22.09.2011 · IWW-Abrufnummer 113160
Finanzgericht Berlin-Brandenburg: Urteil vom 10.05.2011 – 5 K 5070/08
Sogenannte „Pocket-Bikes” sind mangels Bestimmung zur Güter- oder Personenbeförderung keine Fahrzeuge i. S. d. § 1b UStG und des Art. 28a Abs. 2 Buchst. a der 6. Richtlinie (EWG) Nr. 388/77. Sie unterfallen nicht der Steuerbefreiung für die innergemeinschaftliche Lieferung neuer Fahrzeuge.
FG Berlin-Brandenburg v. 10.05.2011
5 K 5070/08
Tatbestand:
Die Klägerin lieferte im Streitjahr sog. Pocket-Bikes an Privatpersonen und Unternehmer im Gemeinschaftsgebiet. Pocket-Bikes sind kleine Zweiräder, die bis 24 kg schwer sein können und die Maße 110 cm × 50 cm × 50 cm nicht überschreiten. Die Sitzhöhe liegt etwa bei 40-50 cm. Die Motorisierung besteht aus einem Einzylinder-Zweitaktmotor, der zwischen 1,6 und 16 PS stark sein kann. Höchstgeschwindigkeiten liegen teilweise über 70 km/h. Optisch lehnen sich die Pocket-Bikes in der Regel an existierenden Motorräder an, zum Teil in Form von möglichst exakten Kopien. Die von der Klägerin gelieferten Pocket-Bikes sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht für den öffentlichen Straßenverkehr zugelassen, weil sie die Anforderungen der Straßenverkehrszulassungsordnung nicht erfüllen.
In den abgegebenen Umsatzsteuererklärungen behandelte die Klägerin die Lieferung der Pocket-Bikes an Privatpersonen im übrigen Gemeinschaftsgebiet als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen neuer Fahrzeuge. Dem folgte der Beklagte im Anschluss an eine im Jahr 2007 durchgeführte Umsatzsteuer-Sonderprüfung nicht. Mit Bescheid vom …2007 setzte er zunächst die Umsatzsteuer-Vorauszahlung für den Monat … 2006 erhöht fest. Während des dagegen geführten Einspruchsverfahrens erließ er am …2008 den Umsatzsteuer-Jahresbescheid 2006. Den Einspruch wies er mit der Einspruchsentscheidung vom …2008 als unbegründet zurück.
Mit der Klage macht die Klägerin geltend, dass die Lieferungen der Pocket-Bikes an Privatpersonen im übrigen Gemeinschaftsgebiet nach § 1b Umsatzsteuergesetz – UStG – steuerfrei seien. Es handele sich bei den Pocket-Bikes um neue Fahrzeuge im Sinne dieser Vorschrift. Eine Zulassung für den Straßenverkehr sei nicht erforderlich. Der Verwendungszweck sei kein Abgrenzungsmerkmal. Nach der nationalen Vorschrift komme es – anders als nach Art. 28a Abs. 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie des Rates 77/388/EWG vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem (ABl. EG 1977 Nr. L 145, 1 – Sechste Richtlinie –) nicht darauf an, dass das Fahrzeug primär zur Personen- und Güterbeförderung bestimmt sei. Demzufolge könne sie, die Klägerin, sich auf die für sie günstigere Vorschrift des nationalen Rechts berufen. Der nationale Gesetzgeber habe die strengeren Anforderungen der Sechsten Richtlinie nicht in das nationale Recht übernommen. Abgesehen davon dienten die Pocket-Bikes auch der Personenbeförderung, da der Fahrer befördert werde.
Die Klägerin beantragt,
die Umsatzsteuer 2006 unter Änderung des Bescheides vom …2008 und Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom …2008 dahingehend neu festzusetzen, dass die Lieferungen der Pocket-Bikes an Privatpersonen im übrigen Gemeinschaftsgebiet als umsatzsteuerfrei behandelt werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass es sich bei Fahrzeugen im Sinne des § 1b UStG um solche handeln müsse, die zur Personen- und/oder Güterbeförderung bestimmt seien. Dies ergebe sich aus dem Zweck des Art. 28a Abs. 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie, der bei der Auslegung des Begriffs des Fahrzeugs im Sinne des § 1b UStG ergänzend heranzuziehen sei.
