· Fachbeitrag · Betreuung
Widersprüche zwischen SV-Gutachten und fachärztlichen Stellungnahmen sind aufzuklären
von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FA FamR, Prof. Dr. Jesgarzewski & Kollegen Rechtsanwälte, Osterholz-Scharmbeck, FOM Hochschule Bremen
| Das Betreuungsgericht darf seine Entscheidungsfindung nur dann auf die Feststellungen in einem gerichtlichen Sachverständigengutachten stützen, wenn Widersprüche zu (fach-)ärztlichen Stellungnahmen hinreichend aufgeklärt sind. Der Sachverständige ist nach dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs auch im Beschwerdeverfahren ergänzend zu widersprechenden (fach-)ärztlichen Stellungnahmen zu hören. Hierauf wies aktuell der BGH hin. |
Sachverhalt
Die 1936 geborene Betroffene wehrt sich gegen die Anordnung einer Betreuung. Ihr Ehemann lebt in einem Pflegeheim. Das Verhältnis zwischen den im Verfahren beteiligten vier gemeinsamen Kindern ist dahin gehend zerrüttet, dass drei Kinder mit dem vierten Kind nachhaltig zerstritten sind.
Weil die Betroffene nach einem Sturz in ihrer Wohnung in einer hilfebedürftigen Lage nicht sofort aufgefunden wurde, regte die unfallchirurgische Klinik die Einrichtung einer Betreuung an.
Das Amtsgericht hat eine Verfahrenspflegerin bestellt und die Betroffene angehört. Anschließend hat es im Dezember 2018 ein Sachverständigengutachten eingeholt. Daraufhin hat es eine Betreuung mit umfassendem Aufgabenkreis angeordnet und eine Berufsbetreuerin bestellt. Gegen diese Entscheidung hat die Betroffene Beschwerde eingelegt. Im Beschwerdeverfahren hat die Betroffene eine notariell beurkundete Vorsorgevollmacht aus November 2018 und eine weitere privatschriftliche Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung aus 2014 für drei ihrer Kinder vorgelegt. Darüber hinaus wurde in der Beschwerdeinstanz der Entlassungsbericht aus dem Krankenhaus vom Januar 2019 und die Stellungnahme einer Fachärztin für Neurologie/Psychotherapie aus Juni 2019 vorgelegt.
Das Landgericht hat die Betroffene durch den Berichterstatter als beauftragten Richter nochmal persönlich angehört und anschließend die Beschwerde zurückgewiesen. Das Beschwerdegericht ging davon aus, dass die Betroffene an einer organischen Persönlichkeits- und Wesensveränderung leide, welche vermutlich auf dem Boden einer mikrovaskulären cerebralen Insuffizienz beruhe. Sie sei deswegen nicht mehr in der Lage, ihren Willen frei zu bestimmen. Dies folge aus dem überzeugenden Sachverständigengutachten. Die anderslautenden Einschätzungen der Klinik und der Fachärztin seien daher nicht durchgreifend. Die Vollmachten seien bereits im Zustand fehlender Geschäftsfähigkeit ausgefertigt worden, so dass diese unbeachtlich wären.
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen hatte vor dem BGH Erfolg (4.3.20, XII ZB 443/19, Abruf-Nr. 215319). Die bislang getroffenen Feststellungen rechtfertigten nicht den Schluss, die Betroffene könne aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen.
Es sei nicht aufgeklärt worden, warum das Sachverständigengutachten vom Dezember 2018 in offenem Widerspruch zu dem später erstellten Entlassungsbericht der Klinik und der ebenfalls später verfassten fachärztlichen Stellungnahme steht. Der Entlassungsbericht und die fachärztliche Stellungnahme beruhten jeweils auf eigenen Testungen und Untersuchungsergebnissen. Das Sachverständigengutachten fußt dagegen allein auf einer ambulanten Begutachtung der Betroffenen in ihrem häuslichen Umfeld. Daher kann die Diagnose einer organischen Störung nicht nachvollzogen werden.
