15.01.2021 · IWW-Abrufnummer 219940
Landesarbeitsgericht Düsseldorf: Urteil vom 18.12.2020 – 6 Sa 522/20
In dem Rechtsstreit
hat die 6. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf
auf die mündliche Verhandlung vom 18.12.2020
durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Barth als Vorsitzenden
und den ehrenamtlichen Richter Unterhiner
und den ehrenamtlichen Richter Fischer
für Recht erkannt:
Tenor:
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 01.07.2020 - Az.: 7 Ca 3255/19 - wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfsweise außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist.
Der am 10.12.1967 geborene Kläger ist seit dem 01.08.1984 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Energieanlagenelektroniker gegen ein monatliches Bruttoentgelt in Höhe von ca. 4.200,- EUR beschäftigt.
Die Beklagte ist das kommunale Stromversorgungsunternehmen der Stadt X. und beschäftigt etwa 240 Mitarbeiter. Der Kläger ist mit der Montage von Zählern bei Kunden betraut. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Tarifvertrag Versorgungsbetriebe (TV-V) Anwendung. Gemäß § 22 Abs. 7 TV-V ist der Kläger ordentlich unkündbar.
Die Außendienstmonteure der Beklagten erhalten ihre tägliche Einsatzplanung über ein elektronisches Programm mit Namen "Argos". Für die Ausübung seiner Tätigkeit stellte die Beklagte dem Kläger ein Dienstfahrzeug zur Verfügung. Die private Nutzung des Fahrzeugs wurde dem Kläger untersagt. Bis September 2019 hatte er Fahrten händisch in einem Fahrtenbuch zu notieren. Bei der Beklagten gab es diesbezüglich eine Anweisung des Vorgesetzten des Klägers, Herrn L, zum "Führen der Fahrtenbücher", deren Kenntnis der Kläger bestreitet. Diese lautet auszugsweise:
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den auf den 16. Oktober 2019 datierten Ausdruck dieses Schreibens (Anlage B 5, Bl. 98 d.A) Bezug genommen.
Im Jahr 2019 rüstete die Beklagte ihre Fahrzeuge flächendeckend auf ein elektronisches Fahrtenbuch ("CARSYNC") um. Hierzu installierte sie in den Fahrzeugen ein elektronisches Bauteil (sog. "Log-Box"), welches die erforderlichen Informationen in eine Web-Plattform des Anbieters importiert. Über die Log-Box wird der Fahrer identifiziert und der Startvorgang frei geschaltet. Die nähere Nutzung der Dienstfahrzeuge regelt eine Organisationsanweisung nebst Anlagen (vgl. Bl. 73 ff. d.A). Die Einführung des elektronischen Fahrtenbuchs erfolgte durch eine entsprechende Betriebsvereinbarung (vgl. Bl. 88 d.A).
Am 11.11.2019 hörte die Beklagte den Kläger zu Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit den von ihm geführten Fahrtenbüchern an. Sodann hörte sie den Betriebsrat mit einem diesem am 20.11.2019 übergebenen Schreiben zu einer fristlosen und hilfsweise außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist an. Wegen der Einzelheiten dieser Anhörung wird auf die Anlage B 8, Bl. 130 ff. d.A. verwiesen. Der Betriebsrat erklärte mit Schreiben vom 21.11.2019 die Fristen zur Anhörung verstreichen zu lassen. Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit einem dem Kläger am 25.11.2019 zugegangenen Schreiben vom selben Tage fristlos, hilfsweise außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2020.
Mit seiner am 11.12.2019 bei dem Arbeitsgericht Wuppertal eingegangenen Kündigungsschutzklage, der Beklagten am 18.12.2019 zugestellt, hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung vom 25.11.2019 geltend gemacht.
Der Kläger hat das Fehlen eines wichtigen Grundes und die Ordnungsmäßigkeit der Betriebsratsanhörung gerügt.
Der Kläger hat beantragt,
Die Beklagte hat beantragt,
Die Beklagte hat vorgetragen, die Kündigung sei erfolgt, weil der Kläger das ihm zur Verfügung gestellte Dienstfahrzeug pflichtwidrig zu privaten Zwecken genutzt und darüber hinaus Pausenzeiten eigenmächtig überzogen und so Vergütung erschlichen habe.
