· Fachbeitrag · Patientenverfügung
Der BGH stellt Grundsätze zur Auslegung klar
von RAin Dr. Gudrun Möller, FAin Familienrecht, Münster
| Der BGH hat entschieden: Sind ärztliche Maßnahmen in einer Patientenverfügung nicht detailliert genug beschrieben, kann diese gleichwohl konkret genug sein, wenn bestimmte Krankheiten oder Behandlungssituationen genannt werden. Hier hatte die Betroffene ihre Regelungen zu ärztlichen Maßnahmen an die Feststellung geknüpft, dass bei ihr keine Aussicht darauf besteht, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Der BGH hatte zunächst die Sache zurückverwiesen, um ein Gutachten einholen zu lassen, ob ihr Zustand im Wachkoma auf diese Behandlungssituation zutrifft. Dazu im Einzelnen: |
Sachverhalt
Die Betroffene (B) befindet sich in einem wachkomatösen Zustand. Sie wird seitdem über eine Magensonde (PEG) künstlich ernährt und mit Flüssigkeit versorgt. Sie hatte eine schriftliche „Patientenverfügung“ unterzeichnet:
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(...) Dagegen wünsche ich, dass lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben, wenn medizinisch eindeutig festgestellt ist, dass ich mich unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess befinde, bei dem jede lebenserhaltende Therapie das Sterben oder Leiden ohne Aussicht auf Besserung verlängern würde, oder dass keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht, oder dass aufgrund von Krankheit oder Unfall ein schwerer Dauerschaden des Gehirns zurückbleibt, (...). Behandlung und Pflege sollen in diesen Fällen auf die Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein, selbst wenn durch die notwendige Schmerzbehandlung eine Lebensverkürzung nicht auszuschließen ist. (...) |
Das AG hat den Antrag der B, vertreten durch den Sohn S, auf Genehmigung, dass künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr eingestellt werden, abgelehnt. Ihre Beschwerde blieb erfolglos. Nach Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung der Sache (BGHZ 214, 62 = EE 17, 74 = ZEV 17, 335 = FamRZ 17, 748) hat das LG ein Sachverständigengutachten eingeholt. Es hat die Beschwerde der B mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass keine gerichtliche Genehmigung erforderlich ist. Dagegen wendet sich der Ehemann der B, der M, erfolglos mit seiner Rechtsbeschwerde (ausführlich zum Sachverhalt EE 17, 74).
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Entscheidungsgründe
Hier bedarf es keiner betreuungsgerichtlichen Genehmigung gem. § 1904 Abs. 2, 3 BGB, weil die Patientenverfügung der B gem. § 1901 a Abs. 1 BGB eine wirksame Einwilligung in den Abbruch der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsversorgung enthält. Der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme bedarf nicht der betreuungsgerichtlichen Genehmigung (§ 1904 Abs. 2 BGB), wenn der Betroffene einen entsprechenden eigenen Willen bereits in einer wirksamen Patientenverfügung (§ 1901a Abs. 1 BGB) niedergelegt hat und diese auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. In diesem Fall ist eine Einwilligung des Betreuers, die der betreuungsgerichtlichen Genehmigung bedarf, nicht erforderlich. Dem Betreuer obliegt es in diesem Fall nach § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB nur noch, dem Willen des Betroffenen Geltung zu verschaffen (BGHZ 214, 62 = EE 17, 74; BGHZ 202, 226 = EE 14, 200).
Unmittelbar bindend i. S. d. § 1901a Abs. 1 BGB ist eine Patientenverfügung aber nur, wenn ihr konkrete Entscheidungen über die (Nicht-)Einwilligung in bestimmte, noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen zu entnehmen sind (BGH EE 14, 200). Neben Erklärungen zu den ärztlichen Maßnahmen, in die er einwilligt oder die er untersagt, verlangt der Bestimmtheitsgrundsatz auch, dass die Patientenverfügung erkennen lässt, ob sie in der konkreten Behandlungssituation gelten soll. Sie ist nur ausreichend bestimmt, wenn sich feststellen lässt, in welcher Behandlungssituation welche ärztlichen Maßnahmen durchgeführt werden bzw. unterbleiben sollen (BGH EE 17, 74).
