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  • 16.01.2013 · IWW-Abrufnummer 130085

    Finanzgericht Münster: Urteil vom 30.11.2012 – 4 K 1569/12 Kg

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Münster
    4 K 1569/12 Kg

    Tenor:

    Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 9.3.2012 und der Einspruchsentscheidung vom 29.3.2012 verpflichtet, gegenüber der Klägerin für den Zeitraum Januar bis September 2012 Kindergeld für ihre Tochter M. in der gesetzlichen Höhe festzusetzen.

    Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

    Die Revision wird zugelassen.

    Tatbestand

    Die Beteiligten streiten über die Festsetzung von Kindergeld für ein volljähriges verheiratetes Kind.

    Die am xx.yy.1990 geborene Tochter der Klägerin, M. W., ist seit dem xx.7.2009 verheiratet. Sie verließ im Juli 2009 nach der 12. Klasse das Gymnasium und befand sich vom 1.10.2009 bis zum 30.9.2012 in einer Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin.

    Die Beklagte gewährte der Klägerin zunächst Kindergeld für ihre Tochter M. sowie für die weitere Tochter N. (geb. xx.yy.1989), die sich in einem Studium befand. Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für M. ab Februar 2011 auf, weil sich das Einkommen des Ehemannes, E. W., erhöht habe.

    Ab Januar 2012 beantragte die Klägerin erneut Kindergeld für ihre Tochter M. . Sie gab an, dass ihr Schwiegersohn ab diesem Zeitpunkt lediglich über ein monatliches Einkommen in Höhe von 390,- EUR verfüge, während M. im Jahr 2012 insgesamt eine Bruttoausbildungsvergütung in Höhe von 8.966,55 EUR erhalten werde.

    Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, dass bei einem verheirateten Kind nicht mehr die Eltern, sondern der Ehegatte zum Unterhalt verpflichtet sei.

    Im Einspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, dass der Ehegatte ihrer Tochter aufgrund zu geringer Einkünfte nicht zum Unterhalt verpflichtet sei und dass ab 2012 für volljährige Kinder in einem Ausbildungsverhältnis keine Einkommensprüfung mehr vorzunehmen sei.

    Der Beklagte wies den Einspruch als unbegründet zurück. Auf das Einkommen des Ehegatten komme es nicht an, da bereits die eigenen Einkünfte und Bezüge der Tochter den Grenzbetrag überstiegen.

    Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, dass die bisher in § 32 Abs. 4 Sätze 2 bis 10 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geregelte Einkünfte- und Bezügegrenze ab 2012 entfallen sei.

    Die Klägerin beantragt,

    den Ablehnungsbescheid vom 9.3.2012 und die Einspruchsentscheidung vom 29.3.2012 aufzuheben und die Beklagten zu verpflichten, dem Antrag auf Kindergeld für M. von Januar bis September 2012 stattzugeben,

    hilfsweise, die Revision zuzulassen.

    Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Sie verweist auf die Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, dass die Klägerin nicht nachgewiesen habe, dass ein sog. Mangelfall vorliege.

    Nach richterlichem Hinweis, dass es nach Wegfall der Prüfung der eigenen Einkünfte und Bezüge eines Kindes auch nicht mehr auf das Vorliegen eines Mangelfalles ankomme, beruft sich die Beklagte auf die Weisungslage (DA 31.2.2 FamEStG).

    Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

    Entscheidungsgründe

    Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.

    Die Klage ist zulässig und begründet.

    Die Ablehnung der beantragten Kindergeldfestsetzung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO). Die Klägerin hat für den Zeitraum Januar bis September 2012 einen Anspruch auf Kindergeld für ihre Tochter M. .

    Die Tochter der Klägerin erfüllt die besonderen Anspruchsvoraussetzungen für volljährige Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gemäß §§ 62, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a) EStG, da sie sich in diesem Zeitraum in einer Berufsausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin befand. Die Einschränkung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der ab 2012 gültigen Fassung, wonach ein Kind nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung und eines Erststudiums nur dann berücksichtigt wird, wenn es keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, greift im Streitfall nicht, da es sich um eine Erstausbildung handelt. Ein vorangegangener Besuch des Gymnasiums erfüllt zwar den Berücksichtigungstatbestand der Berufsausbildung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a) EStG, stellt aber keine „erstmalige Berufsausbildung“ im Sinne der enger auszulegenden Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG dar. Letztere liegt nur vor, wenn dem Kind alle notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse vermittelt wurden, die es für die Ausübung des von ihm angestrebten Berufes benötigt (vgl. Loschelder in Schmidt, EStG, 31. Auflage 2012, § 32 Rn. 49 und BMF-Schreiben vom 7.12.2011, BStBl. I 2011, 1243, Tz. 21).