Sie hat behauptet, der Kläger sei seit der Einführung des elektronischen Fahrtenbuches im Zeitraum vom 12.08.2019 bis 11.10.2019 in 18 Fällen mit dem Dienstfahrzeug zu seiner privaten Wohnung gefahren. Darüber hinaus sei er im Zeitraum vom 12.08.2019 bis 27.09.2019 in 16 Fällen zu einer Bäckerei in der Nähe des M. Marktes gefahren, um dort seine Pause zu verbringen. Dabei habe er die Pausen teilweise eklatant überschritten. Im Zeitraum vom 08.10.2019 bis 11.10.2019 sei er zudem in drei Fällen zum V. im Bereich der Tanzschule C. gefahren sowie am 19.09.2019 in die N. Straße 29. Auch habe er am 09.10.2019 mit dem Dienstfahrzeug einen Minimarkt angefahren. Er habe die Privatfahrten verschleiert, indem er sie - insoweit unstreitig - nicht in das Fahrtenbuch eingetragen habe. Wegen der Eintragungen im Einzelnen wird auf die von der Beklagten überreichten Kopien der handschriftlichen Fahrberichte, Bl. 123 ff. d.A., Bezug genommen.
Die Beklagte hat vorgetragen, die Unregelmäßigkeiten seien zu Tage getreten, nachdem der Kläger seinen Vorgesetzten informiert habe, dass die Identifikation bei seinem Fahrzeug nicht funktioniere und dieser daher eine manuelle Korrektur der fehlerhaft erzeugten Datensätze vorgenommen habe.
Der Kläger hat erwidert, er habe seine Pausenzeiten nicht überzogen. Die Zeitfenster in denen Zähler gewechselt würden, lägen zwischen 7:30 Uhr und 10:00 Uhr, 10:00 Uhr und 12:30 Uhr sowie zwischen 13:00 Uhr bis 15:30 Uhr. Dieses Zeitfenster habe abgewartet werden müssen, bis der nächste Kunde habe aufgesucht werden können. Im Anschluss an die Mittagspause seien daher nur Vorbereitungsmaßnahmen möglich gewesen. Hierzu habe das Andrehen von Schrauben an den Zählerplatten gehört. Er habe zudem über "Argos" regelmäßig Aufträge nachgeordert, weil er mit seinem vorgegebenen Pensum schneller fertig gewesen sei.
Der Kläger hat weiter behauptet, infolge einer Erkrankung leide er unter einem vermehrten Harndrang sowie häufigen Durchfällen und müsse dementsprechend öfter als andere Menschen die Toilette aufsuchen. Das sei seinem Vorgesetzten bekannt gewesen. Die Toilettengänge habe er teilweise zu Hause vorgenommen, sofern dies auf seinem Weg gelegen habe, teilweise habe er die Toilette bei einem Freund in der Nähe der Tanzschule in V. aufgesucht. Sein Vorgesetzter habe ihm erlaubt, zwischendurch zu Hause anzuhalten.
Der Kläger hat zudem vorgetragen, die von der Beklagten ermittelten Daten des digitalen Fahrtenbuchs seien schon nicht ordnungsgemäß aufgezeichnet worden, da sich daraus mehrfach - unstreitig - ergebe, dass das Fahrzeug an einer bestimmten Adresse abgestellt worden sei und dann unter Angabe der unveränderten Kilometerleistung an einer anderen Adresse wieder gestartet werde. Zudem habe Vorgesetzter Herr L. ohne Erlaubnis die Daten verändert. Im Übrigen ist er der Auffassung, die Daten seien rechtswidrig erlangt worden und unterlägen daher einem Beweisverwertungsverbot.
Auch die Fahrten zu Bäckereien oder Supermärkten, um sich dort mit Getränken oder Essen zu versorgen, seien keine Privatfahrten. Im Übrigen habe die Führungskraft B. G. diese im Jahr 2010 genehmigt.
Die Fahrt zur N. Str. am 19.09.2019 sei keine Privatfahrt gewesen. Er habe dort vielmehr einen Kollegen, Herrn C, bei einer Tätigkeit geholfen. Am 09.10.2019 habe er keinen Minimarkt angefahren. In der dortigen Straße habe er manchmal angehalten, um Zähler vorzubereiten.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 01.07.2020 dem gegen die Kündigung gerichteten Antrag zu 1. stattgegeben. Über den Weiterbeschäftigungsantrag hat es irrtümlich nicht entschieden. Dieses Urteil ist der Beklagten am 23.07.2020 zugestellt worden. Sie hat mit einem am 04.08.2020 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese- nach einer Fristverlängerung bis zum 23.10.2020 - mit einem am 23.10.2020 eingegangenen Schriftsatz begründet.
