· Fachbeitrag · Elternunterhalt
Verwirkung des Anspruchs auf Elternunterhalt
von RAin Thurid Neumann, Konstanz
| Auch Eltern können ihren Unterhaltsanspruch gegen ihre Kinder verwirken. Dieser Beitrag erklärt, was für eine Verwirkung erfüllt sein muss. |
1. Gesetzliche Grundlage
Nach § 1611 BGB, der für den Verwandtenunterhalt gilt, braucht der Pflichtige Unterhalt nur in der Höhe zu leisten, die der Billigkeit entspricht. Gar keinen Unterhalt muss er zahlen, wenn der Unterhaltsberechtigte
- durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden ist,
- seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt hat oder
- sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen seiner nahen Angehörigen schuldig gemacht hat.
Bei allen drei Tatbeständen ist ein Verschulden des Unterhaltsberechtigten erforderlich (Wönne in Wendl-Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis, 8. Aufl., § 2 Rn. 936). Da § 1611 BGB eine Ausnahmevorschrift ist, ist diese eng auszulegen (OLG Karlsruhe FamRZ 04, 971).
Beachten Sie | § 1611 Abs. 1 BGB ist keine Einrede, sondern eine von Amts wegen zu beachtende Einwendung (KG FamRZ 02, 1357).
2. Sittliches Verschulden
Einfaches Verschulden reicht nicht aus. Der BGH definiert ein sittliches Verschulden wie folgt: „Bei einem sittlichen Verschulden handelt es sich um Vorwerfbarkeit von erheblichem Gewicht.Es liegt vor, wenn das Verhalten sittliche Missbilligung verdient. Der Bedürftige muss in vorwerfbarer Weise anerkannte Gebote der Sittlichkeit außer Acht gelassen haben (BGH FamRZ 85, 273).“ Sie muss also durch Verhaltensweisen herbeigeführt worden sein, die bei objektiver Wertung sittlich zu missbilligen sind (z.B. Trunksucht, Spielleidenschaft u.ä. (BGH FamRZ 83, 803). Das Verschulden muss für die Bedürftigkeit ursächlich sein und die Folgen des Verschuldens müssen noch andauern (Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl., § 1611 Rn. 3).
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Führt diese zur Bedürftigkeit, ist ein sittliches Verschulden nur gegeben, wenn der einsichtsfähige Bedürftige eine erfolgversprechende ärztlichen Behandlung verweigert oder nach einer solchen rückfällig wird (OLG Frankfurt FamRZ 11, 226). Weitere Voraussetzung ist, dass die Alkohol- oder Rauschgiftsucht ursächlich für die Bedürftigkeit ist. Beruht die Bedürftigkeit jedoch auf anderen Faktoren (z.B. den persönlichen Lebensumständen), ist es unerheblich, ob die Trunksucht auf einem sittlichen Verschulden beruht (OLG Celle FamRZ 10, 817). |
3. Gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht
Seine eigene Unterhaltspflicht hat verletzt, wer seiner Barunterhaltsverpflichtung nicht nachgekommen ist oder seine Betreuungspflicht nicht erfüllt hat. Der BGH führt hierzu Folgendes aus (BGH FamRZ 04, 1559): „Eltern schulden ihren Kindern entweder Bar- oder Naturalunterhalt (§ 1612 Abs. 2 BGB), zu dem - als Teil der Unterhaltspflicht - auch die Betreuung gehört (§ 1606 Abs. 3 S. 2 BGB). Eine Vernachlässigung der Betreuung ist grundsätzlich ebenfalls geeignet, die Rechtswirkungen des § 1611 Abs. 1 S. 1 BGB auszulösen, auch wenn die Betreuung nicht in vollem Umfang persönlich erbracht werden muss.“ Im konkreten Fall hatte die Mutter ihr Kind im Kleinkindalter bei den Großeltern zurückgelassen und sich in der Folgezeit nicht mehr in nennenswertem Umfang um es gekümmert. Deshalb schloss der BGH nicht aus, dass die Voraussetzungen des § 1611 Abs. 1 S. 2 BGB vorlagen.
4. Schwere Verfehlung
Eine schwere Verfehlung ist eine tiefgreifende Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Pflichtigen. Es muss also ein besonders grober Mangel an verwandtschaftlicher Gesinnung und menschlicher Rücksichtnahme vorliegen (OLG Celle FamRZ 93, 1235).
- In einem Fall des LG Hannover hatte sich der Vater bereits vor Ehescheidung nur wenig um seinen 12-jährigen Sohn gekümmert und später überhaupt nicht mehr. Darin sah das LG eine aktive Beeinträchtigung der Vater-Kind-Beziehung und eine Verletzung der Fürsorgepflicht im seelisch-emotionalen Bereich (LG Hannover FamRZ 91, 1094; s.a. AG Helmstedt FamRZ 01, 1395).
