· Fachbeitrag · Betriebsprüfung in der Gastronomie
Hinzuschätzung auf Grundlage von günstigerer Richtsatzschätzung statt Ausbeutekalkulation
von Dr. Stephan Peters, Warendorf
| Liegen dem FA keine hinreichenden Anhaltspunkte zu den Haupt-umsatzträgern und den Rezepten der einzelnen Gerichte einer Pizzeria vor, scheidet eine pauschale Ausbeutekalkulation anhand des Mehleinsatzes aus. Zutreffendere Ergebnisse liefert in diesem Fall die Richtsatzschätzung (FG Münster 17.1.20, 4 K 16/16, Abruf-Nr. 214889 ). |
1. Sachverhalt
Die Parteien streiten über die im Anschluss an eine Betriebsprüfung für die Streitjahre 2006 bis 2013 vorgenommene Hinzuschätzung durch das FA.
Der Kläger betrieb eine Pizzeria, bestehend aus einer Küche und einer Theke. Die Pizzeria verfügte nur über wenige Sitzgelegenheiten. Der Kläger erzielte weit überwiegend Bareinnahmen. Die von der elektronischen Registrierkasse ausgegebenen Tagesendsummenbons bewahrte der Kläger erst ab Juli 2013 auf. Zudem bezog der Kläger seine Waren unter einer Kundennummer über den Großhändler X.
Weil im Rahmen steuerstrafrechtlicher Ermittlungen gegen den Kläger der Verdacht von Schwarzeinkäufen bei dem Großhändler im Raum stand, führte die Steuerfahndungsstelle eine Durchsuchung bei dem Großhändler durch. Im Rahmen der Auswertung des Warenwirtschaftssystems konnte ein Kundenkonto des Klägers identifiziert werden. Die unter dem Kundenkonto gebuchten Stornierungen konnte die IT-Fahndungsstelle rekonstruieren. Das FA wertete diese Stornierungen in der Folge als Schwarzkäufe. Weitere unter zwei anderen Kundennummern getätigte Einkäufe, die in den Betriebsausgaben jedoch nicht aufgeführt waren, konnten dem Kläger ebenfalls zugeordnet werden, u. a. weil auf den unter diesen Kundennummern bestellten Pizzakartons die Adresse der Pizzeria des Klägers aufgedruckt war. Zudem konnten bei einer Durchsuchung der Wohnräume des Klägers Barverkaufsbelege, ein Packschein und ein Quittungsbeleg des Großhändlers X gefunden werden.
Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Außenprüfung änderte das FA die Steuerbescheide für die Jahre 2006 bis 2012 und erließ im Jahr 2015 entsprechende Änderungsbescheide.
Der Kläger begehrte nach erfolglosem Einspruchsverfahren nunmehr die Aufhebung der Bescheide. Die Kasse sei ordnungsgemäß geführt worden, für die fehlerhafte Buchführung des Großhändlers sei er nicht verantwortlich. Schwarzeinkäufe habe er nicht getätigt. Außerdem seien die Hinzuschätzungen überhöht.
2. Entscheidung
Der Kläger hatte nur teilweise Erfolg! Dem Grunde nach sei das FA zur Hinzuschätzung von Besteuerungsgrundlagen befugt gewesen. Lediglich der Höhe nach kam das Gericht zu einem anderen Ergebnis.
Gemäß § 162 Abs. 2 S. 2 AO durfte das FA die Besteuerungsgrundlagen dem Grunde nach schätzen, weil
- die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden konnten und
- tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben bestanden.
