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· Fachbeitrag · Stiftung und Recht

Streit um die Tafel: sachgerechte Steuerung oder ungerechtfertigte Diskriminierung mit Folgen?

von RA Berthold Theuffel-Werhahn, FAStR/FAHGR, Leiter des Bereichs Stiftungsberatung, PricewaterhouseCoopers GmbH, Kassel

| Der Streit um die „Essener Tafel“ polarisiert; gleichzeitig werden Kernfragen des Gemeinnützigkeits- und des Zivilrechts berührt. Andere steuerbegünstigte Einrichtungen ‒ auch Stiftungen ‒ könnten vor ähnlichen Fragen stehen. Anlass genug, einzelne Aspekte näher zu beleuchten. |

1. Funktion der Tafeln

Die mehr als 930 gemeinnützigen Tafeln in Deutschland sammeln qualitativ einwandfreie Lebensmittel, die sonst ‒ wegen Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums ‒ entsorgt werden würden. Diese verteilen sie kostenlos oder zu einem symbolischen Betrag an sozial und wirtschaftlich Benachteiligte. Durch die Möglichkeit, beim Einkauf zu sparen, verschaffen die Tafeln Bedürftigen einen bescheidenen finanziellen Spielraum, um ihren Alltag zu bestreiten. Die Tafeln sind nach eigener Darstellung als gemeinnützig anerkannt (Jahresbericht 2016, S. 24, 28, 37) und mit dem „Spendensiegel“ des Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen (DZI) versehen.

2. Situation bei der Essener Tafel

Bereits im Dezember 2017 entschied der „Essener Tafel“ e. V., „bis auf Weiteres“ nur Kunden mit deutschem Personalausweis aufzunehmen und begründete dies mit dem Anstieg des Anteils ausländischer Mitbürger bei den Kunden der Tafel auf 75 Prozent aufgrund der Flüchtlingszunahme in den letzten Jahren sowie damit, eine „vernünftige Integration zu gewährleisten“. Diese Maßnahme zog eine erhebliche mediale Aufmerksamkeit nach sich.

 

Dabei wird in der Berichterstattung teilweise außer Acht gelassen, dass Neukunden ohne deutschen Pass nicht für die Zukunft per se ausgeschlossen werden ‒ genauso wenig übrigens wie ausländische Bestandskunden ‒, sondern auf einer Warteliste für die Warenverteilung geführt werden. Die Tafel Deutschland e. V., der Dachverband aller „Tafeln“, erklärte dazu, dass es „Ziel und Aufgabe aller Tafeln sei, Lebensmittel an alle Bedürftigen zu verteilen und so akute Not zu lindern. Maßgeblich für [das] Engagement ist die Bedürftigkeit und nicht die Herkunft. Wenn einzelne Tafeln Ausnahmen machen müssen, dann ist dies ausschließlich Situationen geschuldet, die für die Ehrenamtlichen vor Ort organisatorisch nicht mehr anders handhabbar sind“.

 

Die Auseinandersetzung um die Essener Tafel mündete zuletzt, wie die „WAZ“ berichtete, in einer Strafanzeige gegen die Mitglieder des Vorstands. Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren ‒ zu Recht ‒ eingestellt. Infolge der bundesweiten Kritik kündigte die Tafel bei Redaktionsschluss an, die umstrittene Maßnahme per Ende März 2018 aufheben zu wollen.

 

3. Anspruch der Ausgeschlossenen auf Leistungen der Tafel?

Von Interesse ist zunächst, ob die von der Tafel ausgeschlossenen Personen gegen den Verein zivilrechtlich auf Aufhebung der Beschränkung und darüber hinaus: auf konkrete Leistungserbringung, klagen könnten. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG verbietet bei sog. „Massengeschäften“ eine „Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität.

 

3.1 Benachteiligung wegen der ethnischen Herkunft

Dass die Tafel bis auf Weiteres nur „Kunden mit deutschem Personalausweis“ aufnimmt und damit im Umkehrschluss Kunden ohne deutsche Staatsangehörigkeit ausschließt, kann, obwohl das AGG nicht auf die Staatsangehörigkeit abstellt, als „Benachteiligung wegen der ethnischen Herkunft“ gewertet werden, wenn der fragliche ausländische Staat durch ein „Staatsvolk“ charakterisiert wird, das die Voraussetzungen einer „Ethnie“ erfüllt. Dies wird in aller Regel der Fall sein (vgl. Däubler/Bertzbach, § 1 AGG Rn. 3). Zudem werden hier Kunden sämtlicher ausländischer Staaten ausgeschlossen.

