· Fachbeitrag · Einkommensteuer
Interview zu BFH-Verhandlung: Muss Alleinerziehenden der Splittingtarif gewährt werden?
| Sind die Höhe der Kinderfreibeträge im Veranlagungszeitraum 2017 sowie die Besteuerung Alleinerziehender nach dem Grundtarif verfassungsgemäß? Diese Punkte waren Bestandteil einer interessanten mündlichen Verhandlung (Az. VIII R 32/20, Abruf-Nr. 242101 ), die SSP-Leserin Reina Becker am 18.06.2024 beim BFH bestritten hat. Das Besondere: SSP war live bei der Entscheidungsfindung beim BFH in München vor Ort und hat Frau Becker für ein Interview gewinnen können. |
SSP: Sie kämpfen seit Jahren dafür, dass Alleinerziehenden der Splittingtarif gewährt wird. Erklären Sie uns bitte kurz, warum das für Sie angezeigt ist.
Reina Becker: Eine Veränderung der Familienbesteuerung ist für mich angezeigt, weil die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers und der Rechtsprechung auf der Zielsetzung basierte, dass der Splittingvorteil „überwiegend bei Familien mit Kindern ankäme“ (BVerfG, Urteil vom 03.11.1982, Az. 1 BvR 620/78). Das ist heutzutage nicht mehr der Fall; über 43 Prozent des Splittingvolumens kommen bei steuerlich kinderlosen Paaren an.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Vom Splittingvolumen kommen nur 57 Prozent bei verheirateten Paaren mit Kindern an. Berücksichtigt man, dass
- inzwischen jedes fünfte Kind in einer alleinerziehenden Familie aufwächst,
- etwa jedes dritte Kind zumindest bei der Geburt unverheiratete Eltern hat und dass
- immer mehr Ehen geschieden werden,
dann sind es weit über 50 Prozent aller Familien, die nicht vom Splittingtarif profitieren.
SSP: Die mündliche Verhandlung vor dem BFH hatte ja eine Vorgeschichte. Vor dem FG Sachsen hatten sie verloren. Gegen die negative Entscheidung haben Sie Revision eingelegt, obwohl die Sache ja wohl schon „ausgeurteilt“ war? Was hat Ihnen Hoffnung gegeben?
Reina Becker: Das FG Sachsen hatte die Revision selbst zugelassen. Das hat mich durchaus überrascht, weil es die Entscheidung eines einzelnen Richters war. Der Kläger hat sie dann eingelegt, denn „ausgeurteilt“ heißt ja nicht in Stein gemeißelt. Schließlich haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und familiären Konstellationen seit dem Urteil aus 1982, auf das inhaltlich nach wie vor verwiesen wird, verändert. Und Hoffnung hatte mir defintiv gemacht, dass unserem Antrag auf Feststellung der Besorgnis der Befangenheit gegen die eigentliche Vorsitzende Richterin des VIII. Senats stattgegeben worden war. Wir haben dann auf die „verjüngte“ Besetzung des Senats gesetzt. Das war zweifelsfrei zu optimistisch.
SSP: Der Vorsitzende Richter hat von Ihnen auch gefordert, neue Unterlagen bzw. Gründe vorzulegen, warum die derzeitige Rechtslage jetzt doch verfassungswidrig sein soll. Worin bestehen diese für Sie? Was waren Ihre zentralen Argumente?
Reina Becker: Genau, wir hatten vor der mündlichen Verhandlung eine juristische Stellungnahme eingereicht, die sich ausdrücklich, neu und intensiv mit Art. 6 GG auseinandersetzt. Dr. Levedag, der Vorsitzende Richter, hat dazu in der Verhandlung lapidar gesagt: „Haben wir zur Kenntnis genommen.“ Darum hier etwas ausführlicher:
Das Fördergebot in Art. 6 GG: Sind Ehe und Familie zu entkoppeln?