Die Beklagte rügt, das Urteil sei bereits deshalb fehlerhaft ergangen, weil ihr keine Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Vorbringen des Klägers eingeräumt worden sei. Ansonsten hätte sie den nachstehenden Vortrag schon erstinstanzlich erbracht.
Sie behauptet, die vom Kläger geschilderte Vorgehensweise zur Vorbereitung der Zähler entspreche nicht der Weisung des Fachbereichs. Diese Vorarbeiten sollten nicht außerhalb des Montageortes geleistet werden. Hierfür bestehe keine Notwendigkeit. Dass der Kläger behauptet, diese Vorarbeiten im Auto geleistet zu haben, stelle eine reine Schutzbehauptung dar.
Soweit Monteure ihr Tagespensum bereits erledigt hätten, sollten sie zum Zwecke der Zuweisung neuer Aufträge beim Disponenten anrufen. Der Kläger habe seinen Vorgesetzten - Herrn L. - nie angerufen. Das Zeitfenster, in denen Zähler gewechselt würden, läge in der Zeit zwischen 7.30 Uhr und 12.30 Uhr sowie nach einer halbstündigen Mittagspause zwischen 13.00 Uhr und 15.30 Uhr. Die vom Kläger angegebene Zäsur um 10.00 Uhr gebe es nicht.
Soweit der Kläger behaupte, zwecks eines Toilettenganges nach Hause gefahren zu sein, widerspreche dies seinen Äußerungen im Rahmen der Anhörung. Danach habe er zu Hause jeweils eine Tasche abgegeben, die er morgens mit dem Fahrrad mitgenommen habe. Außerdem habe er sich mit Tabletten versorgt.
Herr L. habe auch nicht die Aufzeichnungen des elektronischen Fahrtenbuchs manipuliert, sondern lediglich die Angabe "unbekannter Fahrer" geändert und stattdessen den Namen des Klägers eingetragen. Zu den Ungenauigkeiten bei den Aufzeichnungen des elektronischen Fahrtenbuchs sei anzumerken, dass zwischen den einzelnen Adressen jeweils eine lediglich kurze Entfernung, gelegen habe, die vom Kläger so schnell zurückgelegt worden sei, dass das GPS-Signal, mit dessen Hilfe ... die Fahrzeugdaten ermittle, nicht umgesprungen sei.
Die Kündigung sei bereits als Tatkündigung, zumindest aber als Verdachtskündigung gerechtfertigt. Es bestehe der dringende Verdacht eines Arbeitszeitbetruges. Der Kläger habe das Fahrtenbuch bewusst falsch geführt, um seine Privatfahrten zu verschleiern. Die Anweisung zur Führung des Fahrtenbuches trage zwar fälschlicherweise das Datum des 16.10.2019, stamme aber bereits aus dem Jahr 2013.
Auch die 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei gewahrt. Ihr Geschäftsführer Dr. Q. sei erstmalig am 21.10.2019 von Herrn L. über Unregelmäßigkeiten bezüglich der vom Kläger geführten Fahrtenbücher informiert worden. Der Geschäftsführer habe dann Herrn G. beauftragt, dies aufzuklären. Dieser sei anschließend in umfangreiche Recherchen eingetreten. In der Zeit vom 24.10. bis zum 10.11.2019 sei der Kläger - unstreitig - nicht im Betrieb gewesen, so dass er nicht persönlich habe angehört werden können.
Die Beklagte beantragt,
Der Kläger beantragt,
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Sach- und Rechtsvorbringens. So habe das Gericht zu Recht beanstandet, dass die Beklagte die Argos-Aufträge für die einzelnen Tage nicht vorgelegt habe. Aus diesen hätte sich ergeben, dass der Kläger regelmäßig Aufträge nachgeordert habe. Angerufen habe er den zuständigen Disponenten, nicht seinen Vorgesetzten L. Soweit die Beklagte vortrage, der Kläger habe bei der Anhörung die Toilettengänge nicht angeführt, so sei ihm dies situationsbedingt erst später eingefallen.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Sitzungsniederschriften beider Instanzen sowie sämtliche Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
A.
