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· Fachbeitrag · Pflichtteilsrecht

Wichtige Hinweise zum Pflichtteilsanspruch eines entfernteren Abkömmlings

von Prof. Dr. Gerd Brüggemann, Münster

| Gemäß § 2303 HGB sind pflichtteilsberechtigt die Abkömmlinge, der Ehegatte/Lebenspartner und - falls keine Abkömmlinge vorhanden sind - die Eltern. Im Folgenden wird untersucht, welche Auswirkungen der Verzicht eines näheren Abkömmlings für das Erb- und Pflichtteilsrecht entfernterer Abkömmlinge oder gar die Eltern des Erblassers haben kann. Der BGH hat mit Urteil vom 27.6.12 (IV ZR 239/10, ErbBstg 12, 270 , ZEV 12, 474. Abruf-Nr. 122110 ) - trotz deutlicher Kritik an der Entscheidung - wichtige Hinweise zu den Folgen eines Erb- oder Pflichtteilsverzichts eines Abkömmlings gegeben. |

1. Erb- und Pflichtteilsverzicht

Gemäß § 2346 Abs. 1 BGB können Verwandte sowie der Ehegatte des Erblassers durch Vertrag auf ihr gesetzliches Erbrecht verzichten. Der Verzichtende ist damit von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen, wie wenn er zur Zeit des Erbfalls nicht mehr lebte; er hat kein Pflichtteilsrecht. Gemäß § 2346 Abs. 2 BGB kann der Verzicht allerdings auch auf das Pflichtteilsrecht beschränkt werden. In diesem Fall ist die gesetzliche Erbfolge nicht ausgeschlossen, sodass es - anders als beim Erbverzicht - einer Enterbung bedarf, wenn der Pflichtteilsberechtigte nichts erhalten soll.

 

§ 2309 BGB bestimmt, dass entferntere Abkömmlinge und die Eltern des Erblassers insoweit nicht pflichtteilsberechtigt sind, als ein Abkömmling, der sie im Falle der gesetzlichen Erbfolge ausschließen würde, den Pflichtteil verlangen kann oder das ihm Hinterlassene annimmt. Der BGH (27.6.12, IV ZR 239/10, ErbBstg 12, 270, ZEV 12, 474) musste sich im Wege einer Auslegung des § 2309 BGB mit der Frage befassen, ob ein entfernterer Abkömmling auch dann pflichtteilsberechtigt sein kann, wenn der nähere Abkömmling, der einen Erb- und Pflichtteilsverzicht erklärt hat, gleichwohl testamentarischer Alleinerbe wird.

2. Musterfall (nach BGH 27.6.12, IV ZR 239/10)

Großvater GV und seine Ehefrau GM hatten ein gemeinschaftliches Testament in notarieller Form errichtet, mit dem sie sich gegenseitig zum alleinigen und ausschließlichen Erben einsetzten und ihre Enkelkinder zu Schlusserben bestimmten. Dem Überlebenden des Erstversterbenden wurde das Recht vorbehalten, über seine Beerbung neue hiervon abweichende Bestimmungen zu treffen. Dabei durfte er aber letztwillig immer nur solche Personen bedenken, die zum Kreis der gemeinschaftlichen Abkömmlinge oder deren Abkömmlinge gehören. Am selben Tag verzichtete die Tochter T gegenüber ihren Eltern GM und GV allein für ihre Person, nicht aber für ihre Abkömmlinge, auf das ihr zustehende gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht.

 

Nach dem Tod der GM setzte GV mit notariellem Testament T zur alleinigen und ausschließlichen Erbin ein und bestimmte Enkelin E zur Ersatzerbin. Weitere Abkömmlinge waren nicht vorhanden. Nachdem auch GV gestorben war, macht Enkelin E gegen ihre Mutter, also die T, Pflichtteilsansprüche nach dem verstorbenen GV in Höhe der Hälfte des Nachlasswerts geltend.

 

3. Enkelin E ist grundsätzlich pflichtteilsberechtigt

Gemäß dem auch für das Pflichtteilsrecht geltenden Prinzip der Erbfolge nach Klassen und Stämmen i.S. der §§ 1924 ff, BGB ist die Enkelin E pflichtteilsberechtigt gemäß § 2303 Abs. 1 S. 1 BGB. Zwar ist ihre Mutter T der nähere und als solcher nach § 1924 Abs. 2 BGB grundsätzlich vorrangige Abkömmling des Erblassers. Jedoch gilt T infolge ihres Erb- und Pflichtteilsverzichts gemäß § 2346 Abs. 1 S. 2 HS. 1 BGB als vorverstorben, sodass E grundsätzlich an ihrer Stelle in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge eingerückt ist.

