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  • 26.02.2014 · IWW-Abrufnummer 140623

    Finanzgericht Münster: Urteil vom 08.01.2014 – 14 K 1703/13 Kg

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.



    Tenor:

    Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 17.04.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.05.2013 verpflichtet, zu Gunsten der Klägerin für das Kind W. Kindergeld für den Zeitraum September 2012 bis Mai 2013 festzusetzen.

    Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

    Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheits-leistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

    Tatbestand:

    Die Klägerin begehrt Kindergeld für ihre am 08.08.1995 geborene Nichte W.

    Sowohl die Klägerin als auch W. besitzen die irakische Staatsangehörigkeit. Der Klägerin wurde am 05.05.2010 eine bis zum 18.04.2013 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) mit dem Zusatz "Erwerbstätigkeit gestattet" erteilt. Seit dem 09.04.2013 ist sie im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG.

    Am 21.03.2013 wurde die Klägerin vom Amtsgericht C zum Vormund von W. bestellt, die ausweislich einer Meldebescheinigung der Stadt C seit dem 18.09.2012 bei ihr in Deutschland wohnt. Seit dem 05.11.2012 besucht W. ein Berufskolleg. Ihr Vater ist in 2002 verstorben und ihre Mutter – die Schwester der Klägerin – lebt im Irak.

    Die Beklagte lehnte den von der Klägerin am 28.03.2013 gestellten Antrag auf Kindergeld mit Bescheid vom 17.04.2013 ab mit der Begründung, dass kein Pflegekindschaftsverhältnis vorliege, weil eine familienähnliche Bindung kurz vor Eintritt der Volljährigkeit grundsätzlich nicht mehr begründet werden könne.

    Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 14.05.2013 als unbegründet zurück.

    Im Klageverfahren verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Ansicht, dass ihr als Vormund Kindergeld zustehe, zumal das Kindergeld benötigt werde, um die Vormundschaft ordnungsgemäß auszuführen. Jedes in Deutschland lebende Kind habe Anspruch auf angemessene Förderung und Unterstützung.

    Es liege auch eine auf Dauer angelegte familiäre Verbindung vor. W. sei wegen des Terrors und des Kriegs in ihrem Heimatland von dort geflüchtet und sei wegen der dortigen Geschehnisse traumatisiert. Sie – die Klägerin – sei ihre Bezugsperson, auf die W. angewiesen sei und bei der sie sich wohl fühle. W. werde auch nach Erreichen der Volljährigkeit bei ihr – der Klägerin – verbleiben, zumal die schulische Laufbahn noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen werde.

    Seit der Einreise nach Deutschland habe W. ihre Mutter nicht mehr gesehen. Es habe nur telefonische Kontakte gegeben, und das auch nur alle paar Monate.

    Die Klägerin beantragt,

    die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 17.04.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.05.2013 zu verpflichten, zu ihren Gunsten für das Kind W. Kindergeld für den Zeitraum September 2012 bis Mai 2013 festzusetzen.

    Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Sie verweist auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.

    Das Verfahren wurde mit Beschluss vom 18.11.2013 auf den Einzelrichter übertragen.

    Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Kindergeldakte Bezug genommen.

    Entscheidungsgründe:

    Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).

    Die Klage ist zulässig und begründet.

    Die Beklagte geht zu Unrecht davon aus, dass das Kind W. bei der Klägerin nicht als Pflegekind zu berücksichtigen ist.

    1. Nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für Kinder i.S.d. § 32 Abs. 1 EStG. Kinder sind nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG auch Pflegekinder. Pflegekinder sind dabei Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG).

    Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.

    a) Ein familienähnliches Band liegt vor, wenn das Kind wie zur Familie angehörig angesehen und behandelt wird. Dies setzt voraus, dass zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Kind ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis wie zwischen Eltern und leiblichen Kindern besteht, das seine Grundlage in einer ideellen Dauerbindung finden muss. Dabei ist nicht allein auf die äußeren Lebensumstände, sondern auch darauf abzustellen, ob das Pflegekind in der Familie eine natürliche Einheit von Versorgung, Erziehung und "Heimat" findet – also nicht nur Kostgänger ist – sondern wie zur Familie gehörig angesehen und behandelt wird. Aus der Parallele zum Eltern-Kind-Verhältnis ergibt sich zudem, dass auch zwischen dem Pflegeelternteil und dem Pflegekind ein Autoritätsverhältnis bestehen muss, aufgrund dessen sich das Pflegekind der Aufsichts-, Erziehungs- und Betreuungsmacht des Pflegeelternteils unterwirft (vgl. zu allem Bundesfinanzhof -BFH-, Urteil vom 09.02.2012 – III R 15/09, BFH/NV 2012, 1043).

    Dass W. von der Klägerin – ihrer Tante – nicht als Kostgänger, sondern als Familienmitglied aufgenommen und behandelt wurde und sie in ihrer Obhut eine neue „Heimat“ gefunden hat, steht im Streitfall außer Frage. Auch besteht kein Zweifel daran, dass zwischen W. und der 44 Jahre älteren Klägerin ein Autoritätsverhältnis besteht, zumal die Klägerin auch als Vormund bestellt wurde.

    Streitig ist ausweislich der Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vielmehr allein, ob zu dem Zeitpunkt, als die Haushaltsaufnahme erfolgt ist, noch ein familienähnliches Band zwischen W. und der Klägerin begründet werden konnte.

    Die Beklagte verneint dies unter Hinweis darauf, dass ein solches Band „wegen der bevorstehenden Volljährigkeit des Kindes“ grundsätzlich nicht mehr habe begründet werden können. Damit nimmt die Beklagte – auch wenn sie keine Entscheidungen benennt – offensichtlich auf die Rechtsprechung des BFH Bezug, wonach sich mit einem bereits Volljährigen ein familienähnliches Band nur bei Vorliegen besonderer Umstände begründen lässt, da jedenfalls bei gesunden Volljährigen die körperliche Versorgung und die Erziehung des Pflegekindes, die Voraussetzung für die Annahme eines familienähnlichen Bandes sind, in der Regel keine entscheidende Rolle mehr spielen wird (z.B. BFH, Urteil vom 09.02.2012 – III R 15/09, BStBl. II 2012, 739).

    Die zu Volljährigen ergangene Rechtsprechung ist im Streitfall jedoch nicht anwendbar, und zwar schon deshalb nicht, weil W. im Zeitpunkt ihrer Haushaltsaufnahme weder volljährig war noch der Eintritt der Volljährigkeit unmittelbar bevorstand. Vielmehr ist W. kurz nach ihrem 17. Geburtstag in den Haushalt der Klägerin aufgenommen worden. Selbst wenn man darauf abstellen würde, dass am Tag der Volljährigkeit sämtliche Erziehungsbedürftigkeit wegfällt, hätte das von der Rechtsprechung geforderte „Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis“ somit noch zumindest 10,5 Monate lang bestanden. Ein derartiger Zeitraum reicht nach der Auffassung der Einzelrichterin aus, um ein familienähnliches Band begründen zu können.

    Hinzu kommt im Streitfall, dass aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls keinesfalls davon auszugehen ist, dass die Erziehungsbedürftigkeit mit Eintritt der Volljährigkeit im August 2013 weggefallen ist. Zu beachten ist nämlich, dass W. aus einem ganz anderen Kulturkreis stammt und sie sich mit ihren 17 Jahren nunmehr in einem Land zurecht finden musste, deren Sprache sowie Sitten und Gebräuche sie nicht kannte. Hinzu kommt noch, dass W. in einer durch Kriege geprägten Umgebung groß geworden ist, in der sich Kinder typischerweise nicht so gut entwickeln können, wie das bei gesicherten Lebensverhältnissen der Fall gewesen wäre. Bei einer derartigen Ausgangslage versteht es sich von selbst, dass W. mit Eintritt der Volljährigkeit noch nicht zu einem selbstbestimmten Leben in Deutschland in der Lage war, sondern sie auch weiterhin in erhöhtem Maße auf Anleitung und Führung durch die Klägerin angewiesen war.