- Der BGH bejaht eine schwere Verfehlung auch bei einer durch Unterlassenherbeigeführten Verletzung elterlichen Pflichten (z.B. Aufsichtspflicht oder Pflicht zu Beistand und Rücksicht i.S. von § 1618a BGB (BGH FamRZ 10, 1888; 04, 1559). Bei einseitigem Kontaktabbruch zum volljährigen Sohn müssen weitere Umstände hinzukommen (12.2.14, XII ZB 607/12, SR 14, 56 ).
- Eine schwere Verfehlung hatte auch das AG Leipzig bei einer Mutter bejaht, die während der Ehe schuldhaft ihre Aufsichtspflicht verletzt und die Kinder vernachlässigt hat. Nach der Ehescheidung ist sie ihrer Unterhaltsverpflichtung nicht nachgekommen und hat über Jahre hinweg keinen Kontakt zu ihrer Tochter gesucht (AG Leipzig FamRZ 97, 965).
- Auch eine schwere Kränkung kann eine schwere Verfehlung sein. Es ist aber zu unterscheiden, ob sie vorsätzlich mit der Absicht einer tiefen Verletzung vorgenommen wurde oder ob sie Folge eines Familienkonflikts ist, der nicht hauptsächlich vom Elternteil zu vertreten ist (Wendl-Dose/Wönne, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis, 8. Aufl., § 2 Rn. 936).
- Hat ein Elternteil ein Kind emotional vernachlässigt, kann es bei einer besonders schwierigen Lebenssituation an der schweren Verfehlung fehlen (OLG Koblenz FamRZ 02, 1212). Denn gemäß § 1611 Abs. 1 Alt. 3 BGB setzt die Verwirkung voraus, dass sich der Unterhaltsberechtigte vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht hat, weshalb es nicht ausreicht, wenn der Unterhaltsberechtigte nur im natürlichen Sinne vorsätzlich gehandelt hat (BGH FamRZ 10, 1888).
- Eine schwere Verfehlung kann ferner vorliegen, wenn der unterhaltsberechtigte Elternteil es vorwerfbar unterlassen hat, eine ihm zumutbare Vorsorge für sein Alter oder den Fall der Krankheit vorzunehmen (AG Frankfurt/M. FamRZ 02, 1194; OLG Hamm FamRZ 02, 1357).
Wichtig | Ob ein Tatbestand des § 1611 Abs. 1 BGB erfüllt ist, muss stets unter Berücksichtigung alle maßgeblichen Umstände des Verhaltens des Pflichtigen bestimmt werden (OLG Hamm FamRZ 07, 165). Folge: Es ist eine zweifache Billigkeitsabwägungvorzunehmen (OLG Hamm FamRZ 07, 165):
Checkliste / Zweifache Billigkeitsabwägung in § 1611 Abs. 1 BGB |
Bei der Billigkeitsabwägung sind vor allem zu berücksichtigen:
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Beachten Sie | Hat das Kind dem Elternteil verziehen, scheidet Verwirkung aus (Brudermüller, a.a.O., § 1611 Rn. 9; KG FamRZ 02, 1357).
5. Folgen der Verwirkung
Hat ein Unterhaltsbedürftiger seinen Unterhaltsanspruch verwirkt, tritt keine Ersatzhaftung anderer Verwandter ein (§ 1611 Abs. 3 BGB). Dies gilt sowohl bei gleichrangigen als auch bei nachrangigen Unterhaltspflichtigen (Wendl-Dose/Wönne, a.a.O. Rn. 937). Haften also mehrere Kinder anteilig für den Unterhalt eines Elternteils und hat der Elternteil seinen Unterhaltsanspruch gegen ein Kind verwirkt, haften auch die anderen Kinder nicht.
Frage: Ein Elternteil hat seinen Unterhaltsanspruch gegen ein Kind verwirkt, das aber ohnehin nicht leistungsfähig ist. Tritt dann auch die Sperrwirkung des § 1611 Abs. 3 BGB ein? Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass dann die Sperrwirkung nicht eintritt, da das nicht leistungsfähige Kind ohnehin aus der Reihe der Pflichtigen ausgeschieden sei (Wendl-Dose/Wönne, a.a.O.). Dies kann jedoch nicht überzeugen, da ein vorwerfbares Verhalten des Unterhaltsbegehrenden nicht deshalb ungesühnt bleiben soll, dass ein in Anspruch genommenes Kind nicht leistungsfähig ist.