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  • 16.08.2021 · IWW-Abrufnummer 224090

    Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 16.06.2021 – 5 K 2710/17 U

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Düsseldorf

     
    Tenor:
    Die Umsatzsteuerbescheide für 2010 vom 24.11.2014, für 2011 vom 6.3.2015 und für 2012 vom 6.3.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.9.2017 werden dahingehend geändert, dass die Umsatzsteuer auf folgende Beträge herabgesetzt wird: ... € für 2010, ... € für 2011, ... € für 2012. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

    Die Kosten des Verfahrens werden dem Kläger auferlegt.

    Die Revision wird zugelassen.

    1
    T a t b e s t a n d

    2
    Der Kläger ist Facharzt für Chirurgie. Er betreibt eine Praxis in A-Stadt, die sich auf die Behandlung von Haarausfall spezialisiert hat. Die ärztliche Tätigkeit des Klägers besteht darin, zunächst den Patienten zu untersuchen, welche Erscheinungsform des Haarausfalls vorliegt und welche Behandlungsmöglichkeiten indiziert sind. Falls aufgrund der Diagnose keine Behandlungsmöglichkeit besteht oder weitere Untersuchungen erforderlich sind, überweist der Kläger den Patienten an einen anderen Facharzt. Umgekehrt werden dem Kläger von anderen Ärzten, insbesondere Dermatologen, Patienten mit Krankheitsbildern wie narbige oder hormonell bedingte Alopezien zur weiteren Diagnostik und Behandlung überwiesen. Patienten, bei denen eine Behandlungsmöglichkeit besteht, werden mittels Medikamenten oder in Form einer Transplantation patienteneigener Haarwurzeln behandelt. Letzteres bildet die Haupttätigkeit des Klägers.

    3
    Für die Streitjahre 2010 bis 2012 erklärte er im Anschluss an eine tatsächliche Verständigung, die er für die Veranlagungszeiträume bis einschließlich 2009 geschlossen hatte, 90% der bereinigten Umsätze als steuerfrei. Hierauf basierend ergaben sich folgende umsatzsteuerpflichtigen Umsätze:

    4
    2010 2011 2012

    Erlöse insgesamt ... ... ...
    Abzgl. Firma X ... ... ...
    Abgl. KNVO ... ... ...
    Abzgl. Sonstige Erlöse ... ... ...
    Summe ... ... ...
    Davon 10% ... ... ...
    Umsatzsteuer .. ... ...

    5
    Die abgegebenen Umsatzsteuererklärungen standen Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich (§ 168 der Abgabenordnung --AO--).

    6
    Im Jahr 2013 begann das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung A-Stadt mit einer Betriebsprüfung (BP) bei dem Kläger, die mit BP-Bericht vom 30.9.2014, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, abgeschlossen wurde. Darin kam die BP unter anderem zu dem Ergebnis, dass die vom Kläger erbrachten Leistungen in Form von Haarwurzeltransplantationen nur insoweit der Umsatzsteuerbefreiung unterlägen, als sie an Patienten mit narbiger Alopezie erbracht worden seien. Denn hierin sei eine Krankheit zu sehen, wobei sich die BP mangels anderweitiger Bestimmungen am Krankheitsbegriff von § 27 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V) orientiere. Die übrigen Umsätze seien steuerpflichtig und unterlägen dem Regelsteuersatz, da der notwendige Nachweis über eine zur Steuerfreiheit führende ärztliche Heilbehandlung nicht erbracht worden sei.

    7
    Der Beklagte (das Finanzamt --FA--) schloss sich der Auffassung der BP im Wesentlichen an und setzte die Umsatzsteuer mit Umsatzsteuerbescheiden für 2010 vom 24.11.2014 auf ... €, für 2011 vom 5.12.2014 auf ... € und für 2012 vom 26.11.2014 auf ... € fest. Dem lag folgende Berechnung zugrunde:

    8
    2010 2011 2012

    Gesamtumsatz ... ... ...
    Steuerfrei ... ... ...
    Steuerpflichtig brutto ... ... ...
    Steuerpflichtig netto ... ... ...
    Unentgeltliche Wertabgaben ... ... ...
    Umsatzsteuer ... ... ...
    Vorsteuer ... ... ...
    Festgesetzte Steuer ... ... ...

    9
    Dagegen legte der Kläger fristgemäß Einsprüche ein. Bei der androgenetischen Alopezie handele es sich um eine umsatzsteuerfreie ärztliche Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin. Die nach der Rechtsprechung des EuGH (Europäischen Gerichtshofs) und des Bundesfinanzhofs (BFH) erforderlichen Voraussetzungen für eine Heilbehandlung seien gegeben. Die Maßnahmen seien medizinisch indiziert und dienten der medizinischen Behandlung oder Vorbeugung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der menschlichen Gesundheit. Auf das Gutachten des Herrn Prof. Dr. med. Ralph M. Trüeb, einem der wissenschaftlich anerkanntesten Mediziner und Experten auf dem Gebiet der Erforschung und Behandlung von Haarwurzeln und der Kopfhaut sowie der androgenetischen Alopezie, werde Bezug genommen. Dieses komme zu dem Ergebnis, dass es sich bei der androgenetischen Alopezie um eine Krankheit handele, die durch pathologische Abweichungen im Sexualhormonstoffwechsel oder durch immunpathologische Vorgänge bedingt sei und mit bestimmten Begleiterkrankungen einhergehe. Die autologe Haarwurzeltransplantation stelle eine medizinisch indizierte Maßnahme dar, um sekundäre Pathologien infolge des Verlustes der physiologischen Funktionen des Kopfhaares vorzubeugen. Die Indikation zur autologen Haarwurzeltransplantation im Sinne der Heilbehandlung hänge nach dem Gutachten allerdings ‒ unabhängig von Patientenalter und Geschlecht ‒ von der Ausprägung und Lokalisation der androgenetischen Alopezie ab. Danach stellten die Haarwurzeltransplantationen bei Männern mit den Ausprägungen BASP M3, C2-3, V3 und U1-3 und die frontale Alopezie der Frau mit der Ausprägung I-III nach Ludwig bzw. BASP F1-3 eine medizinisch indizierte Heilbehandlung dar. In den beigefügten Aufstellungen seien die vom Kläger ausgeführten Umsätze nach dem Ausprägungsgrad aufgeschlüsselt. Soweit die medizinische Indikation für eine Haarwurzeltransplantation vorliege, seien die Umsätze darin als umsatzsteuerfrei behandelt worden.

