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  • 12.09.2016 · IWW-Abrufnummer 188604

    Finanzministerium Nordrhein-Westfalen: Verfügung vom 11.08.2016 – S 0351


    Erlass betr. Änderung von Steuerbescheiden nach § 173 AO bei nachträglicher Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen

    Vom 11. August 2016 (AO-Kartei NW § 173 AO Karte 801)
    (FM Nordrhein-Westfalen S 0351)

    I. Grundsatz
    Für die Frage, ob eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zuungunsten oder nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten des Steuerpflichtigen in Betracht kommt, ist auf die steuerliche Auswirkung abzustellen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift („höhere Steuer” bzw. „niedrigere Steuer”) ist hierfür allein auf das Ergebnis der Steuerfestsetzung – ohne Berücksichtigung von Steuerabzugsbeträgen wie z. B. Lohnsteuerabzugsbeträgen – abzustellen. Dies entspricht der Gesetzessystematik. Geändert wird nach § 173 AO die festgesetzte Steuer, nicht aber die Abrechnung bzw. Anrechnungsverfügung. Die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO sind nur im Steuerfestsetzungsbereich anwendbar; für den Erhebungsbereich sind die §§ 130131 AO einschlägig.

    Dem steht auch das BFH-Urteil vom 16. 3. 1990 VI R 90/86 (BStBl. II S. 610) nicht entgegen. Sowohl aus dem Tenor als auch aus den Gründen ist erkennbar, dass die „mit einer Nettolohnvereinbarung zusammenhängenden Besonderheiten [es] … geboten erscheinen [lassen], bei dem für die §§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO und 173 Abs. 1 AO erforderlichen Vergleich auch die anrechenbaren Abzugssteuern zu berücksichtigen”. In dem Urteilsfall war der Betrag, um den die Einkünfte zu erhöhen waren, gleichzeitig der Betrag, der auf die festgesetzte Steuer anzurechnen war. Dies bedeutet, dass mit der Entscheidung im Festsetzungsbereich auch unmittelbar über die Anrechnung dem Grunde und der Höhe nach entschieden worden wäre (Hinweis auf AEAO zu § 173, Tz. 1.4).

    II. Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung bei Steuererstattungsanspruch
    Werden dem Finanzamt nach bestandskräftig durchgeführter Einkommensteuerfestsetzung bisher nicht erklärte, dem Steuerabzug (Kapitalertragsteuer) unterworfene Kapitalerträge bekannt, die zu einer höheren Steuer führen, ist die Steuerfestsetzung auch dann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO – innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist – zu ändern, wenn sich nach Anrechnung der Kapitalertragsteuer eine niedrigere verbleibende Einkommensteuerschuld und damit ein Steuererstattungsanspruch ergibt.

    III. Anrechnung von Kapitalertragsteuer
    Die regelmäßig mit der Einkommensteuerfestsetzung verbundene Anrechnung der Steuerabzugbeträge stellt einen selbständigen Verwaltungsakt „Anrechnungsverfügung” im Erhebungsbereich dar, der zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen nur unter den Voraussetzungen der §§ 129–131 AO korrigiert werden kann (vgl. AEAO zu § 218, Nr. 3; H 36 „Anrechnung” EStH 2014; Hinweis auf AO-Kartei NW § 130 Karte 801[1] ).

    IV. Nachträgliche Anrechnung von Kapitalertragssteuer bei Unterbleiben der Änderung nach § 173 Abs. 1 AO
    Der nachträglichen Berücksichtigung der Kapitalertragsteuer steht das Korrespondenzprinzip des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht entgegen, wenn die Änderung der Steuerfestsetzung im Hinblick auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge unterbleibt, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge den Werbungskosten-Pauschbetrag (§ 9 a EStG) und den Sparer-Freibetrag (§ 20 Abs. 4 EStG) nicht übersteigen oder die Steuerschuld aus anderen Gründen – trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte – unverändert bleibt.
    Auch in solchen Fällen ist von der Erfassung der Kapitaleinkünfte i. S. d. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen. Bei Vorlage der entsprechenden Steuerbescheinigung innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist kann die Anrechnung der Kapitalertragsteuer vorgenommen werden.

    V. Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO)
    Die Anwendung der 10-jährigen Festsetzungsfrist setzt voraus, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) objektiv und subjektiv erfüllt ist. In objektiver Hinsicht ist er stets dann erfüllt, wenn die Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge zu einer höheren Einkommensteuerschuld führt.

    Ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung in subjektiver Hinsicht – aufgrund vorsätzlichen Handelns des Steuerpflichtigen – erfüllt ist, muss nach den Verhältnissen des Einzelfalles entschieden werden.