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
I. Es bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung. Sie ist nach Maßgabe der §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. § 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die elektronisch übersandten Schriftsätze erfüllen die Voraussetzungen des § 130a ZPO nebst § 2 Abs. 1 S.1 ERW. Die Berufung ist auch statthaft gemäß § 64 Abs. 1, 2 lit. c) ArbGG.
II. In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat richtig entschieden. Das Arbeitsverhältnis ist durch die außerordentliche Kündigung vom 25.11.2019 weder fristlos noch mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2020 beendet worden.
1. Die fristlose Kündigung vom 25.11.2019 ist gemäß § 626 Abs. 1 BGB unwirksam.
a) Gemäß § 626 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zu gemutet werden kann. Die Prüfung, ob danach im konkreten Fall ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung vorliegt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in zwei Schritten zu erfolgen. Zunächst ist festzustellen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalles an sich geeignet ist, einen wichtigen Kündigungsgrund abzugeben. Dabei muss auch festgestellt werden, ob der an sich zur außerordentlichen Kündigung geeignete Sachverhalt im Streitfall zu einer konkreten Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses geführt hat. In einer zweiten Stufe ist zu untersuchen, ob nach Abwägung der in Betracht kommenden Interessen der Parteien des Arbeitsverhältnisses die konkrete Kündigung gerechtfertigt ist (vgl. nur BAG v. 13.12.2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 15; BAG v. 16.07.2015 - 2AZR 85/15 - Rn. 21; BAG v. 08.05.2014 - 2 AZR 249/13 - Rn. 16; BAG v. 21.11.2013-2 AZR 797/11 -).
Die Darlegungs- und Beweislast für alle Umstände des wichtigen Grundes gem. § 626 BGB trifft den Arbeitgeber. Dies umfasst auch die Darlegungs- und Beweislast für diejenigen Tatsachen, die einen vom Gekündigten behaupteten Rechtfertigungsgrund ausschließen (ständige Rspr., vgl. nur BAG v. 22.10.2015 - 2 AZR 569/14 - Rn. 23; BAG v. 17.06.2003 - 2 AZR 123/02 -).
b) Hinsichtlich eines Teils der erhobenen Vorwürfe fehlt es bereits an einem wichtigen Grund.
aa) In den Falscheintragungen des Fahrtenbuchs liegt kein die Kündigung rechtfertigender Arbeitszeitbetrug.
aaa) Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung iSv. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen (BAG v. 13.12.2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 17). Dies gilt für den vorsätzlichen Missbrauch einer Stempeluhr ebenso wie für das wissentliche und vorsätzlich falsche Ausstellen entsprechender Formulare. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer vertrauen können. Überträgt er den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit den Arbeitnehmern selbst und füllt ein Arbeitnehmer die dafür zur Verfügung gestellten Formulare wissentlich und vorsätzlich falsch aus, so stellt dies in aller Regel einen schweren Vertrauensmissbrauch dar. Der Arbeitnehmer verletzt damit in erheblicher Weise seine Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) gegenüber dem Arbeitgeber (BAG v. 13.12.2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 17; BAG v. 26.09.2013 - 2 AZR 682/12 - Rn. 54).
bbb) Das vom Kläger geführte Fahrtenbuch diente nicht der Arbeitszeitkontrolle.
Es dient ausschließlich der Dokumentation von dienstlich veranlassten Fahrten gegenüber den Steuerbehörden. So heißt es in der Betriebsvereinbarung vom 25.10.2018, durch welche das bisherige Papierfahrtenbuch durch das elektronische Fahrtenbuch abgelöst wurde, ohne dass damit eine Zweckänderung verbunden war:
Dementsprechend wird bereits in der Anlage 2 zur Organisationsanweisung Nr. 01.121.00 b vom 01.02.2017 ausgeführt, dass das Fahrtenbuch "die gesetzlichen Vorgaben" erfülle und mit "Steuern und Versicherungen" abgestimmt sei. Von einer Arbeitszeitkontrolle ist auch dort an keiner Stelle die Rede.
In der Anweisung des Herrn L. (Anlage B5, fälschlich datiert auf den 16.10.2019) wird die Möglichkeit eröffnet, im Fahrtenbuch ausschließlich auf WVMS Argos hinzuweisen. Diesem System lassen sich zwar die Aufträge und angefahrenen Orte, nicht aber die konkreten Arbeitszeiten entnehmen. Auch daraus wird ersichtlich, dass die Fahrtenbücher keinem Arbeitszeitnachweis dienen.
