwerbehindertenantrags

Versorgungsamt / Amt für soziale Angelegenheiten...

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

in der o.g. Angelegenheit zeigen wir an, dass wir Herrn/Frau ... anwaltlich vertreten. Eine auf uns lautende Vollmachtsurkunde ist beigefügt. Namens und in Vollmacht unseres Mandanten beantragen wir für diesen

  • die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch gemäß § 69 SGB IX.

Um Übersendung entsprechender Formulare wird an dieser Stelle höflich gebeten. Wir bitten ferner um kurzfristige Einleitung eines entsprechenden Verfahrens und eine genaue Prüfung des Gesundheitsbilds unseres Mandanten. Nach Beiziehung der erforderlichen Unterlagen wird um kurzfristige Verbescheidung gebeten.

 

In der Anlage überreichen wir vorab ... Berichte der ... Kliniken sowie ... fachärztliche Atteste und teilen mit, dass unser Mandant bei Dr. ... (Name und vollständige Anschrift) in hausärztlicher Behandlung steht. Ferner steht er aktuell fortlaufend in fachärztlicher Behandlung bei ..

 

Aus anwaltlicher Fürsorge wird gebeten, den Zustellungstag dieses Schreibens in Ihrem Hause als Tag der Antragstellung in Ihren Akten aufzunehmen und uns eine Eingangsbestätigung zuzuleiten.

 

 

PRAXISHINWEIS |  Die Stellung eines Schwerbehindertenantrags ist auch online möglich (siehe z.B. www.sozialverwaltung.nrw.de). Das ist eine nicht nur bequeme, sondern auch empfehlenswerte Variante, um das Antragsdatum schriftlich dokumentiert zu wissen.

 

Via Internet kann darüber hinaus die jeweils zuständige Behörde ermittelt werden (www.versorgungsaemter.de/Versorgungsaemter_index.htm). Des Weiteren kann man sich auf den Seiten des zentralen Informations- und Serviceportals www.einfach-teilhaben.de informieren.

5. Obligatorisches Einschalten des Integrationsamts

Will ein Arbeitgeber einen schwerbehinderten Arbeitnehmer entlassen, ist die Einleitung eines Kündigungszustimmungsverfahrens obligatorisch (§ 85 SGB IX). Wurde vor dem Ausspruch der Kündigung keine Zustimmung des Integrationsamts eingeholt, kann sie erfolgreich angegriffen werden.

 

Der Arbeitgeber muss innerhalb einer Frist von einem Monat ab Zustellung der Zustimmung des Integrationsamts die Kündigung aussprechen (§ 88 Abs. 3 SGB IX). Der Bevollmächtigte sollte stets überprüfen, ob diese Frist eingehalten wurde und ob das Integrationsamt gegebenenfalls ein ärztliches Gutachten eingeholt hat. Dazu ist es bei unklarem Gesundheitszustand des gekündigten Arbeitnehmers verpflichtet (Bayerischer VGH 31.1.13, 12 B 12.860).

 

Checkliste / Kündigungsschutz - Überblick über zentrale Fristen

  • Geltungsbereich SGB IX: Sechs Monate nach Beginn des Arbeitsverhältnisses kann der Sonderkündigungsschutz geltend gemacht werden.
  • Schwerbehindertenantrag: Keine Fristenbeschränkungen. Stellung jederzeit möglich, keine zeitlichen Mindestabstände zwischen einem abgelehnten Antrag und später folgenden Neuanträgen.
  • Erhebung Kündigungsschutzklage: Drei-Wochen-Frist (§ 4 KSchG). Es gilt dieselbe Frist wie bei anderen regulären Kündigungen bei Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes.
  • Mitteilungspflicht: Innerhalb von drei Wochen ab Zugang der Kündigung muss der Arbeitgeber direkt oder durch Mitteilung in der Begründung einer Kündigungsschutzklage informiert und der besondere Keündigungsschutz geltend gemacht werden.
  • Antragstellung vor Kündigung: Zwischen einem vor einer Kündigung gestellten Schwerbehindertenantrag bzw. Gleichstellungsantrag und einer zugegangenen Kündigung muss ein Zeitraum von drei Wochen liegen.
  • Zustimmungsverfahren: Hat das Integrationsamt einer beabsichtigten Kündigung des Arbeitgebers zugestimmt, muss dieser innerhalb eines Monats ab Zustellung der Entscheidung des Amts kündigen.
 
Quelle: Ausgabe 01 / 2013 | Seite 15 | ID 42286482