    10
    Im Rahmen des Einspruchsverfahrens erließ das FA am 6.3.2015 Umsatzsteuerbescheide für 2011 und 2012 in hier nicht relevanten Streitpunkten, die zu keiner Änderung der Steuerfestsetzung führten. In der Sache vertrat das FA mit Schreiben vom 25.10.2016 die Auffassung, dass eine Steuerfreiheit nur insoweit in Betracht komme, als die medizinische Indikation im Einzelfall nachgewiesen werde. Hierfür sei eine Vorlage der anonymisierten Patientenakten sowie eine Darstellung der therapeutischen und prophylaktischen Zielsetzung der jeweiligen Maßnahme erforderlich.

    11
    Dem hielt der Kläger mit Schreiben vom 22.2.2017 entgegen, dass die Rechtsprechung zur Erforderlichkeit von Einzelgutachten nicht einschlägig sei, da es im Streitfall nicht um psychische Belastungsstörungen gehe. Diese Rechtsprechung würde nur dann greifen, wenn die Alopezie für sich genommen keinen Krankheitswert aufweise. Durch das Gutachten sei aber geklärt, dass die androgenetische Alopezie bei Männern ab der Ausprägung 3 nach Norwood und bei Frauen ab der Ausprägung I nach Ludwig eine Krankheit darstelle. Der Kläger habe daher lediglich in jedem Einzelfall feststellen müssen, dass eine solche Ausprägung vorliege. Ein zusätzliches separates Gutachten sei daher vorliegend weder erforderlich noch sinnvoll. Der Kläger sei zwar bereit, alle anonymisierten Patientenakten der Streitjahre vorzulegen, allerdings nur, wenn es aus Sicht des FA auch darauf ankomme. Dies sei nur der Fall, wenn auch das FA davon ausgehe, dass ab einer bestimmten Ausprägung von einer Krankheit auszugehen sei.

    12
    Mit Einspruchsentscheidung vom 22.9.2017 wies das FA die Einsprüche als unbegründet zurück. Eine Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) komme nur insoweit in Betracht, als die medizinische Indikation im Einzelfall nachgewiesen werde. Dazu sei die Vorlage anonymisierter Patientenakten erforderlich, denn den Entscheidungen des behandelnden Arztes komme keine Bindungswirkung für das Besteuerungsverfahren zu. Nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand gehe das FA weiterhin davon aus, dass die Haarwurzeltransplantationen nur kosmetischen Zwecken dienen würden. Der Kläger habe trotz Aufforderung keine anonymisierten Patientenakten vorgelegt. Die bloße Aufstellung der Behandlungsfälle, in denen der Kläger selbst die medizinische Notwendigkeit der Haarwurzeltransplantation bescheinigt habe, reiche nicht aus. Auch der Hinweis auf das Privatgutachten führe zu keiner anderen Entscheidung. Laut Gutachten sei die Haarwurzeltransplantation zum Schutz der Kopfhaut und zur Vorbeugung von Erkrankungen der Kopfhaut sowie aus sozialen und seelischen Gründen erforderlich. Die Gründe seien so allgemein gehalten, dass sie die Haarwurzeltransplantation als Heilbehandlung gerade nicht rechtfertigen würden. Der im Gutachten dargestellte Schutz könne im Übrigen auch durch andere Maßnahmen erreicht werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen.

    13
    Hiergegen richtet sich die fristgemäß erhobene Klage, zu deren Begründung der Kläger ergänzend vorträgt:

    14
    Die streitgegenständlichen Leistungen seien umsatzsteuerfrei nach § 4 Nr. 14 Buch. a UStG. Bei der Auslegung dieser Rechtsvorschrift des nationalen Rechts sei die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen. Dieser ziehe an keiner Stelle Kriterien heran, die im Rahmen verwaltungsrechtlicher, sozialrechtlicher oder zivilrechtlicher Auseinandersetzungen eine Rolle spielten. Vielmehr liege danach eine „Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin“ vor, wenn die betreffende Leistung der Diagnose, Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen diene. Der BFH habe diesen allgemeinen Grundsatz weiter ausdifferenziert. Nach der Rechtsprechung des BFH müssten Heilbehandlungen einen therapeutischen Zweck haben. Hierzu gehörten auch Leistungen zum Zweck der Vorbeugung und zum Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit. Im Hinblick auf den Nachweis dieser Voraussetzungen habe der EuGH mit Urteil vom 21.3.2013 C-91/12, „PFC Clinic“ entschieden, dass es um die Beurteilung einer medizinischen Frage gehe, die auf medizinischen Feststellungen beruhen müsse, die von dem entsprechenden Fachpersonal getroffen werden müssten.

