· Fachbeitrag · Vertragsarztrecht
SG Marburg: Keine Anwendung der neuen Prüfzeiten auf „alte“ Plausibilitätsverfahren
von RA, FA MedR Sören Kleinke, Kanzlei für Medizin- & Sportrecht, Münster, rechtsanwalt-kleinke.de
| Bei der zeitbezogenen Plausibilitätsprüfung führt die Neufassung der Prüfzeiten durch den einheitlichen Bewertungsausschuss mit Wirkung zum 01.04.2020 aus Sicht des Sozialgerichts (SG) Marburg nicht zu einer „Fehlerhaftigkeit“ der zuvor geltenden Prüfzeiten. Dass die Prüfzeiten im Rahmen der EBM-Reform zum 01.04.2020 deutlich, im Durchschnitt um 30 Prozent, reduziert wurden, ändert an dieser Einschätzung nichts (SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 21.08.2020, Az. S 12 KA 1/18). Dass damit das letzte Wort in dieser Frage gesprochen wurde, ist jedoch unwahrscheinlich. |
Diskurs um Kalkulations- und Prüfzeiten
Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) prüfen bei der Plausibilitätsprüfung gemäß § 106d Abs. 2 SGB V den Umfang der je Tag abgerechneten Leistungen im Hinblick auf den damit verbundenen Zeitaufwand des Arztes. Für die einzelnen Leistungen ist seit dem am 01.04.2003 in Kraft getretenen EBM 2000plus die jeweilige Mindestzeitvorgabe im EBM im Anhang 3 angegeben (bei der KBV online unter iww.de/s4294). Dabei wird differenziert zwischen
- der sogenannten Kalkulationszeit und
- der sogenannten Prüfzeit.
Die Kalkulationszeit ist die Zeit, die vom Bewertungsausschuss für die Frage, welche Zeit für die Erbringung der Leistung erforderlich ist und wie dementsprechend die Leistung zu vergüten ist, angesetzt wird. Die Kalkulationszeit ist somit so etwas wie die durchschnittliche Zeit, die Ärzte üblicherweise benötigen, um diese Leistung zu erbringen.
Die Prüfzeit ist demgegenüber eine Art Mindestzeit, die die Ärzte mindestens für die Erbringung der Leistung benötigen. Nach der früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) setzt die Festsetzung von solchen Prüfzeiten voraus, dass die Zeiten so angesetzt sind, dass auch der geübte und erfahrene Arzt diese Leistungen zumindest im Durchschnitt innerhalb kürzerer Zeit nicht ordnungsgemäß erbringen kann. Die Prüfzeiten wurden in der Praxis häufig kritisiert, da diese teilweise sehr hoch angesetzt waren und es auch an einer empirischen Grundlage dafür mangelte.
Basis der Leistungsbewertung von mit dem Standardbewertungssystem (StaBS) kalkulierten Leistungen sind ärztliche und technische Kalkulationszeiten. Der Bewertungsausschuss hat die Kalkulationszeiten überprüft und zu einem großen Teil angepasst. Grundlage der Beratungen waren Berechnungen des Instituts des Bewertungsausschusses, in denen die tatsächliche (empirische) Arbeitszeit der Ärzte für EBM-Leistungen den bis dahin im EBM veröffentlichten Zeiten gegenüber gestellt worden ist. Ausgehend von diesem Ergebnis ist eine umfassende Überprüfung der medizinischen Plausibilität der Zeitansätze unter Berücksichtigung des medizinisch-technischen Fortschritts sowie der Delegationsfähigkeit von Leistungen erfolgt.
Als Folge der Änderung der aktualisierten Kalkulationszeiten wurden auch die Prüfzeiten im Anhang 3 des EBM entsprechend angepasst. Die neuen Kalkulations- und Prüfzeiten sind zum 01.04.2020 in Kraft getreten (AAA-Sonderausgabe „EBM-Reform 2020“ online unter iww.de/s4293). Die Anpassung hat zu einer erheblichen Reduzierung sowohl der Kalkulationszeiten als auch der Prüfzeiten für die meisten Leistungen geführt.
Sachverhalt
Die KV hatte von einer Arztpraxis aufgrund einer zeitbezogenen Plausibilitätsprüfung für die Quartale I/2012 bis III/2013 eine Honorarberichtigung in Höhe von rund 298.000 Euro vorgenommen. Von den Ärzten hatten
- einer einen vollen Versorgungsauftrag und
- zwei einen hälftigen Versorgungsauftrag.
Die maximale Arbeitszeit pro Tag lag bei dem Arzt mit vollem Versorgungsauftrag in den geprüften Quartalen zwischen 5:05 Stunden und 10:33 Stunden, während die maximale Arbeitszeit pro Tag in den geprüften Quartalen bei einem der beiden Ärzte mit nur hälftigem Versorgungsauftrag zwischen 16:14 Stunden und 20:12 Stunden lag!
Die KV hatte die Berechnung des Zeitaufwands ausschließlich nach den für die geprüften Quartale geltenden Zeitvorgaben bemessen. Die neuen, am 01.04.2020 in Kraft getretenen Prüfzeiten wurden nicht berücksichtigt.
Entscheidungsgründe
Das SG führte zur Begründung zunächst aus, dass die Prüfung und Erstellung der Profilzeiten arzt- und nicht praxisbezogen zu erfolgen habe. Für alle unter der lebenslangen Arztnummer angeforderten Leistungen werde ein Tageszeitprofil und ein Quartalszeitprofil ermittelt.
MERKE | Die unterdurchschnittliche Abrechnung des Arztes mit dem vollen Versorgungsauftrag berechtigt seine Kollegen nicht, über ihren Versorgungsauftrag hinausgehende Leistungen abzurechnen. |
Der Umfang des Versorgungsauftrags und letztendlich auch die Obergrenze plausibler Zeitprofile begrenzten interne Vertretungen. Interne Vertretungen seien nicht ohne jede zeitliche Beschränkung zulässig.
Auch die Anwendung der in den geprüften Quartalen geltenden Prüfzeiten wurde seitens des SG Marburg als rechtmäßig angesehen. Das SG Marburg führt aus, dass der Gesetzgeber die Festlegung als untergesetzliches Recht dem EBM-Geber übertragen habe. Aufgrund dessen habe zuletzt auch das Bundessozialgericht (BSG, s. u. a. Urteil vom 24.10.2018, Az. B 6 KA 42/17 R) seine frühere Rechtsprechung modifiziert und stelle nunmehr nur noch auf die Funktion des Bewertungsausschusses als Normgeber ab, dem ein Gestaltungsspielraum zukomme. Die gerichtliche Kontrolle der sogenannten Plausibilitätszeiten sei somit im Wesentlichen auf die Prüfung beschränkt,
- ob sich diese auf eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage stütze,
- ob die Grenzen des Gestaltungsspielraums eingehalten seien und
- ob der Bewertungsausschuss seine Festsetzungen insbesondere frei von Willkür getroffen habe.
Die Neufassung der Prüfzeiten ab dem Quartal II/2020 führe nicht dazu, dass die früheren Prüfzeiten fehlerhaft festgesetzt worden und damit nichtig seien. Es seien keine Umstände ersichtlich, dass die hier maßgeblichen Prüfzeiten im streitgegenständlichen Zeitraum bereits unvertretbar oder willkürlich festgesetzt worden seien. Allein aus einer anderen Einschätzung oder Festlegung der Prüfzeiten zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt könne auf eine Fehlerhaftigkeit in der Vergangenheit kein Rückschluss gezogen werden.
Anmerkungen zum Urteil und Ausblick
Das SG Marburg hat in seiner Entscheidung nicht thematisiert, ob die neuen Prüfzeiten auf die Altverfahren direkt angewendet werden können, sondern ist ohne nähere Begründung davon ausgegangen, dass für die alten Verfahren auch die damaligen Prüfzeiten gelten. Diese Auffassung wird aktuell nicht von allen SGen geteilt. Das SG Dresden hat in einem richterlichen Hinweis eine Neuberechnung nach den neuen Prüfzeiten auch für die alten Quartale angeregt, da vor dem Hintergrund der empirischen Basis für die Neukalkulation fraglich sei, ob die Prüffeststellungen auf Basis der alten Prüfzeiten noch Bestand haben können. Demgegenüber hat das SG Marburg durch einen weiteren Gerichtsbescheid vom 25.09.2020 (Az. S 12 KA 290/19) seine Entscheidung vom 21.08.2020 nochmals bestätigt.
Das SG Marburg ist auch nicht darauf eingegangen, ob beispielsweise speziell bei den Akupunkturleistungen die frühere Prüfzeit unverhältnismäßig ist, da hier die Prüfzeit bei identischem Leistungsinhalt ab dem Quartal II/2020 von zehn auf vier (!) Minuten reduziert wurde. Angesichts der enormen finanziellen Auswirkungen dieser Zeitvorgaben, die häufig zu sechsstelligen Honorarrückforderungen führen, spricht Vieles dafür, dass die frühere Prüfzeit von zehn Minuten als unverhältnismäßig anzusehen ist.
FAZIT | Es ist leider davon auszugehen, dass dieses Thema die Gerichte noch länger beschäftigen wird, da die KVen wahrscheinlich für alle Quartale bis einschließlich dem Quartal I/2020 die alten Prüfzeiten anwenden werden. Die betroffenen Ärzte sollten sich einerseits mit dem Argument, dass die alten Prüfzeiten wegen der fehlenden empirischen Basis nicht anwendbar sind und andererseits ‒ soweit möglich ‒ einzelfallbezogen auf die jeweiligen Abrechnungsziffern mit dem Argument der Unverhältnismäßigkeit verteidigen. Hierzu ist eine detaillierte und komplexe einzelfallbezogene juristische Argumentation mit dem jeweiligen Hintergrund der einzelnen Leistungsziffern und insbesondere der Differenz zwischen den beiden Prüfzeiten sinnvoll. |