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· Fachbeitrag · Elternunterhalt

Verwirkung des Anspruchs auf Elternunterhalt bei Kontaktabbruch zum unterhaltspflichtigen Kind

von VRiOLG Dr. Jürgen Soyka, Düsseldorf

  • 1. Eine schwere Verfehlung gemäß § 1611 Abs. 1 S. 1, Alt. 3 BGB kann regelmäßig nur bei einer tiefgreifenden Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Pflichtigen angenommen werden.
  • 2. Ein vom unterhaltsberechtigten Elternteil ausgehender Kontaktabbruch ist regelmäßig eine Verfehlung. Sie führt indessen nur ausnahmsweise bei Vorliegen weiterer Umstände, die das Verhalten des Unterhaltsberechtigten auch als schwere Verfehlung i.S. des § 1611 Abs. 1 S. 1, Alt. 3 BGB erscheinen lassen, zur Verwirkung des Elternunterhalts.

(BGH 12.2.14, XII ZB 607/12, n.v., Abruf-Nr. 140692)

 

Sachverhalt

Der Sozialhilfeträger verlangt vom Sohn des Verstorbenen, aus übergegangenem Recht Elternunterhalt. Die Ehe seiner Eltern wurde geschieden. Der Sohn verblieb im Haushalt seiner Mutter und hatte anfangs noch einen losen Kontakt zum Vater. Nach dem Abitur brach der Kontakt zu seinem Vater ab. Dieser bestritt seinen Lebensunterhalt als Rentner aus den Erträgen einer Lebensversicherung sowie einer geringen Altersrente. Der Vater errichtete ein notarielles Testament, in dem er seine Bekannte zur Alleinerbin einsetzte. Zudem bestimmte er, dass der Sohn nur den strengsten Pflichtteil erhalten soll, da zu ihm seit rund 27 Jahren kein Kontakt mehr besteht. Der Vater verzog in eine Heimeinrichtung, in der er starb. Der Sozialhilfeträger nimmt den Sohn wegen der seinem Vater in der Zeit von Februar 09 bis einschließlich Januar 12 erbrachten Sozialleistungen auf Zahlung in Anspruch. Das AG hat dem Antrag stattgegeben. Auf die Beschwerde des Sohnes hat das OLG den Antrag zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe

Nach § 1611 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 BGB ist für eine Verwirkung des Unterhaltsanspruchs erforderlich, dass sich der Unterhaltsberechtigte vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht hat. Die Unterhaltspflicht entfällt vollständig, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten im Hinblick darauf grob unbillig wäre.

 

Vorliegen einer schweren Verfehlung

Eine schwere Verfehlung kann nur bei einer tiefgreifenden Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Pflichtigen angenommen werden. Als Begehungsformen kommen sowohl aktives Tun als auch Unterlassen in Betracht. Für Letzteres muss der Berechtigte eine Rechtspflicht zum Handeln verletzt haben. Es kann auch eine durch Unterlassen herbeigeführte Verletzung elterlicher Pflichten wie etwa der Pflicht zu Beistand und Rücksicht i.S. von § 1618a BGB, die auch auf das Verhältnis zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern anzuwenden ist, als Verfehlung gegen das Kind gesehen werden.

 

Eine schwere Verfehlung im vorgenannten Sinn ist nicht auf einzelne schwerwiegende Übergriffe gegen den Unterhaltspflichtigen oder dessen nahe Angehörige beschränkt. Insbesondere kann ein solches Verhalten sich zum einen in einzelnen besonders schwerwiegenden Verfehlungen, aber auch in einer Gesamtschau des Verhaltens des Unterhaltsberechtigten zeigen. Selbst wenn die einzelnen Verfehlungen dabei nicht besonders schwer wiegen, kommt es maßgeblich darauf an, ob sie insgesamt zeigen, dass sich der Unterhaltsberechtigte in besonders vorwerfbarer Weise aus der familiären Solidarität gelöst hat. Damit hat er letztlich bezogen auf seine familiären Verpflichtungen eine schwere Verfehlung begangen.