In Art. 6 Abs. 1 GG steht, dass der Staat Ehe und Familie nicht nur schützen, sondern auch fördern muss. Das ist kein Selbstzweck, sondern dient vielmehr objektivrechtlichen Zielen. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG kommt sowohl eine Entlastungs- als auch eine Reproduktionsfunktion zum Tragen. Hier stellt sich die Frage, welche Funktion der Ehe eigentlich zukommt, d. h. zu welchem Zweck sie überhaupt gefördert wird.
Als der Splittingtarif eingeführt wurde, waren Ehe und Familie gleichgesetzt. Zwar wollten die Schöpfer der Verfassung den Begriff der Nationalsozialisten von der Familie als „Keimzelle der Nation“ vermeiden, sie gingen aber stillschweigend davon aus, dass jede Eheschließung als Vorstufe für eine Familiengründung zu betrachten sei. Soweit Ehen sexuell vollzogen wurden ‒ was keine Voraussetzung für die Steuervergünstigung ist ‒ und keine ungewollte Kinderlosigkeit gegeben war, war das damals auch mangels entsprechender Verhütungsmöglichkeiten der Standardfall. Entlastungs- und Reproduktionsfunktion waren dem einheitlichen Institut „Ehe und Familie“ immanent. Was angesichts fehlender Verhütungsmethoden und der geringen Scheidungsquoten ‒ man ließ sich nicht scheiden ‒ auch realitätsgerecht und nachvollziehbar gewesen sein mag. Das Splitting wurde ausdrücklich als „bedeutende Förderung des Familiengedankens“ bezeichnet und das war auch noch ein tragendes Argument im BVerfG-Urteil von 1982.
Die Gesellschaft hat sich seither ‒ auch 1982 ist heute schon 42 Jahre her ‒ verändert. Die Überschneidung von Ehe und Familie schrumpft zunehmend. Vor diesem Hintergrund kann das Fördergebot des Art. 6 Abs. 1 GG nicht mehr einheitlich als „Schutz von Ehe und Familie“ verstanden werden. Leistungen oder Begünstigungen, die an das Bestehen einer Ehe geknüpft werden, kommen eben gerade nicht mehr automatisch Eltern bzw. Kindern zugute.
Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang besonders der GG-Kommentar von Dreier, der für eine klare Entkopplung von Ehe einerseits und Familie andererseits plädiert. Darin heißt es zu Art. 6 GG in Rn. 77: „Die Entkopplung ergibt sich zudem aus den unterschiedlichen Funktionen von Ehe und Familie, deretwegen sie besonderen Schutz genießen. Während die Ehe als Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft geschützt ist, kommt der Familie Schutz wegen ihrer Generationenersatzfunktion zu. Diesen unterschiedlichen Funktionen entspricht der verfassungsrechtlich getrennte Schutz von Ehe und Familie durch zwei verschiedene Grundrechte.“ Und weiter in Rn. 82: „Während die Ehe den Staat durch Erfüllung von Beistands- und Verantwortungsaufgaben entlastet und deshalb unter besonderen Schutz gestellt ist, erfüllt die Familie Reproduktions- und Entlastungsfunktion, was einen gegenüber der Ehe gesteigerten Schutz- und Förderauftrag des Staates nahelegen könnte.“
Wir meinen, dass es angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung und des zunehmenden Auseinanderfallens von Ehe und Familie Zeit ist, dass das BVerfG sich dazu äußert, in welchem Verhältnis beide Institutionen heute zueinander zu sehen sind und welche Folgen daraus in Bezug auf Förderungsleistungen resultieren, die wie das Splitting nicht an die Familie, sondern spezifisch an die Ehe geknüpft sind.
Kommt man ‒ wie der Dreier-Kommentar ‒ zu dem Ergebnis, dass der Ehe heute lediglich noch Beistands- und Entlastungswirkung zukommt, aber eben keine Reproduktionsfunktion mehr, dann ist eine derart einseitige steuerliche Begünstigung der Ehe nicht mehr haltbar. Kindesunterhalt wird im Steuerrecht generell ausschließlich mit dem verfassungswidrig zu niedrigen Existenzminimum berücksichtigt, während bei der Ehe die Hälfte des Einkommens der Progression entzogen werden kann. Zahlt ein getrenntlebender Elternteil Kindesunterhalt, wird dieser steuerlich deutlich geringer berücksichtigt als der Ehegattenunterhalt an einen geschiedenen Ehepartner. Wenn es bei der Ehe aber lediglich um Beistand und Verantwortung geht, dann müsste die Familie eigentlich sogar in stärkerem Maße begünstigt werden, denn sie sorgt zusätzlich für die nächste Generation. Ganz unabhängig davon dürfte aber die Ehe steuerlich jedenfalls nicht bessergestellt werden als die Familie. Beistand und Entlastung des Staates leisten beide.