Konsequenterweise waren die auszufüllenden Formulare auch als "Fahrberichte", nicht als "Arbeitszeitnachweise" betitelt. Die vom Kläger ausgefüllten Fahrberichte lassen lediglich - insoweit zutreffende - Anfangs- und Endzeiten erkennen, nicht aber konkrete aufgabenbezogene Arbeitszeiten. Bezüglich der "Fahrstrecke" wird dann auf Argos verwiesen (vgl. Fahrbericht Nr. 336214), nicht hinsichtlich der Arbeitszeit.
bb) Die Kündigung kann nicht darauf gestützt werden, dass der Kläger die ihm zustehende Mittagspause überzogen hat.
aaa) Allerdings stellt es eine erhebliche Vertragspflichtverletzung dar, wenn ein Arbeitnehmer statt zu arbeiten, privaten Interessen nachgeht (so z.B. für die private Internetnutzung während der Arbeitszeit: BAG v. 27.04.2006 - 2 AZR 386/05 -). Hierdurch verstößt der Arbeitnehmer gegen seine Hauptleistungspflicht zur Erbringung von Arbeit.
bbb) Eine solche Pflichtverletzung lässt sich aber bezüglich der Überziehung von Mittagspausen nicht feststellen.
Der Kläger hat zum einen unwidersprochen vorgetragen, dass angesichts der vorgegebenen Zeitfenster die Nachmittagsaufgaben nicht vor 13.00 Uhr begonnen werden konnten. Die Beklagte hat ihrerseits für keinen einzigen Tag dargelegt, dass der Kläger ihm gemäß dem Programm ARGOS übertragene Aufgaben für das Zeitfenster bis 12.30 Uhr nicht erfüllt habe oder es aber sonstige - konkret von ihr benannte - Aufgaben gegeben hätte, die in der Zeit bis 12.30 Uhr ihm hätten zugewiesen und zusätzlich hätten erledigt werden können. Allein die abstrakte Möglichkeit einer solchen Arbeitszuweisung beinhaltet nicht den Nachweis eines Arbeitszeitbetruges.
Darüber hinaus hat der Kläger behauptet, er habe die Zeit nach der Mittagspause genutzt, um Zähler zur Montage vorzubereiten. Diese Einlassung hat die darlegungs- und beweispflichtige Beklagte nicht widerlegt. Unstreitig waren die Vorarbeiten notwendig. Dass diese nicht außerhalb des Montageortes geleistet werden sollten, heißt nicht, dass der Kläger die Arbeiten tatsächlich nicht im Auto durchgeführt, sondern stattdessen seine Pause überzogen hat.
cc) Entsprechendes gilt für die Fahrt am 09.10.2019 zu dem "Minimarkt". Die Beklagte konnte die Einlassung des Klägers hinsichtlich der Vorbereitung von Zählern auch insoweit nicht widerlegen.
dd) Die Kündigung kann nicht auf eine Privatfahrt zur N. Straße am 19.09.2019 gestützt werden. Der Kläger hat behauptet, er habe seinem Kollegen C. bei der Ausführung eines Auftrags geholfen. Zwar hat die Beklagte dies im Verfahren bestritten. Aus der Betriebsratsanhörung geht aber in keiner Weise hervor, dass - und gegebenenfalls aus welchem Grund - der diesbezüglichen Einlassung kein Glauben geschenkt werde.
ee) Ebenso wenig kann die Kündigung auf Vorgänge vor dem 10.09.2019 gestützt werden, da insoweit dem Betriebsrat im Rahmen der Anhörung keine Angaben zu Zeit und Umfang etwaiger Pflichtverletzungen gemacht worden sind. Es erfolgte ausschließlich der Hinweis, der Kläger habe eingeräumt, vor dem 10.09.2019 ebenfalls Heimfahrten gemacht zu haben.
ff) Die vorgenannten Gründe stützen auch keine Verdachtskündigung.
aaa) Der Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung kann einen wichtigen Grund darstellen (sog. Verdachtskündigung). Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn starke, auf objektive Tatsachen gründende Verdachtsmomente vorliegen, die geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (st. Rspr, vgl. etwa BAG v. 02.03.2017 -2 AZR 698/15 -; BAG v. 17.03.2016 - 2 AZR 110/15 - Rn. 39). Der Verdacht muss auf konkrete, vom Kündigenden darzulegende und gegebenenfalls zu beweisenden Tatsachen gestützt sein. Er muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermochte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen nicht aus (BAG v. 02.03.2017 - 2 AZR 698/15-; BAG v. 17.03.2016 - 2 AZR 110/15- Rn. 39 (BAG 17. März 2016-2 AZR 110/15 - Rn. 39.).
bbb) Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der vorgenannten Gründe nicht vor.