Die Feststellungen des Sachverständigen stehen in offenem Widerspruch zu dem Entlassungsbericht und der fachärztlichen Stellungnahme. Diese haben einen weitestgehend altersentsprechenden Befund zum Gegenstand, der sich gegenüber dem Vorbefund im Sommer 2018 sogar noch verbessert hat.
Mit diesen Feststellungen hätte der Sachverständige befasst werden müssen. Das Beschwerdegericht hat es verfahrensfehlerhaft unterlassen, dazu eine weitere ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen einzuholen.
Da die Sache mangels hinreichender Tatsachenfeststellung noch nicht entscheidungsreif ist, war die Beschwerdeentscheidung daher unter Zurückweisung an das Landgericht aufzuheben.
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung betrifft ein Kernelement der richterlichen Rechtsfindung. Das grundgesetzlich gestützte Gebot rechtlichen Gehörs verlangt von jedem gesetzlichen Richter zwingend, die Ausführungen der Prozessbeteiligten vollumfänglich zur Kenntnis zu nehmen und entsprechend in Erwägung zu ziehen. In ein Verfahren eingeführte Tatsachen dürften nicht übergangen werden. Aus den Entscheidungsgründen muss daher stets deutlich werden, dass die wesentlichen Tatsachen gewürdigt und vorgebrachte Rechtsausführungen verarbeitet worden sind. Erst vor kurzem hat der Achte Zivilsenat in Zusammenhang mit einer kaufrechtlichen Thematik zur Notwendigkeit der Aufklärung widersprüchlicher Feststellungen im Zusammenhang mit einem gerichtlichen Sachverständigengutachten ähnliche Ausführungen gemacht (BGH 5.11.19, VIII ZR 344/18, Abruf-Nr. 212697, SR 20, 62).
Diese Grundsätze gelten gleichermaßen auch in Verfahren, die durch den Amtsermittlungsgrundsatz geprägt sind. In Betreuungs- und Unterbringungssachen als Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist der Richter verpflichtet, von Amts wegen alle erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die notwendigen Beweise zu erheben. In der Betreuungspraxis führt das in vielen Fällen dazu, dass vor der Anordnung einer Betreuung ein gerichtliches Sachverständigengutachten eingeholt wird.
Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich dann zumeist die Begründungselemente für die richterliche Entscheidungsfindung. Vielfach ist in der Praxis eher formelhaft zu lesen, dass das erkennende Betreuungsgericht die Ausführungen des Sachverständigen für plausibel und überzeugend hält und diesen daher im Ergebnis folgt. Entgegenstehende (fach-)ärztliche Stellungnahmen werden nicht selten mit wenigen Sätzen den Sachverständigenfeststellungen untergeordnet.
Dies kann nach den klaren Ausführungen des 12. Zivilsenats indes nur dann Bestand haben, wenn der Sachverständige eigene belastbare Feststellungen getroffen und sich zudem mit den (fach-)ärztlichen Stellungnahmen auseinandergesetzt hat. Im vorliegenden Fall wurde das Sachverständigengutachten zeitlich deutlich vor dem Entlassungsbericht der Klinik und der fachärztlichen Stellungnahme angefertigt. Für das Beschwerdegericht lagen daher im Zeitpunkt seiner Entscheidungsfindung sich deutlich widersprechende medizinische Erkenntnisse und Schlussfolgerungen vor. Diese hätten aufgeklärt werden müssen. Hierüber hat sich das Beschwerdegericht hinweggesetzt, indem es weiter an dem Inhalt des Sachverständigengutachtens festgehalten hat. Mangels eigener Sachkenntnis des Gerichts ist ein solches Vorgehen verfahrensfehlerhaft. Die Beschwerdeentscheidung war daher folgerichtig aufzuheben. Erst im Anschluss an eine noch nachzuholende sachverständige Aufklärung der Widersprüche darf eine Sachentscheidung erfolgen.