    b) Das familienähnliche Band war auch „auf längere Dauer berechnet“. Erforderlich ist eine zukunftsgerichtete Absicht, das Kind auf längere Dauer wie ein eigenes zu versorgen und zu erziehen Im Regelfall ist eine beabsichtigte Dauer von zwei Jahren als ausreichend anzusehen (BFH, Urteil vom 09.02.2012 – III R 15/09, BStBl. II 2012, 739). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Denn den glaubhaften Ausführungen der Klägerin ist zu entnehmen, dass W. zumindest bis zum Abschluss ihrer schulischen Laufbahn bei der Klägerin wohnen soll und dass die Schulausbildung noch mehrere Jahre dauern wird.

    c) Auch bestand im Streitzeitraum kein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern.

    Ein steuerlich anzuerkennendes Pflegekindschaftsverhältnis liegt nur vor, wenn die Obhut und Pflege seitens der leiblichen Eltern soweit zurücktritt, dass die Obhut und Pflege im Wesentlichen nur noch durch die Pflegeltern ausgeübt werden. Wann die Pflegeeltern gegenüber dem Kind gleichsam an die Stelle der leiblichen Eltern treten, weil das Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern abgerissen ist, lässt sich nicht einheitlich für alle Fälle sondern nur für jeden Einzelfall beurteilen. Entscheidende Kriterien sind das Alter des Kindes, die Anzahl und Dauer der Besuche der leiblichen Eltern bei dem Kind und ob und inwieweit vor der Trennung bereits ein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern bestanden hat. Die Gewichtung der Kriterien kann je nach Lage des Falls unterschiedlich sein. Es können auch andere Umstände eine Rolle spielen (vgl. BFH-Urteil vom 20.01.1995 – III R 14/94, BStBl. II 1995, 582).

    Im Streitfall lagen die Inobhutnahme und Pflege des Kindes ausschließlich in Händen der Klägerin. Der Kindesvater war im Streitzeitraum bereits verstorben und die Kindesmutter, die im Irak verblieben ist und W. seit deren Aufenthalt in Deutschland nicht mehr gesehen hat, war aufgrund der räumlichen Trennung und den nur spärlichen Telefonkontakten schon rein faktisch nicht in der Lage, wesentliche fürsorgende Aktivitäten zu entwickeln, um auf eine positive Entwicklung von W. in der Zukunft hinzuwirken. Die Mutter hielt vielmehr lediglich sporadischen Kontakt zu ihrer Tochter, ohne ihr die Geborgenheit eines Zuhauses zu gewähren (keine Obhut) und ohne sich in irgendeiner Form um die Entwicklung ihrer Tochter aktiv zu kümmern (keine Pflege). Für einen „ausreichenden Kontakt“ im Sinne der BFH-Rechtsprechung kann es nicht maßgeblich sein, dass ein Elternteil überhaupt noch in irgendeinem Kontakt zu dem Kind steht. Vielmehr muss dieser Kontakt – woran es hier fehlt – Elemente der Obhut und Pflege umfassen, damit man von einem fortbestehenden Obhuts- und Pflegeverhältnis sprechen kann (vgl. Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 11.06.2013 – 13 K 30/13, juris).

    2. Die übrigen für die Gewährung von Kindergeld erforderlichen Voraussetzungen liegen ebenfalls vor. Insbesondere war die in Deutschland wohnhafte Klägerin im Streitzeitraum Anspruchsberechtigte i.S.d. § 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG. In den Monaten September 2012 bis März 2013 war sie im Besitz einer zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltserlaubnis i.S.d. § 62 Abs. 2 Nr. 2 1.HS EStG und ab April 2013 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis i.S.d. § 62 Abs. 2 Nr. 1 EStG.

    3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

    RechtsgebietFinanz- und Abgaberecht