· Fachbeitrag · Überraschungsentscheidung
Nicht alles, was den Kläger „überrascht“, ist auch ein Verfahrensmangel
| Das Gericht ist frei darin, wie weit es einem Gutachten folgt oder nicht. Bezieht es aber neue, bislang nicht ins Verfahren eingeführte sozialmedizinische Gesichtspunkte ein, kann der Kläger benachteiligt sein (Überraschungsentscheidung). Diesen Verfahrensmangel muss der Kläger jedoch genauer darstellen (BSG 9.1.19, B 13 R 170/17 B, Abruf-Nr. 207343 ). |
Sachverhalt
Der Kläger begehrt Erwerbsminderungs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente. Laut einem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten kann er nur noch leichte Tätigkeiten mit mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Dies allerdings nur, wenn die Arbeit durch zwei arbeitsunübliche Pausen von je 30 Minuten oder durch eine 60-minütige Pause unterbrochen wird. Diese Pausen fand das Gericht jedoch weder im Gutachten noch in den sonstigen ärztlichen Äußerungen genau begründet. Der Kläger meint, das Gericht habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es seine Beurteilung auf eigene Sachkunde gestützt habe. Es sei dem Gutachten mit medizinischen Gründen entgegengetreten und bewege sich damit außerhalb der zulässigen Beweiswürdigung. Damit verletze das Gericht sein rechtliches Gehör. Seine Nichtzulassungsbeschwerde wies das BSG zurück.
Entscheidungsgründe und Relevanz für die Praxis
Eine Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn sich das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch gewissenhafte und kundige Parteien nach bisherigem Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchten. Hierzu hat der Kläger allerdings nichts vorgetragen. Die von ihm zitierte BSG-Entscheidung bezog sich auf einen Fall, in dem ein LSG ausdrücklich neue sozialmedizinische Gesichtspunkte in das Verfahren eingeführt hatte (14.12.16, B 13 R 204/16 B). Vorliegend waren dem Kläger das Gutachten und die medizinischen Berichte aber bekannt, auf die sich das LSG stützte. Das Gericht wertete das Gutachten teilweise schlicht als nicht überzeugend.
Im Kern rügt der Kläger die Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung. Mit diesem Vorbringen ist er aber im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 HS. 2 SGG) von vornherein ausgeschlossen (BSG 13.8.18, B 13 R 397/16 B).
PRAXISTIPP | Wenn in einem Verfahren ‒ wie hier ‒ verschiedene ärztliche Stellungnahmen vorliegen, muss der Kläger genau darlegen, ob er diese kannte und sich hierzu äußern konnte. Das Gericht muss erklären, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit der Kläger Stellung nehmen kann und seine Prozessführung hieran ausrichten kann. |
Weiterführender Hinweis
- Rechtliches Gehör verletzt? Nur behaupten genügt nicht, SR 18, 201