Alleinerziehende und nichtverheiratete Eltern tragen Last des Splittings
Der hochgeachtete Steuerrechtsexperte Klaus Tipke schreibt dazu: „Wenn sich feststellen ließe, wie hoch der Steuerausfall durch ungerechtfertigte Steuervergünstigungen ist und wenn sich zugleich erhärten ließe, dass Steuerpflichtige die keine Steuervergünstigungen in Anspruch nehmen, den Vergünstigungsausfall durch höhere Steuern ausgleichen müssen, läge in der Tat in dieser Höherbelastung eine Gleichheitssatzverletzung und folglich eine Rechtverletzung vorung (Quelle: Klaus Tipke (2006). „Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?“, Verlag Dr. Otto Schmidt Köln, S. 194). Der jährliche Steuerausfall durch das Ehegattensplitting von ca. 22 Mrd. Euro jährlich wird ausgeglichen durch die Mehrsteuern der nichtverheirateten Eltern und Alleinerziehenden.
Die Halbteilungslüge ‒ es herrscht eine Doppelmoral bei ESt und KiSt
Hinzu kommt, dass wir derzeit eine Doppelmoral bei Kirchensteuer und Einkommensteuer haben. Für den Einommensteuertarif wird unterstellt, es würde hälftig geteilt, für die Kirchensteuer wird dies ausdrücklich verneint.
„Da aber im heutigen staatlichen Einkommensteuerrecht das Steuerverhältnis ein individuelles ist und die Ehe über die Unterhaltsgemeinschaft hinaus keine enge Wirtschaftsgemeinschaft begründet (...), entspricht der sog. Halbteilungsgrundsatz weder dem heutigen Einkommensteuerrecht noch dem modernen Familiengüterrecht. ………..“, BVerfG, Urteil vom 14.12.1965, Az. 1 BvR 606/60).
Prof. Klaus Tipke hat in der Schrift „Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis“ bereits 1981 folgende, bis heute unbeantwortete Frage gestellt: „Warum wird das Splitting auch Eheleuten gewährt, die in Gütertrennung leben?“ Seine Antwort: „Dadurch, dass das Einkommensteuerrecht auf den Güterstand keine Rücksicht nimmt, behandelt es Fälle ungleicher individueller wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gleich.“
Die vom Verfahren wegen der Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossene Vorsitzende Richterin Frau Prof. Jachmann-Michel hatte in einer Stellungnahme an den Deutschen Bundestag tatsächlich geschrieben: „Die Fälle der Gütertrennung sind insoweit adäquat erfasst, als für sie typisierend angenommen werden kann, dass die Ehepartner die getrennte Veranlagung (§§ 26, 26a EStG) wählen.“ Da frage ich mich: Was sollen wir von einer BFH-Richterin halten, die in einer politischen Stellungnahme eine für Steuerberater haftungsbegründende Fehlberatung als typisierend anzunehmen darstellt?
Es ist völlig realitätsfremd, davon auszugehen, dass diese Ehepartner sich freiwillig getrennt veranlagen ließen. Die Fiktion der Halbteilung ist zum einen empirisch nicht haltbar und kann zum anderen sogar bewusst abbedungen werden und gilt für ein gewaltiges Steuerprivileg.
Ein alleinerziehender Witwer mit zwei Kindern darf kein „bedauerliches Bauernopfer“ sein, das in Kauf genommen wird für die Aufrechterhaltung eines Besitzstandsdenkens. Oder, um es mit Rudolf von Jherings zu sagen: „Das Recht kann sich nur dadurch verjüngen, dass es mit seiner eigenen Vergangenheit aufräumt.“ Die Missachtung der Freistellung von Existenzminima von Kindern und der verfassungswidrigen Begünstigungsausschluss eines verwitweten Vaters missachten Fundamentalregeln des Steuerrechts und verstoßen gegen Grundrechte.