    Weitere Voraussetzungen enthält das Gesetz nicht. Die Höhe der Ausbildungsvergütung der Tochter ist für den Kindergeldanspruch nicht maßgeblich, da die in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum 31.12.2011 gültigen Fassung (EStG a. F.) enthaltene Regelung zum 1.1.2012 entfallen ist (Art. 1 Nr. 17 Buchstabe a), Art. 18 Abs. 1 des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 vom 1.11.2011, BGBl. I 2011, S. 2131 ff.). Gleiches gilt für den Unterhaltsanspruch der Tochter gegen ihren Ehemann nach §§ 1608 Satz 1, 1360, 1360a des Bürgerlichen Gesetzbuches, der bis 2011 zu den maßgeblichen Einkünften und Bezügen gehörte (vgl. BFH-Beschluss vom 22.12.2011 III R 8/08, BStBl II 2012, 340).

    Die Einkünfte des Ehemannes der Tochter sind für den Kindergeldanspruch der Klägerin ebenfalls nicht von Bedeutung. Ob ein sog. „Mangelfall“ vorliegt, ist unerheblich, weil der Umstand, dass die Tochter verheiratet ist, dem Kindergeldanspruch nicht entgegensteht. Für verheiratete Kinder sieht das Gesetz keinerlei Einschränkungen vor. Der Kindergeldanspruch setzt entgegen der früheren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) keine „typische Unterhaltssituation“ voraus. Nach diesem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal war ein Kindergeldanspruch nicht gegeben, wenn ein Kind verheiratet war und kein sog. s„Mangelfall“ vorlag (BFH-Urteile vom 19.4.2007 III R 65/06, BStBl. II 2008, 756) oder das Kind einer Vollzeitbeschäftigung nachging (BFH-Urteile vom 20.7.2006 III R 78/04, BFH/NV 2006, 2248 und III R 58/05, BFH/NV 2006, 2249).

    Das Erfordernis des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der „typischen Unterhaltssituation“ hat der BFH in seiner neueren Rechtsprechung – jedenfalls für die Fälle der Vollzeitbeschäftigung - ausdrücklich aufgegeben (BFH-Urteile vom 17.6.2010 III R 34/09, BStBl II 2010, 982; vom 27.1.2011 III R 57/10, BFH/NV 2011, 1316; und vom 22.12.2011 III R 64/10, BFH/NV 2012, 927; III R 65/10, BFH/NV 2012, 929; III R 67/10, BFH/NV 2012, 930; III R 93/10, BFH/NV 2012, 932 und III R 66/10, BFH/NV 2012, 1301). Zur Begründung führt der BFH aus, dass eine typische Unterhaltssituation kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Berücksichtigungstatbestände sei. Die Frage, ob ein Kind typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen seiner Eltern angewiesen ist, sei nach der gesetzlichen Regelung erst im Rahmen der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a. F.) zu prüfen.

    Der Senat schließt sich der geänderten Rechtsprechung an. Mangels gesetzlicher Regelung kann das Fehlen einer typischen Unterhaltssituation einen nach dem Gesetz bestehenden Kindergeldanspruch nicht ausschließen. Daran hat sich mit dem Wegfall der Prüfung der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes zum 1.1.2012 nichts geändert. Nach der gesetzgeberischen Entscheidung ist Kindergeld nunmehr bei Vorliegen eines Berücksichtigungstatbestandes unabhängig von der Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes zu gewähren. Dabei hat der Gesetzgeber eine Ausweitung der Begünstigungsfälle bewusst in Kauf genommen. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs soll diese Ausweitung den Umfang der begünstigten Fälle nicht wesentlich erweitern. Der Wegfall des Grenzbetrages soll vielmehr zu einer erheblichen Entlastung von Eltern, volljährigen Kindern, Familienkassen und Finanzämtern führen (Bundestags-Drucksache 17/5125, S. 41). Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation, die sich durch die Höhe des eigenen Einkommens des Kindes ausdrückt, ist bereits nicht mehr gesetzliche Voraussetzung. Dieser gesetzgeberischen Entscheidung liefe das Erfordernis eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals „typische Unterhaltssituation“ zuwider. Hätte der Gesetzgeber den Kindergeldanspruch für verheiratete Kinder ausschließen wollen, hätte er einen entsprechenden Ausschlusstatbestand eingeführt.

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

    Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage der Kindergeldberechtigung für verheiratete Kinder nach Wegfall des Grenzbetrags zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO). Zudem widerspricht die Entscheidung einer bundesweit geltenden Verwaltungsanweisung (DA 31.2.2 FamEStG).

    RechtsgebietFinanz- und Abgaberecht