Neben der Verfahrensakte haben dem Gericht folgende Akten des Beklagten bei der Entscheidung vorgelegen: Umsatzsteuerakte für den Zeitraum 2006, Akte mit Berichten über Umsatzsteuer-Sonderprüfungen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist unbegründet. Der angefochtene Umsatzsteuerbescheid 2006 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung – FGO –)
Nach § 4 Nr. 1 Buchstabe b UStG sind die innergemeinschaftlichen Lieferungen von der Umsatzsteuer befreit. Der Erwerb eines neuen Fahrzeugs ist nach § 1b Abs. 1 UStG unter den Voraussetzungen des § 1a Abs. 1 Nr. 1 UStG ein innergemeinschaftlicher Erwerb und damit – aus Sicht des Lieferanten – eine innergemeinschaftliche Lieferung. Fahrzeuge im Sinne dieser Regelung sind nach § 1b Abs. 2 Nr. 1 UStG unter anderem motorbetriebene Landfahrzeuge mit einem Hubraum von mehr als 48 cm³ oder einer Leistung von mehr als 7,2 kW. Ein Landfahrzeug gilt nach § 1b Abs. 3 Nr. 1 UStG als neu, wenn es nicht mehr als 6000 km zurückgelegt hat oder wenn seine erste Inbetriebnahme im Zeitpunkt des Erwerbs nicht mehr als sechs Monate zurückliegt.
Nach Art. 28a Abs. 1 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie unterliegt der Mehrwertsteuer unter anderem der innergemeinschaftliche Erwerb neuer Fahrzeuge. Als Fahrzeuge in diesem Sinne gelten nach Art. 28a Abs. 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie unter anderem Landfahrzeuge mit einem Hubraum von mehr als 48 cm³ oder einer Leistung von mehr als 7,2 kW, die zur Personen- oder Güterbeförderung bestimmt sind.
Die Voraussetzungen des § 1b UStG und des Art 28a der Sechsten Richtlinie liegen in Bezug auf die von der Klägerin vertriebenen Pocket-Bikes nicht vor, weil es sich nicht um Fahrzeuge im Sinne der genannten Normen handelt.
Art. 28a Abs. 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie verlangt, dass die Fahrzeuge zur Personen- oder Güterbeförderung bestimmt sind. Das ist bei den von der Klägerin gelieferten Pocket-Bikes nicht der Fall. Der Begriff des Bestimmtseins zur Personen- oder Güterbeförderung erfordert, dass die Fahrzeuge den Hauptzweck haben, Personen oder Güter zu befördern, das heißt von einem Ort zu einem anderen zu verbringen. Das folgt aus dem allgemeinen Sprachgebrauch der Begriffe „Bestimmung” und „Beförderung”. Der Hauptzweck der von der Klägerin gelieferten Pocket-Bikes besteht demgegenüber nicht darin, Personen oder Güter von einem Ort zu einem anderen zu verbringen, sondern in der Durchführung sportlicher Wettkämpfe oder – wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – im „Umherfahren auf privaten Geländen”. Auf die Frage, ob die Pocket-Bikes zum Straßenverkehr zugelassen werden können, kommt es dabei nicht an. Dies mag allenfalls indizielle Bedeutung für die nicht vorhandene Bestimmung der Pocket-Bikes zur Personen- oder Güterbeförderung haben.
Die Steuerbefreiung für die Lieferung der Pocket-Bikes ergibt sich auch nicht daraus, dass § 1b UStG – im Unterschied zu Art. 28a Abs. 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie – nicht ausdrücklich verlangt, dass die Fahrzeuge zur Personen- oder Güterbeförderung bestimmt sein müssen. § 1b UStG ist gleichwohl richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass stets eine Bestimmung der Fahrzeuge zur Personen- oder Güterbeförderung vorliegen muss (ebenso Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1b Rn. 18; Leonard in Bunjes/Geist, UStG, 9. Auflage München 2009, § 1b Rn. 9; aA Rondorf in Plückebaum/Malitzky, UStG, § 1b Rn. 22, wonach auch Sportgeräte unter die Befreiungsvorschrift fallen sollen). Zweck des § 1b UStG ist, die Vorgabe des Art. 28a Abs. 1 Buchstabe b und Abs. 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie umzusetzen. Art. 28 Abs. 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie legt dabei die Bestimmung des Fahrzeugs zur Personen- oder Güterbeförderung als Wesensmerkmal eines unter die Vorschrift zu subsumierenden Fahrzeugs fest. Mithin kann auch der Fahrzeugbegriff im Sinne des § 1b UStG nicht anders verstanden werden. Ein Dissens zwischen den beiden Normen liegt damit nicht vor, so dass die von der Klägerin zitierte höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach sich ein Steuerpflichtiger im Falle eines Dissenses auf die für ihn günstigere Regelung des nationalen Rechts oder des Gemeinschaftsrechts berufen darf, nicht zur Anwendung kommt (aA FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.1.2008 – 2 V 2359/07 , n.v.).
Darauf, dass die Lieferungen der Pocket-Bikes durch die Klägerin die übrigen Voraussetzungen des § 1b Abs. 2 Nr. 1 UStG, des Art. 28a Abs. 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie und des § 1a Abs. 1 Nr. 1 UStG für die begehrte Steuerbefreiung – unstreitig – erfüllen, kam es angesichts dessen nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.