2.1 Keine Z-Bons in den Jahren 2008 bis 2013
Gravierende formelle Mängel sah das Gericht in dem Umstand, dass für den Zeitraum von 2008 bis Juni 2013 keine Z-Bons vorgelegt werden konnten und die Vollständigkeit aufgezeichneter Kasseneinnahmen daher nicht gewährleistet gewesen sei. Da es sich um einen Betrieb handelt, der überwiegend Bargeschäfte tätigt, war dieser Mangel auch geeignet, der gesamten Buchführung die Ordnungsgemäßheit zu nehmen. Darüber hinaus stellte das Gericht materielle Mängel insoweit fest, als über die erklärten Betriebsausgaben hinaus weitere Wareneinkäufe (Schwarzeinkauf) nicht erklärt wurden. Dass es zu solchen Schwarzeinkäufen gekommen ist, leitete das Gericht unter anderem daraus ab, dass bei einem Zulieferer im Warenwirtschaftssystem Bestellungen aufgezeichnet waren, die ohne erkennbaren Grund später storniert wurden. Durch den Einsatz eines IT-Fahnders war auch die Entschlüsselung der stornierten Daten möglich. Ein Abgleich ergab, dass die stornierte Ware den ansonsten bezogenen und dem Kläger zugordneten Waren entsprach. Darüber hinaus durfte das FA dem Kläger auch solche Umsätze zurechnen, die unter zwei abweichenden Kundennummern gespeichert waren, da sich die Umsätze dem Kläger aufgrund anderer Umstände (Pizzakartons mit Aufdruck der Adresse, Auffinden des Packscheins im Rahmen der Durchsuchung durch die Steuerfahndung; Auffinden von Barverkaufsbelegen in der Wohnung des Klägers) zuordnen ließen.
Aus den vorgenannten Gründen sah es das Gericht als erwiesen an, dass die Aufzeichnungen nicht nur formell, sondern auch materiell unrichtig sind. Das FA war damit zur Schätzung der Warenumsätze berechtigt! Allerdings korrigierte das FG die Hinzuschätzungen der Höhe nach zugunsten des Klägers nach unten.
Unter Berücksichtigung der Vorgabe, dass die Auswahl zwischen verschiedenen Schätzungsmethoden im pflichtgemäßen Ermessen des FG steht und das Ziel der Schätzung das der Wirklichkeit möglichst nahekommende Ergebnis sein muss, erfolgte die Schätzung nach amtlichen Richtsätzen.
Die von der Finanzverwaltung durchgeführte Schätzung mittels Ausbeutekalkulation sei aufgrund des umfangreichen Speisenangebots in der Pizzeria nicht geeignet, da weder die Hauptumsatzträger noch die jeweiligen Rezepte benannt wurden. Die von dem Außenprüfer durchgeführten pauschale Mehlkalkulation war schon aus diesem Grunde nicht zugrunde zu legen! Zudem wurde die Kalkulation nur für ein Streitjahr durchgeführt und kann für die weiteren Jahre nicht maßgeblich sein.
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Die Ausbeutekalkulation ist ein in der Praxis beliebtes Mittel zur Hinzuschätzung von Einnahmen im Bereich Gastronomie. Hier werden die relevanten Vergleichsdaten aus den innerbetrieblichen Verhältnissen gewonnen. |
Für die Finanzverwaltung ist diese Form der Schätzung umso aufwendiger, je mehr verschiedene Waren und Dienstleistungen in einem Betrieb angeboten werden. Sofern ein Unternehmer mit unterschiedlichen Aufschlagsätzen kalkuliert, ist dies bei der Nachkalkulation zu berücksichtigen (BFH 31.7.74, I R 216/72; FG Sachsen 26.10.17, 6 K 841/15).
Je weniger Informationen zu Hauptumsatzträgern und Rezepturen bekannt sind, umso schwieriger wird die rechtssichere Anwendung der Ausbeutekalkulation.
Auch die Schätzung mittels Geldverkehrs- und Vermögenszuwachsrechnung sei in dem vorliegenden Fall nicht geeignet gewesen, weil die Geldflüsse innerhalb des gesamten Haushalts anhand der dem Gericht vorliegenden Steuerakten nicht nachzuvollziehen gewesen seien.
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Dieser Schätzungsmethode liegt die Idee zugrunde, dass die erzielten Einkünfte in einem Zeitraum den in diesem Zeitraum gebildeten Vermögenswerten und verbrauchten Werten entsprechen muss (BFH 2.3.82, VIII R 255/80). Dies setzt jedoch nach der Rechtsprechung des BFH voraus, dass die Geldflüsse innerhalb des Haushalts des Steuerpflichtigen nachvollzogen werden können (BFH 8.11.89, X R 178/87). Bezüglich dieser Geldflüsse muss das FA in tatsächlicher Hinsicht Feststellungen treffen können (vgl. BFH 28.5.86, I R 265/83).