    15
    Diese Voraussetzungen seien sowohl bei der androgenetischen als auch bei der hereditären Alopezie gegeben. Bei der androgenetischen Alopezie handele es sich um eine Krankheit. Sie sei traditionell in der Dermatologie angesiedelt und werde in der Weiterbildungsordnung der Facharztweiterbildung Dermatologie als Krankheitsbild erfasst. Zum Nachweis, dass die insoweit erbrachten Leistungen des Klägers, also die Haarwurzeltransplantationen bei der androgenetischen Alopezie bei Männern in der Ausprägung  BASP M3, C2-3, V3, U1-3 und bei Frauen in der Ausprägung BASP F1-2) einem therapeutischen Zweck zur Behandlung einer Krankheit gedient hätten, werde auf das Fachgutachten von Prof. Trüeb verwiesen. Darüber hinaus habe der Kläger für die streitgegenständlichen Fälle seine ärztlichen Diagnosen zum jeweiligen Ausprägungsgrad der androgenetischen Alopezie mit Krankheitswert und Therapiebedürftigkeit entsprechend den Kategorien dieses Fachgutachtens aufgelistet.

    16
    Ergänzend zu dem vorgelegten Fachgutachten werde ferner auf die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, Version 2017, herausgegeben vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) in Kooperation mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hingewiesen. Nach dieser Klassifikation sei die androgenetische Alopezie eine Krankheit. Sie werde unter Schlüsselnummer L64.9 den Krankheiten der Haut und der Unterhaut zugerechnet.

    17
    Stellvertretend für die deutsche und internationale dermatologische Standardliteratur, die die androgenetische Alopezie als pathologisch einstufe und mithin als Krankheit bezeichne, und zwar unabhängig davon, ob sie beim Mann oder bei der Frau auftrete, werde ein Artikel aus dem Science Translational Medicine Magazine vorgelegt. Dieser Artikel stelle die Ursachen der androgenetischen Alopezie dar und bezeichne sie als eine weitere androgen-vermittelte Krankheit, wie beispielsweise Prostata-Krebs oder Prostata-Hypertrophie (vgl. Introduction: "... other androgen-mediated diseases...").

    18
    Dies ergebe sich auch aus der S3-Leitlinie des Europäischen Dermatologie-Forums. Danach handele es sich bei der androgenetischen Alopezie um eine Krankheit (Hinweis auf Seite 7 der Anlage K8, Ziffer 2.5, zweiter Absatz). Ferner bescheinige diese Leitlinie, dass die Haarwurzeltransplantation sowohl bei Männern als auch bei Frauen eine geeignete Therapie dieser Krankheit darstelle.

    19
    Die im Anschluss an das EuGH-Urteil „PFC Clinic“ darüber geführte Diskussion, wie eine Krankheit zu definieren sei und wessen Definition maßgeblich sei, könne im Streitfall dahinstehen. Der EuGH habe auch angeborene körperliche Mängel ausreichen lassen, wenn zur Beseitigung ein Eingriff erforderlich sei, und zwar auch dann, wenn dieser ästhetische Aspekte habe. Bei der androgenetischen Alopezie handele es sich um einen angeborenen körperlichen Mangel. Dieser komme in seiner Ausprägung und Intensität zumindest den in der EuGH-Entscheidung genannten Eingriffen wie Brustvergrößerung und -verkleinerung, Fettabsaugung etc. gleich.

    20
    Demnach stehe fest, dass die androgenetische Alopezie sowohl ein körperlicher Mangel als auch eine Krankheit sei und als solche unter die Begriffe „ärztliche Heilbehandlungen" oder „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin" im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buch. b oder c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) falle, wenn zur Beseitigung oder Behandlung ein Eingriff erforderlich sei, selbst wenn dieser auch ästhetische Aspekte habe. Der therapeutische Zweck der Haarwurzeltransplantation im Fall der androgenetischen Alopezie liege, wie sich aus dem Fachgutachten ergebe, in der Wiederherstellung der physiologischen Funktion der Kopfbehaarung und damit im Schutz vor (insbesondere) Prakanzerosen und Hautkrebs, erhöhter Verletzlichkeit der Kopfhaut, erosiver pustulöser Dermatose, Unterkühlung des Kopfes, Exsikkationsdermatitis und seborrhoischer Dermatitis. Sie sei daher, jedenfalls wenn die medizinische Indikation, wie in dem Fachgutachten dargestellt, eine bestimmte Ausprägung erreiche, generell medizinisch indiziert. Da der EuGH nur Eingriffe aus rein kosmetischen Zwecken ausgeschlossen habe, sei im Streitfall kein Ausschlussgrund gegeben.

    21
    Im Falle von Haarwurzeltransplantationen bei hereditärer Alopezie gelte nichts anderes. Auch ihre therapeutische Zielsetzung bestehe darin, die Krankheit bzw. den angeborenen körperlichen Mangel durch den Eingriff zu behandeln.

    22
    Schließlich habe der Kläger ‒ entgegen der Auffassung des FA ‒ auch mit seiner Diagnosetätigkeit eine Heilbehandlung erbracht. Das FA stehe auf dem Standpunkt, dass die Frage der Umsatzsteuerfreiheit insoweit davon abhänge, ob die anschließende ärztliche Behandlung eine umsatzsteuerfreie Heilbehandlung darstelle. Dem könne nicht gefolgt werden. Der Kläger stelle seine ärztlichen Diagnosen unabhängig davon, ob der Patient eine Krankheit oder einen körperlichen Mangel aufweise und auch unabhängig davon, welche Krankheit bzw. welchen körperlichen Mangel der Patient tatsächlich habe. Das FA verkenne, dass die ärztliche Diagnosetätigkeit häufig zum Ausschluss einer Krankheit diene, diese also nicht voraussetze. Schließlich verkenne das FA ebenfalls, dass die Diagnosen des Klägers nicht regelmäßig zu einer Indikationsstellung für Haarwurzeltransplantationen führten, sondern bei Vorliegen anderer Krankheitsbilder als der androgenetischen oder hereditären Alopezie auch zu Überweisungen an andere Fachärzte. An dem Vorliegen einer ärztlichen Heilbehandlung seien im Fall der Diagnoseleistungen des Klägers, unabhängig vom Diagnoseergebnis, daher keine Zweifel erkennbar.