 

PRAXISHINWEIS | Hätte T gemäß § 2346 Abs. 2 BGB nur auf ihren Pflichtteil, nicht aber auf ihr Erbrecht verzichtet, wäre T weiterhin gesetzlich erbberechtigt geblieben.

 

Ihre Position als gesetzliche Erbin von GV hat die Enkelin E jedoch aufgrund der testamentarischen Regelung verloren. GV war weder durch das gemeinschaftliche Testament noch durch den Erbverzicht seiner Tochter T daran gehindert, diese als Erbin einzusetzen (BGH 13.4.11, IV ZR 204/09, ErbBstg 11, 155).

4. Ausschluss von der Pflichtteilsberechtigung nach § 2309 BGB

§ 2309 BGB bestimmt, dass entferntere Abkömmlinge und die Eltern des Erblassers insoweit nicht pflichtteilsberechtigt sind, als ein Abkömmling, der sie im Falle der gesetzlichen Erbfolge ausschließen würde, den Pflichtteil verlangen kann oder das ihm Hinterlassene annimmt. Der BGH geht davon aus, dass mit dem Verweis auf die gesetzliche Erbfolge lediglich der Personenkreis festgelegt wird, deren Pflichtteilsrechte die Berechtigung des entfernteren Abkömmlings ausschließen. Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschriften zum Pflichtteils- und Erbverzicht leitet er weiter ab, dass auch für den Fall, dass ein entfernterer Abkömmling aufgrund eines Pflichtteilsverzichts in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge aufrückt, keine Abkehr vom grundlegenden Prinzip der Vermeidung einer Doppelbegünstigung des Stammes und der Vermeidung einer Vervielfältigung der auf dem Nachlass liegenden Pflichtteilslast erfolgt sei.

 

a) Ausschluss von der Pflichtteilsberechtigung gemäß § 2309 Alt. 1 BGB

Entferntere Abkömmlinge und die Eltern des Erblassers sind gemäß § 2309 Alt. 1 BGB insoweit nicht pflichtteilsberechtigt, als ein Abkömmling, der sie bei gesetzlicher Erbfolge ausschließen würde, den Pflichtteil verlangen kann.

 

PRAXISHINWEIS | Es genügt, dass der nähere Abkömmling den Pflichtteil geltend machen könnte, tatsächlich verlangen muss er ihn nicht.

 

Im vorliegenden Fall führt der Erb- und Pflichtteilsverzicht der Tochter T jedoch nicht dazu, dass die Enkelin E keinen Pflichtteil verlangen kann. Er hat lediglich zur Konsequenz, dass Tochter T aufgrund ihres Pflichtteilsverzichts bei gesetzlicher Erbfolge keinen Pflichtteil verlangen kann. Der Erb- und Pflichtteilsverzicht der Tochter T führt nicht dazu, dass auch die Enkelin E keinen Pflichtteil verlangen kann. Ihr Anspruch ergibt sich vielmehr daraus, dass die Tochter T aufgrund ihres Pflichtteilsverzichts im Falle der gesetzlichen Erbfolge nicht den Pflichtteil verlangen kann.

 

Dem liegt das Verständnis des BGH zugrunde, dass § 2309 BGB eine Beschränkung des Pflichtteilsrechts enthält mit dem Ziel, eine Vervielfachung der Pflichtteilsansprüche bzw. der Pflichtteilslasten des Erben zu verhindern. Da jeder Stamm ohne Rücksicht auf die Zahl seiner Angehörigen nur einen gesetzlichen Erbteil erhält, soll ihm auch nur ein Pflichtteil zukommen.

 

b) Ausschluss von der Pflichtteilsberechtigung gemäß § 2309 Alt. 2 BGB

Entferntere Abkömmlinge und die Eltern des Erblassers sind gemäß § 2309 Alt. 2 BGB insoweit nicht pflichtteilsberechtigt, als ein Abkömmling, der sie im Falle der gesetzlichen Erbfolge ausschließen würde, das ihm Hinterlassene annimmt.