Bei der Bargeldverkehrsrechnung handelt es sich um eine auf den Bargeldverkehr beschränkte Prüfung, die eingesetzt wird, um ungeklärte Einnahmen aufzudecken (BFH 8.7.1981, VIII R 79/80). |
Die Schwäche dieser Methode liegt darin, dass sich ihre Präzision vor allem aus Daten ergibt, die der privaten Sphäre des Steuerpflichtigen zuzuschreiben sind (FG Hessen 15.6.05, 3 V 668/05). Da Aufzeichnungspflichten und Aufbewahrungspflichten insoweit jedoch nicht bestehen (BFH 28.1.09, X R 20/05), ist die Aufbereitung entsprechender Sachverhalte extrem aufwendig und mit den skizzierten Schwächen verbunden. Grundsätzlich ist die Geldverkehrs- oder Vermögenszuwachsrechnung aber geeignet, die Vermutung des § 158 AO zu widerlegen (durch ungeklärten Vermögenszuwachs), sodass sich im Rahmen der dann folgenden Schätzung das Beweismaß für die Finanzverwaltung im Rahmen der Anwendung des § 162 Abs. 2 AO reduziert und eine fehlende Mitwirkung sich zulasten des Steuerpflichtigen auswirkt (BFH 24.11.88, IV R 150/86). Tatsächlich führte das Gericht eine Richtsatzschätzung durch.
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Die Finanzbehörden übermitteln jährlich branchenspezifisch die Betriebsergebnisse geprüfter Unternehmen (sog. Richtsatzsammlung). Im Rahmen der Richtsatzprüfung werden die internen Betriebsdaten mit den Kennzahlen der Richtsatzsammlung verglichen. |
Aufgrund der großen Bandbreite bietet die Richtsatzschätzung genügend Raum, um Besonderheiten des geprüften Betriebs angemessen berücksichtigen zu können.
Die Rechtsprechung misst dem Vergleich mit anderen Betrieben einen geringeren Beweiswert bei, als internen Betriebsvergleichen (BFH 26.4.83, VIII R 38/82). Zu prüfen ist, ob die Werte der Richtsatzsammlung überhaupt auf den konkret geprüften Betrieb anzuwenden sind oder der im Rahmen der Betriebsprüfung betrachtete Betrieb ganz andere Umsatzzahlen aufweist (BFH 17.11.81, VIII R 174/77). Bei wesentlicher Überschreitung der Umsatz-größen ist diese Methode ungeeignet (BFH 7.12.77, I R 16/75).
Unter Berücksichtigung der Richtsatzschätzung nach Anwendung der amtlichen Richtsatzsammlung war die Hinzuschätzung für die Streitjahre 2008 bis 2013 herabzusetzen.
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Jahr | Rohgewinnaufschlagsatz (RGA) | Mittelwert RGA | Reingewinnrichtsatz (RG) | Mittelwert RG |
2008/2009 | 203 % ‒ 400 % | 285 % | 10 % ‒ 40 % | 25 % |
203 % ‒ 400 % | 285 % | 10 % ‒ 40 % | 25 % | |
2010 ‒ 2013 | 203 % ‒ 426 % | 285 % | 13 % ‒ 46 % | 26 % |
Ausgehend von dem festgestellten Wareneinkauf unter Berücksichtigung der „Schwarzeinkäufe“ wendete das Gericht einen Rohgewinnaufschlagsatz von 300 % an. Davon wurden der Eigenverbrauch und den Kunden gewährte Rabatte in Abzug gebracht, sodass der Rohgewinnaufschlagsatz mit 264 % unterhalb des Mittelwerts der amtlichen Richtsatzsammlung lag. Diese Unter-schreitung wurde mit den wenigen Sitzgelegenheiten und dem daraus resultierenden höheren Anteil an Laufkundschaft erklärt. Einbezogen hat das Gericht ferner die vergleichsweise geringen Preise aufgrund der Konkurrenzsituation.