 

3.2 Massengeschäft

Unter den Begriff des Massengeschäfts fallen z. B. Bargeschäfte des täglichen Lebens, wie sie im Einzelhandel, in Hotels und Gaststätten getätigt werden (Däubler/Bertzbach, § 19 AGG Rn. 25). Charakteristisch ist, dass gewerbliche Anbieter Verträge über Konsumgüter oder standardisierte Dienstleistungen ohne Ansehen der Person und zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen abschließen (Däubler/Bertzbach, a.a.O.).

 

Die von der Tafel erbrachten Dienstleistungen erfüllen wegen ihres „Massecharakters“ diese Voraussetzung, auch wenn die Tafel kein „gewerblicher Anbieter“ i. S. e. auf Gewinnerzielung gerichteten Unternehmens (sondern gerade das Gegenteil) ist. Denn eine Ausnahme für Leistungen steuerbegünstigter Einrichtungen enthält das AGG nicht. Vielmehr verbietet § 2 Abs. 1 Nr. 6 AGG auch Benachteiligungen in Bezug auf soziale Vergünstigungen, die von privaten Einrichtungen gewährt werden (MüKo-BGB/Thüsing, AGG, § 2 Rn. 32).

 

Auch, dass abweichend von der Regel, die Nachfrage das Angebot übersteigt, steht dem Massengeschäft nicht zwangsläufig entgegen. Zumindest das Kriterium des „Ansehens der Person“, falls es für das „Massengeschäft“ darauf ankommen sollte, hat für die Tafeln insoweit Bedeutung, als gemäß § 53 AO nur persönlich ‒ d. h. aufgrund ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustands ‒ oder wirtschaftlich Hilfsbedürftige unterstützt werden dürfen. Anderenfalls drohte der Tafel die Aberkennung der Steuerbegünstigung. Ein „besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis“ zwischen der Tafel einerseits und Tafelkunden andererseits, das die Anwendung von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG entfallen lassen könnte, § 19 Abs. 5 S. 1 AGG, ist ferner auch nicht erkennbar.

 

3.3 Unmittelbare Benachteiligung

Eine unmittelbare Benachteiligung i. S. v. § 19 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 S. 1 AGG liegt vor, wenn eine Person eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person in vergleichbarer Lage erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Die Vorschrift nimmt dabei Bezug auf die Merkmale des § 1 AGG. Der Nachteil, der in einer Zurücksetzung besteht, muss also mindestens durch ein Merkmal des § 1 AGG motiviert sein bzw. der Benachteiligende muss bei seiner Handlung hieran anknüpfen (Däubler/Bertzbach, § 3 AGG Rn. 15). Auch dies ist der Fall, weil Neukunden ohne deutsche Staatsangehörigkeit durch die Tafel schlechter gestellt sind, indem sie von den Leistungen der Tafel ausgeschlossen werden, als solche mit deutscher Staatsangehörigkeit und die Tafel auch explizit hieran anknüpft.

4. Rechtfertigung für unterschiedliche Behandlung?

Das Gesetz erlaubt zwar eine unterschiedliche Behandlung, wenn hierfür ein sachlicher Grund vorliegt (§ 20 Abs. 1 S. 1 AGG). Das kann der Fall sein, wenn die unterschiedliche Behandlung „der Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art dient“ (§ 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AGG) oder wenn sie „besondere Vorteile gewährt und ein Interesse an der Durchsetzung der Gleichbehandlung fehlt“, § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AGG. Dass Kunden der Tafel ohne deutsche Staatsangehörigkeit in besonders aggressiver Weise gegen Mitarbeiter der Tafel und andere Kunden vorgegangen sind, die, wie Mitarbeiter der Tafel berichten, sich aus Angst nicht mehr trauten, die Tafel aufzusuchen, bildet keine Rechtfertigung nach § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AGG.

 

  • Erstens müsste das Ausschlusskriterium an das Verhalten und nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpfen ‒ selbst wenn nach dem Eindruck der Tafel Angehörige bestimmter Staaten exemplarisch für ein aggressives Verhalten stünden.

 

  • Zweitens berichten Tafeln in anderen Gemeinden von erfolgreichen Instrumenten zur Beseitigung ähnlicher Probleme, wie sie in Essen geschildert werden, ohne dass Kunden wegen ihrer Staatsangehörigkeit ausgeschlossen werden, z. B. unterschiedliche „Lebensmittel-Abholzeiten“ (Terminologie der Tafel, Anm. d. Verf.) für bestimmte Alters- oder soziale Gruppen u. Ä.