 

PRAXISHINWEIS | Während bei der ersten Alternative der Pflichtteil nicht tatsächlich verlangt werden muss, muss der vorrangig Berechtigte bei der zweiten Alternative das Hinterlassene tatsächlich annehmen, damit es zu einer Anrechnung auf den Pflichtteil des Zweitberechtigten kommt.

 

In der Rechtsprechung und im Schrifttum ist der Begriff des Hinterlassenen i.S. des § 2309 Alt. 2 BGB allerdings noch nicht abschließend geklärt. Der BGH geht davon aus, dass nach allgemeiner Ansicht letztwillige Zuwendungen des Erblassers an den näheren Abkömmling als „hinterlassen“ gelten können und dies nach überwiegender Auffassung auch für den Fall bejaht wird, dass der nähere Abkömmling auf sein gesetzliches Erb- und Pflichtteilsrecht verzichtet hat.

 

Eine einengende Auslegung des Begriffs „das ihm Hinterlassene“ auf das zur Befriedigung oder Abwendung eines sonst bestehenden Pflichtteilsanspruchs letztwillig Zugewendete lehnt der BFH wegen des allgemeinen Gesetzeswortlauts ebenso ab wie eine Differenzierung nach den verschiedenen Gründen, aus denen der nähere Abkömmling weggefallen ist. Eine einengende Auslegung könne zudem nicht mit dem § 2309 BGB beherrschenden Grundsatz vereinbart werden, dass ein Stamm lediglich einen Pflichtteil und diesen nicht neben einer Zuwendung erhalten soll.

 

Wird zur grundsätzlichen Auslegung des § 2309 BGB dem BGH und der herrschenden Ansicht im Schrifttum gefolgt, wäre Enkelin E nicht pflichtteilsberechtigt, da Tochter T als ein Abkömmling, der die Enkelin E im Falle der gesetzlichen Erbfolge ausschließen würde, eine letztwillige Zuwendung von GV erhalten und damit „das ihm Hinterlassene“ angenommen hat. Der BGH hält den Meinungsstreit für den konkret zu beurteilenden Fall aber letztlich nicht für entscheidungserheblich. Tochter T hat gegenüber ihren Eltern GM und GV allein für ihre Person, nicht aber für ihre Abkömmlinge auf das ihr zustehende gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht verzichtet. Der Erblasser hat die gemäß § 2346 Abs. 1 S. 2 BGB aus der gesetzlichen Erb- und Pflichtteilsfolge ausgeschiedene Tochter T durch Verfügung von Todes wegen zum gewillkürten Alleinerben bestimmt. Diese gehörte gemeinsam mit der in ihre gesetzliche Erbenstellung nachgerückten Enkelin E dem einzigen Stamm gesetzlicher Erben nach dem Erblasser an.

 

Für diesen Fall einer ausschließlich auf einen Stamm bezogenen Erbfolge ist § 2309 Alt. 2 BGB nach dem BGH einschränkend auszulegen. Nach dem Sinn und Zweck der Norm sowie der Dokumentation im Gesetzgebungsverfahren ergibt sich als Ergebnis dieser einschränkenden Auslegung, dass - letztwillige oder lebzeitige - Zuwendungen an den näheren Abkömmling nicht als anrechnungspflichtiges „Hinterlassenes“ i.S. des § 2309 Alt. 2 BGB gelten, wenn eine Doppelbelastung des Nachlasses nicht ausgelöst wird. Damit reicht es für den Ausschluss des Pflichtteilsrechts nicht aus, dass T das Hinterlassene angenommen hat. Denn als hinterlassen i.S. des § 2309 BGB kann nicht gelten, was dem näheren Abkömmling durch gewillkürte Erbeinsetzung zufällt, wenn der nähere und der entferntere Abkömmling demselben Stamm angehören und nur dieser Stamm letztwillig bedacht ist.