    23
    Entgegen der Darstellung des FA habe der Kläger auch seiner Mitwirkungspflicht genügt und die erforderlichen Nachweise erbracht. Der Kläger biete an, die mit der Anlage K3 vorgelegte Auflistung der Einzelfälle mit den entsprechenden Diagnosen und Indikationsstellungen in sämtlichen Einzelfällen durch Vorlage anonymisierter Patientenakten zu belegen. Das FA verkenne bei seinen Beweisanforderungen, dass sich das BFH-Urteil vom 4.12.2014 V R 16/12, auf das es sich berufe, zu den Anforderungen an eine Indikationsstellung bei psychischen Erkrankungen äußere. Ausgehend hiervon habe das FA im gesamten Verwaltungsverfahren darauf abgestellt, dass die hier in Streit stehenden und vom Kläger behandelten Alopezien allein eine Erkrankung psychischer Art sein könnten und der Kläger insoweit keine Befugnis besitze, entsprechende Indikationen zu stellen. Der Kläger habe dagegen frühzeitig und mehrfach darauf hingewiesen, dass keine der von ihm gestellten Indikationen auf einer psychischen Erkrankung beruht hätten, für die etwa ein Psychologe oder ggf. auch ein Psychiater zuständig wäre. Vielmehr habe der Kläger die Indikationen nach den ärztlich allgemein anerkannten Klassifikationen (nach Norwood Hamilton und Ludwig) gestellt, die ab einer bestimmten Ausprägung einen somatischen Krankheitswert hätten. Für diese Indikationsstellung und die entsprechenden operativen Eingriffe verfüge der Kläger über die erforderliche ärztliche Qualifikation. Die Umsatzsteuer sei daher wie folgt zu berechnen:

    24
    2010 2011 2012

    Steuerpflichtige Umsätze ... ... ...
    Umsatzsteuer 19% ... ... ...
    Vorsteuer ungekürzt ... ... ...
    Gesamtumsatz ... ... ...
    Anteil umsatzsteuerpflichtig ... ... ...
    Abziehbare Vorsteuer ... ... ...
    Festzusetzende Umsatzsteuer ... ... ...

    25
    Der Kläger beantragt sinngemäß,

    26
    die Umsatzsteuerbescheide für 2010 vom 24.11.2014, für 2011 vom 5.12.2014 und für 2012 vom 26.11.2014, letztere geändert durch die Bescheide vom 6.3.2015 (2011 und 2012), in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.9.2017 dahingehend abzuändern, dass die Umsatzsteuer auf folgende Beträge herabgesetzt wird: ... € für 2010, ... € für 2011, ... € für 2012 .

    27
    Das FA beantragt,

    28
    die Klage abzuweisen.

    29
    Einigkeit bestehe bezüglich der Umsatzsteuerbefreiung der Diagnosetätigkeit sowie bezüglich der Einordnung der vernarbenden Alopezie als Krankheit.

    30
    Streitig sei jedoch weiterhin die behauptete pauschale Einordnung der unterschiedlichen Formen der Alopezie als Krankheit, so dass nach der Auffassung des Klägers der Haarwurzeltransplantation immer ein therapeutischer Wert zukommen solle. Nach § 4 Nr. 14 Buch. a UStG seien medizinisch indizierte Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin von der Umsatzsteuer befreit, soweit der ästhetisch-plastischen Behandlung ein therapeutischer Zweck zukomme. Ein solcher sei gegeben, wenn die Behandlung dazu diene, Personen zu behandeln oder zu heilen, soweit dies möglich sei. Dafür müsse aber überhaupt ein Krankheitswert gegeben sein, aufgrund dessen eine Heilbehandlung vorgenommen werden müsse.

    31
    Nach Ansicht des Klägers handele es sich bei der hereditären, der androgenetischen sowie bei der vernarbenden Form der Alopezie in jedem Fall um eine Krankheit. Er verweise dabei auf die Anlage K8, in der auf Seite 7 unter Ziffer 5 die androgenetische Alopezie als „Krankheit" bezeichnet werde. Es erfolgten aber in dieser Leitlinie keinerlei Ausführungen dazu, warum diese Form der Alopezie einen Krankheitswert habe bzw. auf welcher wissenschaftlichen Grundlage die androgenetische Alopezie als Krankheit eingeordnet werde. Diese Leitlinie allein sei nicht geeignet, die androgenetische Alopezie als Krankheit einzuordnen. Auch sei die bloße Listung der verschiedenen Formen der Alopezie in der ICD-10-Liste kein Indiz für die eindeutige Einordnung als Krankheit. Diese Liste umfasse sowohl Krankheiten als auch bloße Gesundheitsstörungen. Zudem spreche als Indiz gegen eine Einordnung als Krankheit, dass die Behandlung nicht durch die Krankenkassen übernommen werde. Klarstellend sei zudem zu sagen, dass die Alopezie totalis und die Alopezie universalis als besondere Formen der Alopezie areata gleich zu behandeln seien. Ein Krankheitswert könne bei der hereditären sowie bei der androgenetischen Form der Alopezie nicht pauschal festgestellt werden.