MERKE | Eine Patientenverfügung muss dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Sie muss konkret die Behandlungssituationen beschreiben, in der sie gelten soll. Zudem muss sie die ärztlichen Maßnahmen genau bezeichnen, in die der Betroffene einwilligt oder die er untersagt, etwa durch Angaben zur Schmerz- und Symptombehandlung, künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, Wiederbelebung, künstlichen Beatmung, Antibiotikagabe oder Dialyse. Die Anforderungen an die Bestimmtheit dürfen aber nicht überspannt werden. Der Betroffene muss nur umschreibend festlegen, was er in einer bestimmten Lebens- und Behandlungssituation will und was nicht (BGH EE 14, 200). Maßgeblich ist nicht, dass er seine eigene Biografie als Patient vorausahnt und künftige Fortschritte in der Medizin berücksichtigt. Insbesondere kann nicht ein gleiches Maß an Präzision verlangt werden, wie bei der Willenserklärung eines einwilligungsfähigen Kranken in eine Behandlungsmaßnahme (BGH EE 17, 74; 14, 200; 16, 164). |
Nicht ausreichend sind allgemeine Anweisungen, wie die Aufforderung, ein würdevolles Sterben zu ermöglichen oder zuzulassen, wenn kein Therapieerfolg mehr zu erwarten ist (BGH EE 17, 74; 14, 200). Auch allein die Äußerung, „keine lebenserhaltenden Maßnahmen“ zu wünschen, enthält keine hinreichend konkrete Behandlungsentscheidung (BGH EE 16, 164). Die Konkretisierung kann sich aber auch bei einer weniger detaillierten Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen durch die Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behandlungssituationen ergeben. Ob in solchen Fällen die Patientenverfügung hinreichend konkret ist, ist durch Auslegung zu ermitteln (BGH EE 17, 74).
Die B hat in der Patientenverfügung für die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation wirksam in den Abbruch der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsversorgung eingewilligt. Steht medizinisch eindeutig fest, dass sie das Bewusstsein nicht wiedererlangen wird, soll es keine lebensverlängernden Maßnahmen geben. Damit hat die B hinreichend konkret eine Lebens- und Behandlungssituation beschrieben, in der die Patientenverfügung gelten soll. Diese Lebens- und Behandlungssituation liegt vor. Nach dem Sachverständigengutachten besteht bei ihr ein Zustand schwerster Gehirnschädigung, bei der die Funktionen des Großhirns ‒ zumindest soweit es dessen Fähigkeit zu bewusster Wahrnehmung, Verarbeitung und Beantwortung von Reizen angeht ‒ komplett ausgelöscht sind und dieser Zustand irreversibel ist. Nicht zu beanstanden ist die Auslegung der Patientenverfügung, dass diese Regelung auch den Abbruch einer bereits eingeleiteten künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsversorgung erfasst. Die Auslegung von Willenserklärungen ist Sache des Tatrichters und bindet das Rechtsbeschwerdegericht. Letzteres kann nur prüfen, ob der Auslegungsstoff vollständig berücksichtigt worden ist, ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, sonstige Erfahrungssätze oder die Denkgesetze verletzt sind oder ob die Auslegung auf Verfahrensfehlern beruht (vgl. BGH NJW-RR 18, 906).
MERKE | Die Beschränkung des Prüfungsmaßstabs des Rechtsbeschwerdegerichts bezüglich der Auslegung von Willenserklärungen gilt auch für die Auslegung einer Patientenverfügung, unabhängig davon, ob diese rechtlich als eine einseitige, nicht empfangsbedürftige Willenserklärung (vgl. MüKo/Schwab, BGB, 7. Aufl. § 1901a Rn. 8) oder nur als vorweggenommene Einwilligung oder deren Verweigerung in eine ärztliche Maßnahme zu verstehen ist (so etwa Staudinger/Bienwald, BGB, [2017], § 1901a Rn. 54; Spickhoff, FamRZ 09, 1949, 1950). |
Die Rechtsbeschwerde rügt, das Beschwerdegericht habe bei der Auslegung den Grundsatz nicht beachtet, wonach bei der Auslegung formbedürftiger Willenserklärungen ein aus den Umständen außerhalb der Urkunde ermittelter Wille des Erklärenden in der Urkunde einen ‒ wenn auch nur unvollkommenen ‒ Ausdruck gefunden haben müsse. Das Beschwerdegericht habe aufgrund der Zeugenaussagen angenommen, dass die B in den Abbruch der künstlichen Ernährung eingewilligt habe, falls bei ihr keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins bestehe. Das Beschwerdegericht habe jedoch außer Acht gelassen, dass der so ermittelte Wille der B in der Patientenverfügung keinen Ausdruck gefunden habe.