    Steuerhinterziehung oder auch nur leichtfertige Steuerverkürzung liegen nicht vor, wenn die auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge entfallende anrechnungsfähige Kapitalertragsteuer den Einkommensteuer-Mehrbetrag, der sich bei Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge ergibt (Unterschiedsbetrag zwischen alter und neuer Einkommensteuerschuld), übersteigt, wenn die Anrechnung der Kapitalertragssteuer also zu einer Steuererstattung führt. In diesen Fällen liegt keine vollendete Steuerhinterziehung vor, da der für die Erfüllung des objektiven Tatbestands in § 370 AO voraus gesetzte Taterfolg der Steuerverkürzung durch die fehlende Angabe der Kapitalerträge nicht eingetreten ist. In solchen Fällen ist die 10-jährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht anwendbar (vgl. BFH-Urteil vom 26. 2. 2008 VIII R 1/07, BStBl. II S. 659). Daher ist in Erstattungsfällen nach Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist eine Änderung der Steuerfestsetzung und aufgrund des Korrespondenzprinzips auch eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer ausgeschlossen.

    VI. Rechtslage ab dem Veranlagungszeitraum 2009
    Mit Einführung der Abgeltungsteuer zum 1. 1. 2009 sind Kapitalerträge, die dem abgeltenden Kapitalertragsteuerabzug unterlegen haben, grundsätzlich nicht mehr erklärungspflichtig.

    1. Veranlagungswahlrecht (§ 32 d Abs. 4 EStG)/Günstigerprüfung (§ 32 d Abs. 6 EStG)
    Nach § 32 d Abs. 4 EStG (Veranlagungswahlrecht) können Steuerbürger beantragen, dass für Kapitalerträge, die der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, eine Steuerfestsetzung entsprechend § 32 d Abs. 3Satz 2 EStG durchgeführt wird. Hierdurch besteht beispielsweise die Möglichkeit den Steuereinbehalt für bestimmte Kapitalerträge im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung überprüfen zu lassen.
    Des Weiteren kann der betroffene Steuerbürger als Gläubiger der Kapitalerträge einen Antrag nach § 32 d Abs. 6 EStG (Günstigerprüfung) stellen, durch den die Kapitalerträge, die der Abgeltungsteuer unterlegen haben, in die Einkommensteuerveranlagung einbezogen und – sofern dies für den Steuerpflichtigen günstiger ist – der tariflichen Einkommensteuer unterworfen werden.
    Beide Wahlrechte können zeitlich unbefristet – bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung – ausgeübt werden. Zu einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung können die Anträge nach Eintritt der Bestandskraft aber nur dann führen, wenn die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift erfüllt sind.
    Führt die Günstigerprüfung insgesamt zu einer niedrigeren Einkommensteuer, kommt eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur dann in Betracht, wenn den Steuerpflichtigen am nachträglichen Bekanntwerden der abgegolten besteuerten Kapitaleinkünfte kein grobes Verschulden trifft.
    In die Prüfung, ob die nachträglich bekannt gewordene Tatsache zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führt, ist aufgrund der anzustellenden Gesamtbetrachtung auch die mit Abgeltungswirkung einbehaltene Kapitalertragsteuer einzubeziehen (AEAO zu § 173, Nr. 1.4; BFH-Urteil vom 12. 5. 2015 VIII R 14/13, BStBl. II S. 806).
    Ihre zeitliche Begrenzung finden die Anträge i. S. d. § 32 d Abs. 4 und 6 EStG im verfahrensrechtlichen Institut der materiellen Bestandskraft.
    Die Änderung von Einkommensteuerfestsetzungen wegen Inanspruchnahme eines der Wahlrechte kommt nach Eintritt der Unanfechtbarkeit nur in Betracht, wenn diese nach den Vorschriften der AO (z. B. § 164 Abs. 2 AO) oder den Einzelsteuergesetzen änderbar sind oder mit zulässigen Einspruch angefochten wurden (vgl. BMF-Schreiben vom 18. 1. 2016, BStBl. I S. 85, Rz. 145 und 149[2] ).

    2. Nachträgliche Ausübung eines Wahlrechts
    Die nachträgliche Ausübung eines Wahlrechts ist keine neue Tatsache i. S. d. § 173 AO, sondern Verfahrenshandlung (BFH-Urteil vom 25. 2. 1992 IX R 41/91, BStBl. II S. 621; AEAO vor §§ 172 bis 177, Tz. 8).
    Nichts desto trotz kann es bei nachträglicher Ausübung eines nicht fristgebundenen Wahlrechts zu einer Änderung nach § 173 AO kommen, wenn die für die Ausübung des Wahlrechts relevanten Tatsachen i. S. d. § 173 AO nachträglich bekannt werden (BFH-Urteil vom 28. 9. 1984 VI R 48/82, BStBl. 1985 II S. 117; AEAO zu § 173 Tz. 3.2).
    Etwas anderes gilt jedoch für fristgebundene Wahlrechte, weil hierdurch die Tatsachen nicht nachträglich bekanntwerden, sondern erst durch die Antragstellung eintreten. Aufgrund der verspäteten Antragstellung sind die Tatsachen nicht rechtserheblich, so dass eine Änderung nach § 173 AO ausscheidet (BFH-Urteil vom 30. 9. 1981 II R 105/81, BStBl. 1982 II S. 80).
     
    [1] FM Nordrhein-Westfalen v. 12. 9. 2014 S 0296 (BeckVerw 289640).
    [2] BeckVerw 323200.

     

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