SSP: Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten Ihrer Klage ein? Wir waren ‒ als außenstehende Zuhörer ‒ eher skeptisch.
Reina Becker: Unter Berücksichtigung des Verlaufs der mündlichen Verhandlung teile ich Ihre Skepsis.
SSP: Was tun Sie, wenn Sie vor dem BFH (erneut) verlieren? Aufgeben?
Reina Becker: Das muss und wird der Kläger entscheiden. Ich vermute, dass er Verfassungsbeschwerde einlegen wird. Dann gäbe es zwei, denn unter dem Az. 2 BvR 1236/23 ist aktuell eine weitere Verfassungsbeschwerde einer alleinerziehenden Berliner Ärztin anhängig, die bei der mündlichen Verhandlung ebenfalls anwesend war.
SSP: In der mündlichen Verhandlung ist vom Kläger ein bisschen der Verdacht geäußert worden, dass das BVerfG in steuerlichen Dingen wenig Interesse hat, dem Bürger Rechtsicherheit zu gewähren bzw. ihn als „civis“ und Finanzier der öffentlichen Haushalte ernst zu nehmen. So sei Ihre umfangreich begründete Verfassungsbeschwerde zur Benachteiligung Alleinerziehender beim Splittingtarif ohne Begründung mit einem einzigen lapidaren Satz nicht zur Entscheidung angenommen ‒ man kann schon sagen „abgemeiert“ ‒ worden. Und mehrere Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit der Kinderfreibeträge hängen in den letzten 20 Jahren beim BVerfG, ohne dass sich das Gericht bemüßigt fühle, eine Entscheidung zu fällen. Teilen Sie diese Meinung?
Reina Becker: Unsere vor ein paar Jahren nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde zur Familienbesteuerung hatte damals ein BFH-Richter a. D. (Prof. Dr. Hans-Joachim Kanzler) mitverfasst; daneben haben mich sowohl Prof. Joachim Lang als auch Prof. Klaus Tipke ‒ beides höchst versierte Steuerrechter ‒ persönlich ermutigt, dieses wichtige Verfahren zu führen. Das BVerfG hat sie nicht angenommen. Unterzeichnet war die Nichtannahme vom ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten des Saarlands, Peter Müller. Was ich damit sagen will: Ich halte es für höchst problematisch, dass beim BVerfG ehemalige Politiker postiert werden.
Und ja, zu den Kinderfreibeträgen hängt derzeit seit siebeneinhalb Jahren ein einziges Verfahren beim BVerfG ‒ Klägerin bin ich ‒, vorläufig sind aber alle Steuerbescheide von Eltern seit 2001. Dass sich der BFH hierzu auf § 165 AO ausruht und nicht selbst eine weitere Richtervorlage macht, finden der Kläger und auch ich eines obersten Gerichts unwürdig. Zumal ich das Gefühl hatte, dass dem Vorlagebeschluss des FG Niedersachsen inhaltlich durchaus gefolgt wurde. Wenn dem tatsächlich so ist, dann müsste der BFH nach Art. 100 GG selbst vorlegen. Art. 100 GG gestattet nämlich keinen Ermessensspielraum. Der BFH könnte einfach vom FG Niedersachsen „abschreiben“ und im übrigen eine ruhige Kugel schieben. Wie dem auch sei, ich bleibe weiterhin optimistisch. Irgendwann wird die Zeit reif sein ‒ und wir werden auf eine jüngere Richtergeneration stoßen, die es sich nicht so gemütlich macht.
SSP: Frau Becker, vielen Dank für Ihre offenen Worte.
Sie kämpft auch als selbst Betroffene (nach dem Tod ihres Ehemannes) seit Jahren dafür, dass auch Alleinerziehenden der Splittingtarif gewährt wird. Steuerberaterin Reina Becker aus Westerstede.
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