Diese Rüge dringt nicht durch. Zutreffend ist, dass Urkunden über formbedürftige Willenserklärungen nach allgemeinen Grundsätzen auszulegen sind. Außerhalb der Urkunde liegende Umstände dürfen dabei aber nur beachtet werden, wenn der einschlägige rechtsgeschäftliche Wille des Erklärenden in der formgerechten Urkunde einen ‒ wenn auch nur unvollkommenen oder andeutungsweisen ‒ Ausdruck gefunden hat (BGH NJW-RR 10, 821).
Hier ist der Text der Patientenverfügung u. a. wegen der Formulierung „Aktive Sterbehilfe lehne ich ab“ nach Ansicht des Beschwerdegerichts auslegungsbedürftig. Das Auslegungsergebnis, dass die B trotz der Formulierung auch in den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen eingewilligt hat, wenn bei ihr keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht, wird im Text jedoch ausreichend darin ausgedrückt, dass sie in den von ihr bezeichneten Lebens- und Behandlungssituationen keine lebensverlängernden Maßnahmen wünscht. Hieran hat das Beschwerdegericht angeknüpft und zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Teil der Patientenverfügung auch den Abbruch eingeleiteter lebensverlängernder Maßnahmen erfasst. Hinzu kommt, dass die B nicht nur pauschal bestimmt hat, lebensverlängernde Maßnahmen sollen in den von ihr beschriebenen Behandlungssituationen unterbleiben. Sie hat auch die ärztlichen Maßnahmen konkretisiert, die sie in diesen Fällen wünscht. Behandlung und Pflege sollen auf Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein, selbst wenn dadurch eine Lebensverkürzung nicht auszuschließen ist (vgl. BGH EE 17, 74). Auch dies ist ein in der Urkunde niedergelegter Anhaltspunkt dafür, dass die B mit dem Abbruch der Maßnahmen einverstanden ist.
Da das Beschwerdegericht somit rechtsfehlerfrei das Vorliegen einer bindenden Patientenverfügung festgestellt hat, die die vom S beantragte Therapiezieländerung erfasst, ist hier eine Einwilligung des Betreuers in diese ärztlichen Maßnahmen, die dem betreuungsgerichtlichen Genehmigungserfordernis nach § 1904 Abs. 2 und 3 BGB unterfällt, nicht erforderlich. Das Beschwerdegericht hat daher zu Recht ein sog. Negativattest erteilt (BGH EE 17, 74; 14, 200).
Relevanz für die Praxis
Der Fall ist bedeutsam und zeigt anhand der Verfahrenshistorie ‒ er ist zwei Mal bis zum BGH gegangen ‒ wie schwierig es für den Betroffenen, die Angehörigen, aber auch für die Gerichte ist, in einer Patientenverfügung seine Behandlungswünsche bestimmt zu artikulieren bzw. dafür zu sorgen, dass diese richtig umgesetzt werden, wenn der Betroffene selbst es nicht mehr regeln kann. Inhaltlich hat der BGH bestätigt, dass mit einer Patientenverfügung auch in den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen eingewilligt werden kann.
Bezüglich der Auslegung einer Patientenverfügung gelten dieselben Grundsätze wie bei Urkunden über formbedürftige Willenserklärungen. Außerhalb der Urkunde liegende Umstände dürfen nur beachtet werden, wenn der Wille des Erklärenden in der Urkunde zumindest angedeutet worden ist. Um zu vermeiden, dass das Gericht die Patientenverfügung auslegen muss, sind Widersprüche wie hier „... wünsche ich, dass lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben“ einerseits und „aktive Sterbehilfe lehne ich ab“ zu vermeiden.
Die Formulare der Justizministerien (z. B. www.iww.de/s2442) genügen den BGH-Anforderungen an Konkretheit (Dodegge, FamRZ 19, 307, 308 FN. 7).