(1) Bezüglich des Verdachts eines Arbeitszeitbetruges durch eine Falschdokumentation der erfassten Arbeitszeiten gelten die obigen Ausführungen unter 1. b) aa) entsprechend. Das Fahrtenbuch diente nicht der Arbeitszeiterfassung.
(2) Hinsichtlich des Vorwurfs einer Überziehung von Pausenzeiten fehlt es an einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger die ihm zustehenden Pausen verlängert hat statt - wie von ihm behauptet - die Zähler zur Montage vorbereitet zu haben. Darüber hinaus fehlt es auch insoweit an Tatsachenvortrag der Beklagten, welche konkreten Tätigkeiten der Kläger an welchem Ort in welcher Zeit hätten alternativ ausgeübt werden können,
(3) Die Fahrt zur N. Straße am 19.09. und in die Nähe des Minimarktes am 09.10.2019 sowie die Vorgänge vor dem 10.09.2019 können aus den oben genannten Gründen auch die Verdachtskündigung nicht rechtfertigen.
c) Ob die übrigen Vorwürfe, insbesondere die Heimfahrten und Fahrten zum Bäcker ab dem 10.09.2019 sowie die Falschdokumentation in den Fahrtenbüchern eine außerordentliche Kündigung als Tat- oder zumindest als Verdachtskündigung dem Grunde nach rechtfertigen, kann dahingestellt bleiben1. Selbst wenn man dies vollumfänglich zugunsten der Beklagten unterstellt, ist die Kündigung wegen eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unwirksam.
aa) Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein "schonenderes" Gestaltungsmittel -etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung - gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen ' Kündigung verfolgten Zweck - nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses - zu erreichen (BAG v. 13.12.2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 29; BAG v. 23.08.2018 -2 AZR 235/18 - Rn. 40). Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese (BAG v. 13.12.2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 29; BAG v. 16.08.1991 - 2 AZR 604/90 - zu III 3e bb der Gründe).
Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG v. 13.12.2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 30; BAG v. 29.06.2017 - 2 AZR 302/16-Rn. 28).
Aber auch dann, wenn eine Abmahnung entbehrlich ist, kommt eine außerordentliche Kündigung nur dann in Betracht, wenn selbst eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar wäre (BAG v. 07.05.2020 -2 AZR 678/19 - Rn. 16; BAG v. 09.06.2011 - 2 AZR 284/10 - Rn. 30). Dieser Maßstab gilt ebenso, wenn ein Arbeitnehmer ordentlich unkündbar ist (BAG v. 07.05.2020 - 2 AZR 678/19 - Rn. 16). Es spielt keine Rolle, ob die Kündigungsfrist "real" (ordentliche Kündbarkeit) oder "fiktiv" (ordentliche Unkündbarkeit) ist (BAG v. 07.05.2020 -2 AZR 678/19-Rn. 16).
bb) Danach ist die fristlose Kündigung unwirksam. Der Beklagten wäre eine Einhaltung der Kündigungsfrist zumutbar gewesen.
Zwar ist zugunsten der Beklagten anzuführen, dass die vom Kläger vermeintlich durchgeführten Umwege aus privatem Anlass verbunden mit der Verschleierung durch die nicht ordnungsgemäße Führung des Fahrtenbuches steuerliche Folgen haben können. Auch stellt die Verschleierung von Privatfahrten bei Führung eines Fahrtenbuches einen Vertrauensbruch dar. Schließlich sind mit den privaten Umwegen Kosten durch die Fahrzeugnutzung entstanden.