    32
    Die Steuerbefreiungen in Art. 131 ff. MwStSystRL und demnach auch in § 4 UStG seien zudem eng auszulegen, da sie eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz darstellten, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringe, der Umsatzsteuer unterliege. Demnach könne der Begriff der ärztlichen Heilbehandlung entgegen der Ansicht des Klägers nicht pauschal in jedem Fall angenommen werden, da dies den Ausnahmecharakter untergraben würde. Die vorgeschlagenen Kriterien für eine Einordnung als Heilbehandlung dienten der Erleichterung zur Bewertung der einzelnen Behandlungen. In problematischen Fällen obliege die Einschätzung einem unabhängigen Sachverständigen. Der pauschale Verweis auf das durch den Kläger eingeholte Sachverständigengutachten vermöge nicht die Einschätzung im jeweiligen Einzelfall zu ersetzen. Auch der Verweis auf die vorgenommene Beurteilung der Behandlungsfälle als krankheitsbedingt durch den Kläger sei nicht als Beweis für einen solchen Krankheitswert geeignet. Für die Feststellung eines solchen bedürfe es demnach zum einen der Beurteilung des Einzelfalls durch ein unabhängiges Sachverständigengutachten durch unabhängiges medizinisches Fachpersonal auf Grundlage der anonymisierten Patientendaten. Zum anderen bedürfe es bei ästhetisch-plastischen Leistungen bestimmter Kriterien, wie denen des Alters und des Geschlechts, zur Beurteilung der Behandlung als krankheitsbedingt. Krankheitsbedingt sei eine Behandlung dann, wenn sie entweder aus körperlichen oder aus psychologischen Gründen veranlasst sei. Es müsse also ein therapeutischer Zweck im Vordergrund stehen.

    33
    Mangels Einordnung der hereditären und androgenetischen Alopezie als Krankheit müsse in jedem Einzelfall beurteilt werden, ob eine Haarwurzeltransplantation krankheitsbedingt veranlasst gewesen sei.

    34
    Eine Differenzierung nach Alter und Geschlecht verstoße entgegen der Ansicht des Klägers nicht gegen Art.  3 Abs. 3 GG, da ein sachlicher Grund für die unterschiedliche umsatzsteuerliche Behandlung vorliege. Dieser liege darin, dass ‒ wie bereits festgestellt ‒ nicht jede Haarwurzeltransplantation krankheitsbedingt erfolge. Die Rechtsprechung habe die unterschiedlich starke psychische Belastung bei Männern und Frauen in Abhängigkeit zum Alter festgestellt, sodass in jedem Einzelfall zu beurteilen sei, wie stark die psychische Belastung sei und ob somit ein Krankheitswert vorgelegen habe

    35
    Zudem werde nicht ausschließlich nach Alter und Geschlecht der behandelten Person unterschieden. Vielmehr dienten diese Kriterien als erster Anknüpfungspunkt für die Beurteilung des Krankheitswertes der jeweiligen Form der Alopezie. Die Frage, ob der Behandlung ein therapeutischer Wert zukomme, werde entgegen der Ansicht des Klägers nicht ausschließlich anhand des Geschlechts und des Alters beantwortet. Es seien die Umstände des jeweiligen Einzelfalls auf Grundlage der anonymisierten Patientendaten zu beachten.

    36
    E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

    37
    Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

    38
    I. Die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide sind insoweit rechtswidrig, als die vom FA für die Streitjahre festgesetzte Umsatzsteuer die aus dem Tenor ersichtliche Umsatzsteuer übersteigt. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.

    39
    1. a) Nach § 4 Nr. 14 Buch. a Satz 1 UStG sind Umsätze aus Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Hebamme oder einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit durchgeführt werden, steuerfrei.

    40
    Unionsrechtlich beruht diese Vorschrift auf Art. 132 Abs. 1 Buch. c MwStSystRL. Danach sind steuerfrei die Umsätze aus Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe durchgeführt werden.

    41
    b) Die Vorschrift des § 4 Nr. 14 Buch. a Satz 1 UStG ist nach der ständigen Rechtsprechung des BFH im Lichte des Art. 132 Abs. 1 Buch. c MwStSystRL (vormals: Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern --Richtlinie 77/388/EWG--) unionsrechtskonform auszulegen (vgl. etwa BFH-Urteil vom 18.12.2019 XI R 23/19, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2020, 553). Weil Art. 13 Teil A Abs. 1 Buch. c der Richtlinie 77/388/EWG sowie Art. 132 Abs. 1 Buch. c MwStSystRL in gleicher Weise auszulegen sind, kann auch die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG weiterhin zur Auslegung herangezogen werden (vgl. etwa BFH-Urteil vom 18.12.2019 XI R 23/19, DStR 2020, 553).

    42
    c) Nach der Rechtsprechung des EuGH umfasst der Begriff „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ Leistungen, die der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienten (vgl. EuGH-Urteil vom 4.3.2021 C-581, „Frenetikexito“, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2021, 525 m.w.N.). Eine Heilbehandlung in diesem Sinne müsse daher zwingend einen therapeutischen Zweck verfolgen, da dieser ausschlaggebend dafür sei, ob eine ärztliche oder arztähnliche Leistung von der Mehrwertsteuer zu befreien sei (vgl. etwa EuGH-Urteil vom 4.3.2021 C-581, „Frenetikexito“, HFR 2021, 525 m.w.N.). Das Erfordernis einer therapeutische Zielsetzung einer Leistung sei dabei nicht unbedingt in einem besonders engen Sinn zu verstehen. So könnten etwa auch medizinische Leistungen, die zum Schutz, einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung, der menschlichen Gesundheit erbracht würden, unter Art. 132 Abs. 1 Buch. c MwStSystRL fallen (vgl. etwa EuGH-Urteil vom 5.3.2020 C-48/19, „X“, ABl EU 2020, Nr C 161, 10 m.w.N.).