 

  • Drittens sind zur Klärung „kritischer Situationen“ die Ordnungsbehörden und insbesondere die Polizei aufgerufen, die die Aufgabe haben, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Gefahrenabwehr), § 1 Abs. 1 Ordnungsbehördengesetz NRW, § 1 Abs. 1 S. 1 PolG NRW. Insbesondere die Polizei muss im Rahmen der Gefahrenabwehr Straftaten verhüten sowie vorbeugend zu bekämpfen (§ 1 Abs. 1 S. 2 PolG NRW).
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  • Zur Gefahrenabwehr gehört ausdrücklich auch der Schutz privater Rechte, worauf sich die Tafel als juristische Person des Zivilrechts berufen kann, wenn gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist und wenn ohne polizeiliche Hilfe die Verwirklichung des Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, § 1 Abs. 2 PolG NRW. Spricht die Tafel durch ihr Verhalten auffallenden Kunden ein Hausverbot aus, das wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit angemessen sein muss, und drängen diese Kunden dennoch in die Räumlichkeiten der Tafel, kommt eine Strafbarkeit wegen (schwerem) Hausfriedensbruch, §§ 123, 124 StGB, in Betracht, zu deren Abwehr die Ordnungsbehörden und die Polizei verpflichtet sind.

 

Auch eine Rechtfertigung gemäß § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AGG scheidet letztlich aus, weil das Gesetz die Möglichkeit einer sachlichen Rechtfertigung nur in anderen Fällen (Religion, Behinderung, Alter, sexuelle Identität oder Geschlecht), aber nicht bei einer Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft erlaubt (§ 20 Abs. 1 S. 1 AGG).

 

4.1 (Keine) Rechtswidrige, sozial verwerfliche Ungleichbehandlung

Letztlich kann beim Vorgehen der Essener Tafel eine rechtswidrige, sozial verwerfliche Ungleichbehandlung nur mit einer teleologischen Auslegung und der Begründung verneint werden, dass Neukunden ohne deutschen Pass nicht für die Zukunft per se ausgeschlossen werden, sondern auf einer Warteliste für die Warenverteilung geführt werden. Diese vorübergehende Warteliste mag dazu dienen, eine dem Anteil unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten an der (Gesamt-)Bevölkerung entsprechende Verteilung der Leistungen an die von der Tafel unterstützten Hilfsbedürftigen (wieder-)herzustellen. Sinn und Zweck des AGG ist es, Diskriminierungen im Privatrechtsverkehr weitestgehend zurückzudrängen, vgl. § 1 AGG. Die Gesetzesbegründung definiert dabei eine „Diskriminierung” als rechtswidrige, sozial verwerfliche Ungleichbehandlung (vgl. Rath/Rütz, NJW 07, 1498, 1500).

 

Trotz aller Kritik am Verhalten der Essener Tafel, die hier ausdrücklich nicht bewertet werden soll, kann von einer „sozial verwerflichen Ungleichbehandlung“ unter Berücksichtigung aller Umstände meines Erachtens kaum gesprochen werden.

 

4.2 Kontrahierungszwang wegen Verstoß gegen AGG?

Rechtsfolgen einer nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG unzulässigen zivilrechtlichen Benachteiligung ‒ wenn man eine solche annähme ‒ wären:

 

  • Die von der Tafel Ausgeschlossenen könnten grundsätzlich die Beseitigung der Beeinträchtigung, d. h. die Aufhebung der Warteliste, verlangen, § 21 Abs. 1 S. 1 AGG.

 

  • Ferner könnten sie möglicherweise auf Unterlassung weiterer Beeinträchtigungen klagen, § 21 Abs. 1 S. 2 AGG.

 

  • Die Tafel könnte schließlich verpflichtet sein, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen, § 21 Abs. 2 S. 1 AGG.

 

Ob eine Schadenersatzverpflichtung aus § 21 Abs. 2 S. 1 AGG zu einem Kontrahierungszwang in Form eines auf Naturalrestitution gerichteten Anspruchs aus § 826 BGB führt, ist umstritten. Im Ergebnis würde die Tafel ‒ bejahte man den Kontrahierungszwang ‒ dazu gezwungen, die ausgeschlossenen Kunden ohne deutschen Pass (ohne Warteliste) zu versorgen. Gegen einen Kontrahierungszwang spricht, dass die Privatautonomie, auf die sich selbstverständlich auch steuerbegünstigte Körperschaften berufen können, in erheblicher Weise durch einen Kontrahierungszwang beschränkt würde. Auch bestehen außerhalb des AGG hinreichende zivilrechtliche Regelungen zum Diskriminierungsschutz, ausführlich dazu Säcker, ZRP 02, 286.

Quelle: Seite 76 | ID 45207102