Dem steht allerdings eine über 35-jährige beanstandungsfreie Beschäftigungszeit gegenüber. Eine für lange Jahre ungestörte Vertrauensbeziehung zweier Vertragspartner wird nicht notwendig schon durch eine erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört (BAG v. 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 47). Je länger eine Vertragsbeziehung ungestört bestanden hat, desto eher kann die Prognose berechtigt sein, dass der dadurch erarbeitete Vorrat an Vertrauen durch einen erstmaligen Vorfall nicht vollständig aufgezehrt wird. Dabei kommt es nicht auf die subjektive Befindlichkeit und Einschätzung des Arbeitgebers oder bestimmter für ihn handelnder Personen an. Entscheidend ist ein objektiver Maßstab. Maßgeblich ist nicht, ob der Arbeitgeber hinreichendes Vertrauen in den Arbeitnehmer tatsächlich noch hat. Maßgeblich ist, ob er es aus der Sicht eines objektiven Betrachters haben müsste. Im Arbeitsverhältnis geht es nicht um ein umfassendes wechselseitiges Vertrauen in die moralischen Qualitäten der je anderen Vertragspartei. Es geht allein um die von einem objektiven Standpunkt aus zu beantwortende Frage, ob mit einer korrekten Erfüllung der Vertragspflichten zu rechnen ist (BAG v. 10.06.2010 - 2 AZR 541/09-Rn. 47).
Weiter ist zu berücksichtigen, dass die vom Kläger geführten Papierfahrtenbücher im streitgegenständlichen Zeitraum zwar nicht etwaige Privatfahrten auswiesen, aber unabhängig davon erkennbar nicht den Vorgaben entsprachen. Er hat sich jeweils nur auf die Angaben "Stadtgebiet E-Zählerwechsel" beschränkt. Der Vorgabe des Vorgesetzten L, zumindest auf die in Argos hinterlegte Fahrtstrecke zu verweisen, ist er oftmals nicht nachgekommen (Fahrberichte für die Zeit vom 12.08. - 20.08.2019, vom 19.09. bis 27.09.2019 und vom 08.10. bis 14.10.2019), ohne dass dies beanstandet worden wäre.
Vor allem aber ist von Relevanz, dass hinsichtlich der falschen Führung des Fahrtenbuches keine Wiederholungsgefahr besteht. Infolge der Einführung des elektronischen Fahrtenbuches ist eine Falscheintragung bzw. Verschleierung von Privatfahrten zukünftig unmöglich. Die Beklagte kann demnach zukünftig genau nachvollziehen, welche Wegstrecken der Kläger fährt, so dass nicht zu erwarten steht, dass er in Zukunft unerlaubte Privatfahrten unternehmen wird.
Schließlich ist zu bedenken, dass ein etwaiger Schaden bezogen auf das Fehlverhalten ab dem 10.09.2019 verhältnismäßig gering war. Auch ist der Kläger trotz der privaten Umwege seiner Arbeitsverpflichtung vollumfänglich nachgekommen.
Unter Würdigung all dieser Umstände war der Beklagten zumindest für die Dauer der Kündigungsfrist ohne Weiteres eine Beschäftigung des Klägers zumutbar gewesen.
2. Die Kündigung hat das Arbeitsverhältnis des ordentlich unkündbaren Klägers auch nicht außerordentlich mit einer Auslauffrist zum 30.06.2020 beendet.
Da die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB zum Ausspruch einer fristlosen Kündigung nicht vorliegen, käme eine Kündigung mit sozialer bzw. notwendiger Auslauffrist nur dann in Betracht, wenn der Ausschluss der ordentlichen Kündigungsmöglichkeit dazu führt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer anderenfalls - trotz Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit- noch für Jahre vergüten müsste, ohne dass dem eine entsprechende Arbeitsleistung gegenüberstünde ["sinnentleertes Arbeitsverhältnis"] (vgl. etwa BAG v. 26.03.2015 - 2 AZR 783/13 - Rn. 39; BAG v. 23.01.2014 -2 AZR 372/13 - Rn. 17; Gieseler in Gallner/Mestwerdt/ Nägele, Kündigungsschutzrecht, 7. Auflage 2021, § 626 BGB Rn. 41). Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist zwar infolge § 22 Abs. 7 TV-V ordentlich unkündbar. Es fehlt aber an einem sinnentleerten Arbeitsverhältnis. Die Beklagte kann den Kläger ohne Weiteres fortbeschäftigen.
B.
I. Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des erfolglos eingelegten Rechtsmittels zu tragen.
II. Für die Zulassung der Revision an das Bundesarbeitsgericht bestand wegen des Fehlens der Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG keine Veranlassung.
Unterhiner
Fischer
Verkündet am 18.12.2020