Auch unter Berücksichtigung der geringen Anzahl an Sitzplätzen bewertete das Gericht die Umsätze zu 95 % zum Regelsteuersatz und 5 % als Umsätze zum ermäßigten Umsatzsteuersatz.
Die Betriebsausgaben wurden unter Berücksichtigung der Schwarzeinkäufe und der darauf entfallenden Vorsteuerbeträge, die mangels ordnungsgemäßer Rechnungen nicht abgezogen werden konnten, entsprechend erhöht.
Insgesamt lag das Gericht mit der Schätzung unterhalb der mittleren einschlägigen Reingewinnrichtsätze, weshalb das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit der Schätzung hatte.
2.2 Die Jahre 2006 bis 2007
Formal war eine Änderung der Jahre 2006 bis 2007 aufgrund des Ablaufs der Festsetzungsfrist nicht mehr zulässig. Fehlerhafte Aufzeichnungen von solchem Ausmaß, die einen Steuerhinterziehungsvorsatz begründen könnten und Kassenmängel, die einen sicheren Schluss auf einen Vorsatz zuließen, konnten nicht festgestellt werden! Eine Verlängerung der Festsetzungsfrist auf zehn Jahre gemäß § 370 Abs. 1 AO kam daher nicht in Betracht.
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3. Relevanz für die Praxis
Im Steuerrecht gilt, dass die Finanzverwaltung den entscheidungserheblichen Sachverhalt mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststellen muss (§ 88 AO). Bei der Ermittlung des Sachverhalts treffen den Steuerpflichtigen umfangreiche Mitwirkungspflichten (§ 90 AO). Sofern der Sachverhalt bei Anwendung und Ausschöpfung sämtlicher Mittel nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, darf die Finanzverwaltung als äußerstes Mittel zur Schätzung greifen. § 162 Abs. 1 S. 1 AO reduziert insoweit das Beweismaß und verlangt nicht mehr eine Feststellung des Sachverhalts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, sondern nur noch die größtmögliche Wahrscheinlichkeit. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Finanzverwaltung nicht mehr alle Mittel ausschöpfen muss, sondern dass die Schätzung erst dann in Betracht kommen kann, wenn alle ernsthaften Versuche der Finanzverwaltung zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen untauglich waren.
Diese allgemeinen Grundsätze zur Schätzung von Besteuerungsgrundlagen gelten gemäß § 162 Abs. 2 S. 1 AO auch für die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen, wenn die Buchführung oder Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden können oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen oder Betriebsvermögensmehrungen bestehen.
Dabei gilt zunächst das aus § 158 AO abgeleitete „Vertrauensvorschussprinzip“. Dieses Vertrauensvorschussprinzip greift jedoch nur für die formell ordnungsgemäße Buchführung. Weil nur die formell ordnungsgemäße Buchführung die Wirkung des § 158 AO entfalten kann, wird die im Rahmen der Betriebsprüfung vorgelegte Buchführung zunächst auf formelle Mängel geprüft. Insoweit müssen jedoch wesentliche Mängel vorliegen, da nicht jeder kleinste Mangel die Ordnungsgemäßheit der gesamten Buchführung infrage stellen kann.
3.1 Die Frage der wesentlichen Mängel
Für die Frage, ob ein wesentlicher Mangel vorliegt, kommt es darauf an, ob dieser Mangel „ernstliche Zweifel an der Richtigkeit“ des Gesamtergebnisses der Buchführung begründet. In bargeldintensiven Branchen ist eine nicht ordnungsgemäße Kassenführung daher in der Regel auch ein formeller Fehler von sachlichem Gewicht (vgl. BFH 20.9.89, X R 39/87) und führt zur Verwerfung der gesamten Buchführung. Kommt der Vereinnahmung von Bargeld hingegen nur eine völlig untergeordnete Bedeutung zu, lässt dies nicht zwingend auf einen Fehler von sachlichem Gewicht für die Richtigkeit der gesamten Buchführung schließen (vgl. BFH 26.8.75, VIII R 109/70: Mängel Inventur, Kassenführung, chronologisches Verbuchen im Einzelfall unbeachtlich). Es kommt auf die „individuelle Fehlerschwere“ (Drüen, Tipke/Kruse, § 146 AO, Rn. 74) des Mangels an (BFH 26.8.75, VIII R 109/70). Werden formelle Mängel festgestellt, denen die erforderliche Wesentlichkeit fehlt, gilt weiterhin die Vermutung der Richtigkeit der Buchführung, sofern keine materiellen Mängel festgestellt werden. Es kommt lediglich zu einer Einzelkorrektur.