5. Konsequenzen für die Praxis

Die Praxis wird sich an dieser Entscheidung ausrichten müssen (Lange, ZEV 15, 69). Ein Pflichtteilsanspruch hätte für E wirksam ausgeschlossen werden können, wenn auch E oder T für sich und ihre Abkömmlinge auf den Pflichtteil verzichtet hätte. Wie zu entscheiden wäre, wenn bei sonst gleichem Sachverhalt zwei oder mehr Stämme vorhanden sind und mit späterer letztwilliger Verfügung eine Erbeinsetzung nach Stämmen erfolgt oder - ebenfalls bei sonst gleichem Sachverhalt - keine entfernteren Abkömmlinge, aber Eltern vorhanden sind, bleibt offen.

6. Enterbung des näheren Abkömmlings und Pflichtteilsrecht

Der BGH hatte bereits in einem früheren Urteil entschieden, dass für das Pflichtteilsrecht auch derjenige Abkömmling als vorverstorben gilt, den der Erblasser enterbt hat (BGH 13.4.11, IV ZR 204/09, ErbBstg 11, 155, ZEV 11, 366, Haas/Hoßfeld, NJW 11, 1878; siehe auch Lange, ZEV 15, 69). Der BGH hat dies - entgegen einer im Schrifttum ebenfalls vertretenen Ansicht - damit begründet, dass im Falle der Enterbung des näheren Abkömmlings dem entfernteren Berechtigten ein gesetzliches Erbrecht zusteht. Ein gesetzliches Erbrecht des entfernteren Abkömmlings besteht somit nicht nur, wenn der nähere Abkömmling zum Zeitpunkt des Erbfalls nicht mehr lebt (§ 1924 Abs. 3 BGB); der entferntere Abkömmling erwirbt nach Auffassung des BGH auch dann ein eigenständiges gesetzliches Erbrecht, wenn der näher Berechtigte nicht gesetzlicher Erbe wird, etwa weil er die Erbschaft ausgeschlagen oder einen Erbverzicht vereinbart hat oder weil er für erbunwürdig erklärt wurde.

 

Damit macht der Erblasser im Falle der Enterbung des näher Berechtigten den Weg frei für das gesetzliche Erbrecht der entfernter Berechtigten. Ist ein Mitglied dieser Personengruppe sodann durch letztwillige Verfügung von der Erbschaft ausgeschlossen, so steht ihm auch ein Pflichtteilsanspruch zu.

 

Hat der näher Berechtigte aber keinen Erbverzicht, sondern nur einen Pflichtteilsverzicht erklärt und erstreckt sich sein Verzicht nicht auf die Abkömmlinge, stellt sich allerdings die Frage, ob die Abkömmlinge oder - falls keine Abkömmlinge vorhanden sind - die Eltern in den Kreis der konkret Pflichtteilsberechtigten aufrücken. Dies ist der Fall, wenn keine der beiden Alternativen des § 2309 BGB - Pflichtteilsrecht geltend machen oder das Hinterlassene annehmen - in der Person des verzichtenden näheren Berechtigten einschlägig ist.

 

Im Schrifttum wird hierzu die Auffassung vertreten, dass der nur auf seinen Pflichtteil verzichtende näher Berechtigte nicht wegfällt und daher auch nicht den Weg für den entfernter Berechtigten in den Kreis der konkret Pflichtteilsberechtigten freimacht. Er kann seinen Pflichtteil geltend machen i.S. von § 2309 Alt. 1 BGB, da er nicht kraft Gesetzes oder aufgrund einer Vorversterbensfiktion ausgeschlossen ist. Zur Begründung wird angeführt, dass der Verzichtende, der zurzeit des Erbfalls noch lebt, rechtlich einem Pflichtteilsberechtigten gleichzustellen ist, der seinen Pflichtteil nach dem Erbfall nicht geltend macht. Ein solches Nichtgeltendmachen kommt aber nicht etwa dem entfernter Berechtigten, sondern allein dem Erben zugute (Lange, ZEV 15, 69).

 

Wird dieser Auslegung des § 2309 BGB gefolgt, ist sichergestellt, dass die mit dem Verzicht beabsichtigte Erweiterung der Testierfreiheit des Erblassers auch tatsächlich erreicht wird. Denn selbst die Erstreckung der Verzichtswirkung auf die Abkömmlinge (§ 2349 BGB), wie dies im Berliner Testament regelmäßig erfolgt, könnte sonst nicht davor schützen, dass die Eltern des Verzichtenden ihren Pflichtteil geltend machen können, falls keine Abkömmlinge vorhanden sind.

Quelle: Ausgabe 02 / 2016 | Seite 32 | ID 43658356