    43
    Demgegenüber komme eine Steuerbefreiung für ärztliche Leistungen, die zu einem anderen Zweck als dem des Schutzes einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit erbracht würden, nicht in Betracht. Die Belastung dieser Leistungen mit der Mehrwertsteuer stehe nicht im Widerspruch zu dem Zweck, die Kosten ärztlicher Heilbehandlungen zu senken und den Einzelnen den Zugang zu diesen Leistungen zu erleichtern (vgl. EuGH-Urteil vom 20.11.2003 C-212/01, „Unterpertinger“, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2004, 70). Ausschlaggebend dafür, ob die Steuerbefreiung greife, sei das Ziel einer ärztlichen Leistung. Werde eine ärztliche Leistung in einem Zusammenhang erbracht, der die Feststellung zulasse, dass ihr Hauptziel nicht der Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit sei, finde die Steuerbefreiungsregelung auf diese Leistung keine Anwendung (vgl. EuGH-Urteil vom 20.11.2003 C-212/01, „Unterpertinger“, UR 2004, 70).

    44
    Speziell zu sog. ästhetischen Operationen und Behandlungen hat der EuGH mit Urteil vom 21.3.2013 C-91/12,  „PFC Clinic“, (DStR 2013, 757) entschieden, dass (auch) Leistungen, die dazu dienen würden, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich sei, unter die Begriffe „ärztliche Heilbehandlungen“ oder „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buch. b oder c MwStSystRL fallen könnten. Wenn der Eingriff jedoch zu rein kosmetischen Zwecken erfolge, falle er nicht unter diese Begriffe. Die rein subjektive Vorstellung, die die Person, die sich einem ästhetischen Eingriff unterziehe, von diesem Eingriff habe, sei dabei als solche für die Beurteilung, ob der Eingriff einem therapeutischen Zweck diene, nicht maßgeblich. Da es hierbei um die Beurteilung einer medizinischen Frage gehe, müsse sie auf medizinischen Feststellungen beruhen, die von dem entsprechenden Fachpersonal getroffen worden seien.

    45
    In seinem Urteil vom 4.3.2021 C-581, „Frenetikexito“ (HFR 2021, 525 m.w.N.) hat der EuGH noch einmal ausdrücklich betont, dass bei einer Prüfung der Steuerbefreiung nach Art. 132 MwStSystRL zu beachten sei, dass es sich bei allen Steuerbefreiungen in Kapitel 2 um solche „für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“ handele. Eine Tätigkeit könne daher nicht von der Steuer befreit werden, wenn sie den Zweck des Allgemeinwohls, der allen Befreiungen in Art. 132 MwStSystRL gemeinsam sei, nicht erfülle.

    46
    d) Der BFH hat sich in seiner Rechtsprechung zu § 4 Nr. 14 Buch. a UStG den Begriffsdefinitionen des EuGH  angeschlossen. Er hatte sich darüber hinaus bereits mehrfach mit der Frage zu befassen, ob und unter welchen Voraussetzungen Schönheitsoperationen unter diese Steuerbefreiung fallen. In seinem grundlegenden Urteil vom 15.7.2004 V R 27/03 (Bundessteuerblatt --BStBl-- II 2004, 862) hat der BFH insoweit ausgeführt, dass es für eine Steuerbefreiung nicht ausreiche, dass eine bestimmte Operation nur von einem Arzt ausgeführt werden könne. Vielmehr müsse diese der medizinischen Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienen; nur dann liege eine ärztliche Ausübung der Heilkunde vor. Schönheitsoperationen, deren Zweck nicht der Schutz der menschlichen Gesundheit sei, würden daher nicht unter den Tatbestand der Steuerbefreiung fallen.

    47
    In mehreren Folgeentscheidungen hat der BFH diese Rechtsprechung (u.a. im Anschluss an die EuGH-Rechtsprechung) dahingehend präzisiert, dass als Heilbehandlung nur die Tätigkeiten steuerfrei seien, die zum Zweck der Vorbeugung, der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen für bestimmte Patienten ausgeführt würden. "Ärztliche Leistungen", "Maßnahmen" oder "medizinische Eingriffe" zu anderen Zwecken seien keine Heilbehandlungen (vgl. etwa BFH-Urteil vom 4.12.2014 V R 33/12, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH ‒ BFH/NV-- 2015, 648 m.w.N.). Für die Umsatzsteuerfreiheit von Schönheitsoperationen reiche es daher nicht aus, dass die Operationen nur von einem Arzt ausgeführt werden könne. Vielmehr sei es erforderlich, dass auch derartige Operationen dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienten, womit es nicht zu vereinbaren sei, Leistungen der Schönheitschirurgen ohne Rücksicht auf ihre medizinische Indikation als steuerfrei zu behandeln (vgl. etwa BFH-Urteil vom 4.12.2014 V R 33/12, BFH/NV 2015, 648). Die nach der EuGH-Rechtsprechung erforderliche Feststellung, welche Zwecke mit ärztlichen Leistungen verfolgt würden, sei in vielen Fällen, bei denen sich die Zielsetzung bereits aus der Leistung selbst ergebe, unproblematisch. Anders verhalte es sich im Bereich ästhetisch-chirurgischer Maßnahmen, die sowohl Heilbehandlungszwecken als auch bloßen kosmetischen Zwecken dienen könnten. Im Bereich ästhetisch-chirurgischer Maßnahmen komme es daher auf eine Einzelprüfung an (vgl. BFH-Urteil vom 4.12.2014 V R 33/12, BFH/NV 2015, 648).

    48
    Letzteres gilt nach der BFH-Rechtsprechung für alle Maßnahmen, die sowohl Heilbehandlungszwecken als auch bloß der Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands dienen können und insofern einem Grenzbereich zuzuordnen sind (vgl. BFH-Beschluss vom 11.1.2019 XI R 29/17, BFH/NV 2019, 440).

    49
    2. Übertragen auf den Streitfall folgt hieraus, dass die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung in Bezug auf die Behandlung der androgenetischen Alopezie durch eine Haarwurzeltransplantation nicht vorliegen. Der Senat vermag sich der Einschätzung des Klägers, dass es sich bei der Haarwurzelverpflanzung um eine therapeutische Maßnahme zur Behandlung einer Krankheit handele, wenn die androgenetische Alopezie zumindest die Ausprägung BASP M3, C2-3, V3 und U1-3 bei Männern und BASP F1-2 bei Frauen erreiche, nicht anzuschließen.

    50
    a) Der Senat hält es bereits für zweifelhaft, ob es sich ‒ wie vom Kläger vertreten ‒ bei der androgenetischen Alopezie um eine Krankheit oder um einen körperlichen Mangel handelt. Zwar wird diese Auffassung u.a. in dem vom Kläger vorgelegten Gutachten sowie in den ebenfalls vorgelegten Aufsätzen und Lehrbüchern vertreten. Wie etwa dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26.9.2002 I ZR 101/00 (Neue Juristisch Wochenschrift ‒ Rechtsprechungs-Report 2003, 478) entnommen werden kann, sind andere Gutachter aber zu einer gegenteiligen Einschätzung gelangt. Auch in den Internet-Enzyklopädien Wikipedia und Pharma-Wiki wird die androgenetische Alopezie nicht als Krankheit, sondern als „normale Erscheinung des Älterwerdens“ (Wikipedia) oder als „normale Variante, die in der Bevölkerung häufig vorkommt“ (Pharma-Wiki“) eingestuft.

    51
    b) Letztlich kann die Frage, ob es sich um eine Krankheit handelt, aber dahingestellt bleiben, da es jedenfalls bei einer Haarwurzeltransplantation an der von EuGH und BFH geforderten „therapeutischen Zielsetzung“ fehlt.

    52
    aa) Eine Haarwurzeltransplantation dient weder der Heilung noch der Behandlung der Ursachen der androgenetischen Alopezie. Wie dem vom Kläger vorgelegten Gutachten zu entnehmen ist, wird die androgenetische Alopezie von einer Störung des Androgenstoffwechsels verursacht, die zu einer lokalen Anhäufung von Dihydrotestosteron führt, gegen das wiederum die terminalen Haarfolikel empfindlich sind. Daneben spielen weitere, Androgen-unabhängige und weitgehend unbekannte Faktoren eine Rolle. Durch eine Haarwurzeltransplantation wird, wie auch der Kläger in seinem Schriftsatz vom 11.3.2021 einräumt, in diesen „immunpathologischen Vorgang“ nicht eingegriffen. Wie der ebenfalls vom Kläger vorgelegten Leitlinie „S3 ‒ European Dermatology Forum Guideline for the Treatment of Androgenetic Alopecia in Woman and in Men“ zu entnehmen ist, vermag daher eine Haarverpflanzung auch den weiteren Fortschritt des Haarausfalls nicht aufzuhalten.

    53
    bb) Der Ansicht des Klägers, dass eine hinreichende therapeutische Zielsetzung der Haarwurzeltransplantation darin zu sehen sei, dass es sich um eine rekonstruktive Maßnahme handele, die dazu führe, dass eine erneute und dauerhafte Abdeckung der Kopfhaut erfolge, wodurch der natürliche Schutz der Kopfhaut wiederhergestellt und die Schädigung der Kopfhaut durch Licht, Sonne und Kälte verhindert werde, folgt der Senat nicht.

    54
    Die Auffassung des Klägers läuft im Kern darauf hinaus, dass die Haarwurzeltransplantation zur Vorbeugung vor Folgeerkrankungen aufgrund des erlittenen Haarverlusts therapeutisch erforderlich sei. Zwar können auch Vorbeugemaßnahmen unter den Begriff der Heilbehandlung fallen. Allerdings muss, wie der eingangs dargestellten Rechtsprechung zu entnehmen ist, deren Hauptziel der Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit sein. Insoweit ist, wie der EuGH in der Entscheidung Frenetikexito (vgl. EuGH-Urteil vom 4.3.2021 C-581, „Frenetikexito“, HFR 2021, 525 m.w.N.) zutreffend ausgeführt hat, eine Abgrenzung zwischen therapeutischen Leistungen im engeren Sinne und solchen Dienstleistungen vorzunehmen, die mittel- oder langfristig zur Vorbeugung bestimmter Krankheiten dienen und denen daher grundsätzlich ein gesundheitlicher Zweck, aber nicht oder nicht zwingend ein therapeutischer Zweck zukommt. In der betreffenden Entscheidung hat der EuGH ein in einem Fitnessstudio angebotenes Ernährungscoaching nicht als therapeutische Leistung und damit nicht als im Allgemeininteresse liegend angesehen. Als Grund dafür hat der EuGH die nur sehr indirekte und entfernte vorbeugende Wirkung angesehen.

    55
    Nach der Auffassung des Senats ist diese Differenzierung auch auf den Streitfall übertragbar. Unterstellt man die Ausführungen in dem vom Kläger vorgelegten Gutachten  als wahr, wonach die Haarwurzeltransplantation geeignet ist, vor Prakanzerosen und Hautkrebs, erhöhter Verletzlichkeit der Kopfhaut, erosiver pustulöser Dermatose, Unterkühlung des Kopfes, Exsikkationsdermatitis und seborrhoischer Dermatitis zu schützen, handelt es sich hierbei jedenfalls um lediglich lose und nur mittel- oder langfristig angelegte Vorbeugemaßnahme, der kein therapeutischer Charakter im engeren Sinne zukommt. Dafür spricht auch, dass die Vermeidung einer Schädigung der Haut durch Licht, Sonne und Kälte kein spezifisches Problem ist, das allein die menschliche Kopfhaut betrifft. Sie lässt sich durch Maßnahmen vermeiden, die auch für den Schutz anderer gering behaarter Hautpartien als sozial üblich angesehen werden, etwa durch das Tragen einer Hautbedeckung oder das Auftragen von Sonnencreme.

    56
    Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass eine Haarwurzeltransplantation selbst dann, wenn man die androgenetische Alopezie als Krankheit einstuft, in erster Linie zu einem kosmetisch-ästhetischen Ergebnis führt, während ihr allenfalls nachrangig und damit nicht als Hauptzweck eine gewisse vorbeugende Funktion zum Schutz der Kopfhaut zugemessen werden kann.

    57
    cc) Dem kann ‒ entgegen der Auffassung des Klägers ‒ auch nicht entgegengehalten werden, dass der EuGH in seinem Urteil vom 21.3.2013 C-91/12, „PFC Clinic“, (DStR 2013, 757) nur die Eingriffe als steuerpflichtig habe ansehen wollen, die „nur und ausschließlich aus kosmetischen Gründen“ erfolgten. Wörtlich heißt es in dieser Entscheidung „PFC Clinic“: „Somit können Leistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, soweit sie dazu dienen, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich ist, unter die Begriffe „ärztliche Heilbehandlungen“ oder „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. b oder Art. 132 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen. Wenn der Eingriff jedoch zu rein kosmetischen Zwecken erfolgt, fällt er nicht unter diese Begriffe.“ Nach der Auffassung des Senats ergibt sich aus dem Zusammenhang dieser Ausführungen, dass es entscheidend auf die „Erforderlichkeit“ der Maßnahme im Sinne einer Behandlungsbedürftigkeit ankommt. Negativ abgegrenzt liegt ein „rein kosmetischer Eingriff“ im Sinne der EuGH-Rechtsprechung vor, wenn es an der Erforderlichkeit der Maßnahme fehlt. Im Ergebnis gilt daher für Eingriffe ästhetischer Natur nichts anderes als für andere ärztliche Leistungen: Ihr Hauptziel muss der Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung der Gesundheit sein. Dienen sie lediglich der Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands oder ‒ wie hier ‒ in erster Linie der Steigerung des körperlichen Wohlbefindens, liegt keine Heilbehandlung vor.

    58
    Dies folgt letztlich auch aus dem Gesetzestelos von Art. 132 MwStSystRL, wonach eine Maßnahme nur dann von dem Tatbestand der Steuerbefreiung umfasst ist, wenn sie dem Gemeinwohl dient. Dieser Gesetzeszweck würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn bei Eingriffen ästhetischer Natur zu Gunsten des behandelnden Arztes davon auszugehen wäre, dass bereits eine allenfalls nachgelagerte therapeutische Zielsetzung ausreicht, um die Steuerbefreiung zu bejahen.

    59
    dd) Dass den vom Kläger in den Streitjahren durchgeführten Haarwurzeltransplantationen andere Ursachen als den von ihm als ausreichend angesehenen Grad der Ausprägung des Haarausfalls zugrunde gelegen hätten, die im Einzelfall ggf. für eine medizinische Erforderlichkeit einer Behandlung gesprochen hätten, hat er weder dargelegt noch nachgewiesen.

    60
    3. Die für die androgenetische Alopezie dargestellten Grundsätze gelten nach Auffassung des Senats auch für die hereditäre Alopezie. In beiden Fällen wird durch eine Haarwurzeltransplantation weder auf die Ursachen des Haarausfalls eingewirkt noch liegt der Hauptzweck dieser Maßnahme in dem Schutz der Gesundheit.

    61
    4. Die Diagnosetätigkeit des Klägers ist dagegen als steuerfrei anzusehen. Bei der ärztlichen Diagnose handelt es sich nicht um eine bloße Nebenleistung, die zusammen mit der nachfolgenden Behandlung als Einheit angesehen werden kann. Sie unterfällt vielmehr als selbständige Leistung dem Begriff der „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“, der die Diagnosetätigkeit explizit umfasst. Dieser Auffassung hat sich im Rahmen des Klageverfahrens inzwischen auch das FA angeschlossen.

    62
    5. Gleiches gilt für die Behandlung der narbigen Alopezie. Insoweit gehen auch die Beteiligten übereinstimmend davon aus, dass es sich um eine Heilbehandlung im Sinne des § 4 Nr. 14 Buch. a UStG handelt.

    63
    6. Vor diesem Hintergrund ergibt sich auf der Basis der vom Kläger eingereichten Umsatzaufschlüsselungen folgende Berechnung der umsatzsteuerpflichtigen Umsätze sowie der darauf entfallenden Vorsteuerbeträge:

    64
    2010 2011 2012

    Diagnose (steuerfrei) ... ... ...
    Sonstiges (steuerpflichtig) ... ... ...
    Androgenetische Alopezie (steuerpflichtig) ... ... ...
    Männer Norwood 3-7 ... ... ...
    Männer Norwood 1, 2 und 2-3 ... ... ...
    Frauen ... ... ...
    Unklar ... ... ...
    Hereditäre Alopezie (steuerpflichtig) ... ... ...
    Narbige Alopezie (steuerfrei) ... ... ...
    Summe ... ... ...
    Anteil steuerfrei ... ... ...
    Anteil steuerpflichtig (brutto) ... ... ...
    Anteil steuerpflichtig (netto) ... ... ...
    Unentgeltliche Wertabgabe ... ... ...
    Summe Umsätze (abgerundet) ... ... ...
    Umsatzsteuer ... ... ...
    Vorsteuerabzug ... ... ...
    Vorsteuer lt. BP-Bericht ... ... ...
    Prozentualer Abzug ... ... ...
    Abziehbare Vorsteuer ... ... ...
    Umsatzsteuer lt. FG ... ... ...
    Festgesetzte Steuer lt. FA ... ... ...

    65
    II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Dem Kläger waren die Kosten in vollem Umfang aufzuerlegen, da das FA nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.

    66
    III. Die Revision wird zugelassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.