3.2 Die Frage der materiellen Mängel
Stellt sich die Buchführung als formell ordnungsgemäß dar bzw. sind keine wesentlichen Mängel ersichtlich, kann die Vermutung der Richtigkeit der Buchführung (§ 158 AO) durch die Feststellung materieller Mängel erschüttert werden. Im Gegensatz zu den formellen Mängeln muss die Finanzverwaltung insoweit jedoch strenge Anforderungen an den Nachweis der materiellen Unrichtigkeit erfüllen. „Ernstliche Zweifel“ genügen insoweit nicht, vielmehr muss die materielle Unrichtigkeit „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ (BFH 9.8.91, III R 129/85) festgestellt werden, es bedarf also des Beweises des Gegenteils. Wichtig ist, dass die auch insoweit bestehende Mitwirkungspflicht des § 90 Abs. 2 AO nicht zu einer Umkehr der Beweislast zulasten des Steuerpflichtigen führt (BFH 9.8.91, III R 129/85). Mitwirkungspflichtverletzungen sind vielmehr im Rahmen der Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls zu würdigen, das FA darf aufgrund von Mitwirkungspflichtverletzungen insbesondere auch negative Schlüsse ziehen (BFH 15.2.89, X R 16/86).
3.3 Verwerfung der Richtigkeit der Buchführung
Erst wenn die Buchführung wegen wesentlicher formeller Mängel oder materieller Unrichtigkeit nicht zugrunde gelegt werden kann, darf die Finanzverwaltung gemäß § 162 Abs. 2 AO die Richtigkeit der Buchführung insgesamt verwerfen und eine Schätzung vornehmen.
3.4 Schätzung
Bezüglich der Durchführung wird auf die oben skizzierte Entscheidung des FG Münster verwiesen, die die Anforderungen an die Auswahl der Schätzungsmethode und die Schätzungsdurchführung plastisch skizziert. Werden im Rahmen einer Betriebsprüfung hingegen primär nur formelle Fehler festgestellt, kommt es in der Praxis häufig zu Diskussionen über die Bemessung von Sicherheitszuschlägen. Der BFH definiert den Sicherheitszuschlag als griffweise Schätzung, die in einem vernünftigen Verhältnis zu den erklärten oder nicht erklärten Einnahmen stehen muss (BFH 20.3.17, X T 11/16). Diese Methode kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn ein innerer Betriebsvergleich in Form einer Aufschlagkalkulation aufgrund eines umfangreichen Speisenangebots nicht in Betracht kommt und eine Geldverkehrs- und Vermögenszuwachsrechnung nicht durchführbar ist (vgl. FG Münster, 20.12.19, 4 K 541/16). Die Gründe, aus denen diese anderen Schätzungsmethoden nicht zur Anwendung kommen, sind durch die Finanzverwaltung darzulegen (FG Köln 6.6.18, 15 V 754/18)!
3.5 Festsetzung eines Sicherheitszuschlags
Ist die Schätzung mittels Sicherheitszuschlag dem Grunde nach sachgerecht, kommt es auf die Bemessungsgrundlage sowie die Höhe des Sicherheitszuschlags an. Bei der Bemessung des Sicherheitszuschlags können zulasten des Steuerpflichtigen Mitwirkungspflichtverletzungen berücksichtigt werden (BFH 10.5.12, X B 71/11, Beschluss).