 

Verwirkung bei Kontaktabbruch nur in Ausnahmefällen

Eine vom Unterhaltsberechtigten ausgehende Kontaktverweigerung kann aber nur in ganz besonderen Ausnahmefällen dazu führen, dass der Unterhaltsanspruch verwirkt. Es sei denn, es treten weitere Umstände hinzu. Beim Kindesunterhalt vermag die Ablehnung jeder persönlichen Kontaktaufnahme zum unterhaltspflichtigen Elternteil durch das volljährige Kind allein oder auch i.V. mit unhöflichen oder unangemessenen Äußerungen diesem gegenüber nicht zu rechtfertigen, dass der Unterhalt herabgesetzt oder ausgeschlossen wird. Demgegenüber kann beim Elternunterhalt Folgendes eine Verwirkung rechtfertigen:

 

  • Beispiel: Bei Verlassen im Kleinalter ist Elternunterhalt verwirkt

Ein Elternteil hat sein Kind, das er später auf Elternunterhalt in Anspruch nimmt, schon im Kleinkindalter bei den Großeltern zurückgelassen und sich in der Folgezeit nicht mehr in nennenswertem Umfang darum gekümmert.

 

Hier offenbart das Unterlassen des Elternteils einen so groben Mangel an elterlicher Verantwortung und menschlicher Rücksichtnahme, dass nach Abwägung aller Umstände von einer schweren Verfehlung ausgegangen werden kann.

 

 

Bezogen auf den vorliegenden Fall liegt keine schwere Verfehlung vor. Zwar hat der Vater eine Beziehung zum Sohn vermieden und diesen dadurch nachhaltig belastet. Der Vater hat gegen seine Verpflichtung verstoßen, seinem Sohn beizustehen und auf seine Belange Rücksicht zu nehmen, auch wenn § 1618a BGB zum Zeitpunkt des Kontaktabbruches noch nicht galt.

 

Enterbung des Sohnes ist keine Verfehlung

Der Vater hat seine Kontaktverweigerung auch noch dadurch dokumentiert, dass er seinen Sohn enterbt hat. Allerdings stellt die Errichtung des Testaments selbst keine Verfehlung dar, weil der Vater lediglich von seinem Recht auf Testierfreiheit Gebrauch gemacht hat.

 

Zudem wurde das Verhalten des Vaters seinem Sohn gegenüber nicht durch die seinerzeit langjährig bestehenden Ehekonflikte relativiert. Die persönlichen Konflikte haben unmittelbar nur die Eheleute betroffen. Sie haben den Vater nicht dazu berechtigt, sich auch gegenüber seinem Sohn zurückzuziehen. Das Verhalten des Vaters weist aber nicht einen so großen Mangel an elterlicher Verantwortung und menschlicher Rücksichtnahme auf, dass von einer schweren Verfehlung ausgegangen werden könnte. Bis zur Trennung der Eltern und mithin in den ersten 18 Lebensjahren des Sohnes war der Vater Teil des Familienverbands und hat sich regelmäßig um den Sohn gekümmert. Damit hat der Vater gerade in den regelmäßig eine besonders intensive elterliche Fürsorge erfordernden Lebensphasen seines Sohnes bis zum Erreichen der Volljährigkeit im Wesentlichen den sich aus seiner Elternstellung folgenden Rechtspflichten genügt. Zwar war der Sohn zum Zeitpunkt des Kontaktabbruchs nach der damaligen Rechtslage noch nicht volljährig, er hatte jedoch bereits sein Abitur abgelegt und damit eine gewisse Selbstständigkeit erlangt. Damit unterscheidet sich der Fall von dem Fall, in dem die Mutter ihr Kind im Kleinkindalter verlassen hat.

 

Anspruchsübergang nicht ausgeschlossen

§ 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII steht einem Anspruchsübergang auf den Sozialhilfeträger nicht entgegen. Dies ist nur der Fall, soweit er eine unbillige Härte bedeuten würde. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, weil keine sozialen Belange ersichtlich sind, die einen Übergang des Anspruchs nach öffentlich-rechtlichen Kriterien ausschließen könnten. Insbesondere ist die Inanspruchnahme des Sohns angesichts seiner Einkommensverhältnisse nicht unzumutbar, zumal die Unterhaltspflicht ohnehin zeitlich begrenzt ist.

Praxishinweis

Diese Problematik wird auch in Zukunft bedeutsam sein. Sozialhilfeträger werden zunehmend Scheidungskinder auf Zahlung von Elternunterhalt für einen Elternteil in Anspruch nehmen, der im Zuge der Scheidung der Eltern den Kontakt zu den Kindern abgebrochen hat. Brechen Eltern den Kontakt zu minderjährigen Kindern ab, die noch besonders schutzbedürftig sind, muss bezüglich des Elternunterhalts im Einzelnen geprüft werden, inwieweit dem unterhaltsbedürftigen Elternteil der Kontaktabbruch vorwerfbar ist.

 

Langjährige Ehekonflikte relativieren Schwere des Fehlverhaltens nicht

Der BGH weist zwar darauf hin, dass die langjährig bestehenden Ehekonflikte die Schwere des Fehlverhaltens nicht relativieren, weil die persönlichen Konflikte unmittelbar nur die Eheleute betreffen. Im Regelfall wirken sich diese aber auch auf die Beziehung zu den Kindern aus. Leider zeigt sich in vielen Fällen, dass Kinder von einem Elternteil instrumentalisiert werden und der andere Elternteil gegen alle möglichen Einschränkungen der Kontaktaufnahme ankämpfen muss. Viele Elternteile resignieren in solchen Fällen und brechen den Kontakt zu dem Kind ab, häufig auch deswegen, um das Kind nicht in Illoyalitätskonflikte zu zwingen und ihm Leiden zu ersparen. Werden derartige Gründe für einen Kontaktabbruch geltend gemacht, müssen die Hintergründe aufgeklärt werden, um festzustellen, ob hier eine vorwerfbare Verfehlung anzunehmen ist oder nicht.

Keine schwere Verfehlung bei Kontaktabbruch wegen Erkrankung

Der BGH hat auch in einem Fall eine gröbliche Vernachlässigung der Elternpflicht als besondere Ausgestaltung der Unterhaltspflicht abgelehnt, in dem zwischen dem bedürftigen Vater und seinem Kind überhaupt kein Kontakt entstanden ist. Der Vater war psychisch erkrankt. Deswegen war sein gesamtes Fehlverhalten nicht als schwerwiegende Verfehlung einzustufen (BGH FamRZ 10, 1888).

 

Vorliegen einer unbilligen Härte i.S. von § 94 Abs. 2 und 3 SGB XII

Da im Regelfall ein Sozialhilfeträger tätig wird, ist als nächstes zu prüfen, ob der Forderungsübergang nach § 94 Abs. 2 und 3 SGB XII eine unbillige Härte darstellt. Dies ist allerdings nicht schon gegeben, wenn ein Verhalten an sich unter die Voraussetzungen des § 1611 BGB fällt, aber ein Erfordernis, wie z.B. das Verschulden, nicht gegeben ist. Voraussetzung ist vielmehr, dass sich die unbillige Härte aus Umständen ergeben muss, die einen Bezug zum Sozialrecht haben. Diese können insbesondere gegeben sein, wenn

  • der auf Unterhaltszahlung in Anspruch genommene in der Vergangenheit erhebliche Pflegeleistungen für den Elternteil erbracht hat
  • oder die Unterhaltspflicht den Verpflichteten mit Rücksicht auf die Dauer und Höhe seines Bedarfs nachhaltig und unzumutbar beeinträchtigt.

 

Einen Sonderfall hat der BGH im Jahr 2004 entschieden. In dem damaligen Fall hat sich der Vater nicht um das Kind kümmern können, weil er zunächst Kriegsdienst im zweiten Weltkrieg geleistet hat und anschließend aufgrund einer psychischen Erkrankung fast ausschließlich in Heimen untergebracht war (BGH FK 04, 189, FamRZ 04, 1097, Abruf-Nr. 041616). Auch diesen traf kein Verschulden an der Vernachlässigung seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem auf Unterhalt in Anspruch genommenen Kind. Hier hatte der BGH allerdings einen Forderungsübergang nach § 94 Abs. 3 SGB XII verneint und dies wie folgt begründet: Die Krankheit des Vaters war auf dessen Kriegsdienst zurückzuführen. Dieser beruhte auf einem dem Staat zuzurechnenden Verhalten. Damit war der Bezug zum Sozialrecht hergestellt.

 

Die Problematik ließe sich aber dadurch umgehen, den bedürftigen Elternteil unter Betreuung zu stellen und den Betreuer zu veranlassen, den Unterhalt für den Elternteil geltend zu machen, dem gegenüber die sozialrechtlichen Erwägungen nicht gelten.

 

Weiterführende Hinweise

  • Zur Verwirkung mit weiteren Beispielen der folgende Beitrag von Neumann, SR 14, 60
  • BGH FamRZ 04, 1559, zur Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs der Mutter, die das in Anspruch genommene Kind im Kleinkindalter bei den Großeltern zurückgelassen hat
  • BGH FK 04, 189, dazu, dass der Übergang des Unterhaltsanspruchs eines Elternteils auf den Träger der Sozialhilfe wegen unbilliger Härte ausgeschlossen sein kann, wenn der Elternteil wegen einer auf seine Kriegserlebnisse zurückzuführenden psychischen Erkrankung nicht in der Lage war, für das auf Elternunterhalt in Anspruch genommene Kind zu sorgen
Quelle: Ausgabe 04 / 2014 | Seite 56 | ID 42602076