· Fachbeitrag · Zustellungsverfahren
Kein Anscheinsbeweis für Kündigungszugang bei Einschreiben
| Der Zugang einer Sendung, die per Einwurf-Einschreiben übermittelt wurde, zu dem im Auslieferungsbeleg angegebenen Zeitpunkt ist kein so typischer Geschehensablauf, dass er einen Anscheinsbeweis begründen kann. Dies gilt zumindest, solange das ordnungsgemäße Zustellungsverfahren nicht nachgewiesen ist. |
Sachverhalt
Der ArbN ist aufgrund eines schriftlichen Arbeitsvertrags seit dem 1.1.17 beim ArbG als Rettungsassistent beschäftigt. Das Bruttomonatsentgelt betrug zuletzt etwa 3.400 EUR. Am 10.5.17 teilte der ArbN dem ArbG seine neue Adresse in A mit. Ab dem 14.6. war der ArbN über den 31.7. hinaus arbeitsunfähig erkrankt. Am 18.6. erhielt der ArbN von seinem Vorgesetzten eine WhatsApp, in welcher er mitteilte, die Geschäftsleitung habe die Kündigung zum 30.7. ausgesprochen. Hierauf schrieb der ArbN zurück und teilte mit, dass seine derzeitige Adresse in B. sei. Mit Schreiben am 19.6. kündigte der ArbG das Arbeitsverhältnis innerhalb der Probezeit zum 31.7. Das Kündigungsschreiben war adressiert an die dem ArbG im Mai 2017 mitgeteilte Adresse in A.
Der ArbN trägt vor, er habe bis heute keine Kündigung erhalten. Auch nach seinem Umzug sei seine Post von seiner ehemaligen Lebensgefährtin an ihn weitergeleitet worden, soweit die Post nicht ohnehin schon durch den Nachsendeauftrag an seine neue Adresse in B. weitergeleitet worden sei. Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses bzw. ein Schreiben des ArbG habe sich darunter nicht befunden. Der ArbG meint, die Kündigung vom 19.6. sei dem ArbN am 29.6. zugestellt worden. Die Kündigung sei am 28.6. bei der Deutschen Post AG aufgegeben und dem ArbN ausweislich der Zustellbestätigung zugestellt worden. Nicht nur die Kündigung sei dem ArbN an die Adresse in A. zugegangen, sondern auch die Gehaltsabrechnung vom Juni. Im Übrigen sei der ArbN verpflichtet gewesen, der Personalabteilung seine aktuellen Personaldaten mitzuteilen. Eine Mitteilung an seinen Vorgesetzten sei hierfür nicht ausreichend. Dieser habe im Übrigen die WhatsApp zum damaligen Zeitpunkt nicht gelesen.
Entscheidungsgründe
Das Arbeitsgericht Reutlingen (19.3.19, 7 Ca 89/18, Abruf-Nr. 212735) hielt die Klage für begründet. Die schriftliche Kündigung des ArbG vom 19.6. habe das Arbeitsverhältnis schon deshalb nicht innerhalb der Probezeit beendet, weil entgegen der Auffassung des ArbG nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Kündigung dem ArbN gemäß § 130 Abs. 1 BGB zugegangen sei.
Die Kammer ist hierbei zunächst der Ansicht, dass ein voller Beweis des Zugangs des Einwurfschreibens nach § 418 ZPO nicht erbracht werden könne, da die Deutsche Post AG als AG geführt werde und ihre Mitarbeiter keine öffentlichen Urkunden im Sinne von § 418 ZPO mehr erstellen könnten. Zudem begründe allein die Vorlage des Einlieferungs- und des Auslieferungsbelegs eines Einwurf-Einschreibens keinen Anscheinsbeweis für den Zugang der Sendung.
Liege einer Tatsache ein typischer Geschehensablauf zugrunde, gelte die Tatsache auf der Grundlage eines Anscheinsbeweises zugunsten der beweisbelasteten Partei als bewiesen, solange die andere Partei nicht die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Ablaufs beweise. Ein typischer Geschehensablauf liege hierbei vor, wenn nach der Lebenserfahrung von einem bestimmten Ereignis auf eine bestimmte Folge geschlossen werde könne.
Der Zugang einer Sendung zu dem in einem Auslieferungsbeleg dokumentierten Zeitpunkts sei kein derart typischer Geschehensablauf, dass er einen Anscheinsbeweis begründen könne.
Die Annahme eines Anscheinsbeweises würde vor diesem Hintergrund einer angemessenen Verteilung des mit der Auswahl einer Zustellungsart verbundenen Risikos widersprechen. Denn der Empfänger einer Sendung könne den Nachweis, dass er ein Schreiben nicht erhalten habe, in der Regel nicht führen, weil es sich hierbei um eine negative Tatsache handele.
Es gebe keine nachvollziehbaren Gründe, das Risiko des Zugangsnachweises einer Sendung mit der Annahme eines Anscheinsbeweises im Ergebnis auf den Sendungsempfänger zu übertragen, zumal dieser keinen Einfluss auf die Wahl der Zustellung habe. Hiervon sei jedenfalls auszugehen, solange nicht nachgewiesen sei, dass der Postzusteller im konkreten Einzelfall das ordnungsgemäße Zustellungsverfahren eingehalten habe. Der ArbG habe lediglich den Einlieferungsbeleg und die Zustellbestätigung in Kopie vorgelegt. Damit genüge sie der ihr obliegenden Darlegungs- und Beweislast für den Zugang ihrer Kündigung nicht.
Relevanz für die Praxis
Nach § 130 Abs. 1 S. 1 BGB wird eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie dem Empfänger zugeht. Das ist der Fall, sobald die Willenserklärung in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangte und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Schreiben Kenntnis zu nehmen (so auch LAG Rheinland-Pfalz 23.9.13, 5 Sa 18/13). Darlegungs- und beweisbelastet für den Zugang einer Kündigung ist der ArbG.
In der Rechtsprechung ist sehr umstritten, welcher Beweiswert den Einlieferungs- und Zustellungsbelegen der Deutschen Post AG zukommt (siehe auch Meinungsstand u. a. LAG Rheinland-Pfalz 23.9.13, 5 Sa 18/13; LAG Köln 14.8.09, 10 Sa 84/09).
Einsender: RA Jochen Link, Kanzlei Brugger & Schießle, Villingen-Schwenningen