Im Ergebnis muss auch ein Sicherheitszuschlag ‒ wie jedes andere Schätzungsergebnis ‒ schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. Dabei sind alle Umstände ‒ auch solche zugunsten des Steuerpflichtigen ‒ zu berücksichtigen. Soweit sich der Rohgewinnaufschlagsatz nach Hinzurechnung eines Sicherheitszuschlags jedoch außerhalb der Richtsätze bewegt, kann dies für die Unrichtigkeit des gefundenen Ergebnisses sprechen. Insgesamt gibt es keine strengen Vorgaben für die Bemessung von Sicherheitszuschlägen der Höhe nach. Wenngleich in der Praxis häufig Sicherheitszuschläge in Höhe von 10 % anzutreffen sind, ist dieser nicht pauschal in jedem Fall zulässig (10 % bei fehlender lückenloser Dokumentation unzulässig: FG Köln 6.6.18, 15 V 754/18, Beschluss; 8 % bei fehlendem Kassenbuch bestätigt: FG München 7.12.18, 7 V 2652/18; 10 % bestätigt bei Mängeln in der Kassenführung und Kassenaufzeichnungen: FG Nürnberg 30.1.19, 3 K 1419/17, FG Münster 20.12.19, 4 K 541/16)!
Übersicht / Wann darf das FA die Buchführung insgesamt verwerfen? | |||
1 | § 158 AO Beweiskraft der Buchführung | „Die Buchführung und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen […] sind der Besteuerung zugrunde zu legen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass ist, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden“.
§ 158 AO begründet eine widerlegbare Rechtsvermutung zugunsten der sachlichen Richtigkeit der formell ordnungsgemäßen Buchführung als Gesamtwerk (BFH 15.2.89, X R 16/86). | |
2 | § 162 AO Schätzungsbefugnis „dem Grunde nach“ | Wann darf das FA „dem Grunde nach“ eine Hinzuschätzung durchführen? | |
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Die in der Praxis am häufigsten anzutreffende Gestaltung und die in der Rechtsprechung in den vergangenen Jahren intensiv diskutierten Fallgestaltungen beziehen sich primär auf die Feststellung formeller Mängel von sachlichem Gewicht.
BFH: Es kommt insoweit auf das sachliche Gewicht des Mangels im Rahmen des gesamten Buchführungswerks an (BFH 31.7.69, IV R 57/67). Fehler in der Kassenbuchführung können bspw. in bargeldintensiven Betrieben die gesamte Buchführung berühren (BFH 20.9.89, X R 39/87). Spielt die Vereinnahmung von Bargeld hingegen nur eine völlig untergeordnete Rolle, dürfte es schon an einem wesentlichen Mangel fehlen. | |||
3 | § 162 AO Schätzung „der Höhe nach“ | Ausgestaltung der Schätzung
Ziel: Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen, die die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben (BFH 18.12.84, VIII R 195/82)!
Auswahl: Die Auswahl der Schätzungsmethode steht im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzverwaltung. Sie hat die Methode zu wählen, die mit größter Gewähr unter zumutbarem Aufwand das wahrscheinlichste Ergebnis liefert (BFH 2.2.82, VIII R 65/80). Anerkannt sind u. a. folgende Methoden:
Anforderungen an Schätzungsdurchführung:
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FAZIT | Die Frage der Durchführung von Hinzuschätzungen wird zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen auch in Zukunft sowohl „dem Grunde“ und auch „der Höhe nach“ zu Streitigkeiten führen. Wenngleich die Rechtsprechung den Einschätzungen der Finanzverwaltung nicht selten im Ergebnis folgt, lohnt sich die Lektüre der Betriebsprüfungsberichte und der Abgleich mit den systematischen Vorgaben der Rechtsprechung an die Durchführung der Schätzung. Ist die Finanzverwaltung etwa vorschnell von dem Vorliegen einer umfassenden Schätzungsbefugnis dem Grunde nach ausgegangen, werden die „schönsten Schätzungsberechnungen obsolet, wenn das Gericht die Voraussetzungen für eine Hinzuschätzung dem Grunde nach schon nicht anerkennt.
Sehen beide Seiten im Einzelfall Schwierigkeiten, drängt sich zum Abschluss des Verfahrens und bei wechselseitigem Nachgeben bzgl. der bestehenden Unsicherheiten auf Sachverhaltsebene in der Regel der Abschluss einer tatsächlichen Verständigung auf. |
Zum Autor | Dieser Beitrag wurde vom Autor nicht in dienstlicher Eigenschaft verfasst, sondern gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder.