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· Fachbeitrag · Schwerbehinderung

Schmerzbild muss ärztlich nachgewiesen werden

| Wird das Merkzeichen „G“ (erhebliche Gehbehinderung) begehrt, muss das Gericht wissen, wie ausgeprägt die Gehschmerzen des Mandanten sind und ob zwingend nur eine begrenzte Strecke gelaufen werden kann. Für den Anwalt heißt das: Zu diesen Punkten müssen die ärztlichen Befunde konkret und aussagekräftig sein. |

 

Sachverhalt

Der 86-jährige Kläger beantragte einen GdB und verschiedene Merkzeichen. In seinem Antrag verwies er auf diverse Erkrankungen. Festgestellt wurde daraufhin ein Gesamt-GdB von 60, aber nicht das Merkzeichen „G“.

 

Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Im Klageverfahren zog das SG einen orthopädischen Gutachter hinzu, der nicht feststellen konnte, dass die Gehfähigkeit wesentlich eingeschränkt war. Das SG wies die Klage ab. Der Kläger stützte seine Berufung darauf, nur 50 Meter mit Anfangsschmerzen gehen zu können. Seine Schmerzen seien zwar medizinisch nicht objektiv messbar, ein Gutachter könne dann aber auch nicht genau feststellen, dass keine Schmerzen beim Gehen vorliegen. Das Gericht wies die Klage ab und stellte klar, dass es nicht ausreiche, allein subjektive Schmerzen anzugeben.

 

Dass die Gehstrecke im Sinne des Merkzeichens „G“ nur mit Schmerzen bewältigt werden kann, ist kein maßgebliches gesetzliches Beurteilungskriterium. Besondere Auswirkung auf die Gehfähigkeit verlangt ein derart ausgeprägtes Schmerzbild, das nach medizinischer Erfahrung zwingend eine Limitierung der Wegstrecke beinhaltet. Die individuelle Schmerztoleranz ist dagegen kein geeigneter Beurteilungsmaßstab einer das Merkzeichen „G“ rechtfertigenden Behinderung (Abruf-Nr. 193672).

 

Entscheidungsgründe

Das LSG konnte keine Funktionsstörungen der unteren Gliedmaße und/oder der Lendenwirbelsäule feststellen, die sich auf die Gehfähigkeit auswirken und einen Mindest-GdB von 50 rechtfertigen. Ebenso konnte es keine Behinderungen feststellen, die einen GdB von unter 50 begründen, sich aber besonders auf die Gehfähigkeit auswirken. Das LSG konnte die vom Kläger angegebenen und auch attestierten Schmerzen zwar berücksichtigen. Es konnte aber mangels objektivierbarer wesentlicher funktioneller Beeinträchtigung nicht feststellen, dass diese sich auf die Gehfähigkeit auswirken. Die ärztlichen Befunde stellten nicht dar, dass die Schmerzen des Klägers besonders ausgeprägt sind oder er nur eine bestimmte Maximalstrecke gehen kann.

 

Das LSG bezog sich auf die in der Rechtsprechung anerkannte Streckenlänge, die allgemein, also altersunabhängig, von nicht behinderten Menschen noch zu Fuß bewältigt werden kann (BSG 11.8.15, B 9 SB 1/14 R).

 

 

Relevanz für die Praxis

Ist die einschlägige Gehstrecke für den Betroffenen mit starken bzw. unzumutbaren Schmerzen verbunden, steht ihm auch das Merkzeichen „G“ zu. Der Anwalt kann jedoch nur so gut argumentieren, wie die ärztlichen Befunde dies belegen (s. Grafik). Z. B. genügte es dem LSG Thüringen, dass die Beschwerden ärztlich so beschrieben wurden, dass eine Gehstrecke in der Ebene gestützt auf die beiden Unterarmgehstützen etwa 200 bis 300 Meter betrage und schon beim Gehen die eingeschränkte Streckungsphase des linken Beins auffalle und klinisch noch eine deutliche Schwellung des Kniegelenks bis in den Unterschenkel hinein bestehe (17.1.17, L 5 SB 1136/15). Der Anwalt kann im Zweifel auch gegen die Beweiskraft ärztlicher Befundberichte argumentieren,

  • wenn betroffene Extremitäten eindeutig nicht untersucht wurden oder
  • das Gericht keine merkzeichenbezogenen Fragen an den Gutachter stellte.

 

PRAXISTIPP | Das LSG Sachsen-Anhalt bejaht das Merkzeichen G, wenn sich eine Orientierungsschwäche bei Sehstörungen auf die Gehfähigkeit auswirkt (15.6.16, 7 SB 46/14). Dies ist aber nur bei Sehbehinderten mit einem GdB von wenigstens 70 und bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, bzw. nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion ‒ z. B. hochgradige Schwerhörigkeit beidseits, geistige Behinderung ‒ anzunehmen.

 

Auch nach dem BSG ist das Merkzeichen nicht gerechtfertigt, wenn die Person sich bei erhaltenem Gehvermögen aufgrund einer als chronifiziert einzustufenden paranoiden Psychose sozial isoliert, nicht lange an einem Ort verbleiben kann bzw. einer Begleitperson bedarf (BSG 11.8.15, B 9 SB 1/14 R).

 
Quelle: Ausgabe 03 / 2019 | Seite 41 | ID 45731666