12.07.2012 · IWW-Abrufnummer 122136
Bundesfinanzhof: Urteil vom 19.04.2012 – VI R 53/11
1.Im Rahmen der Bestimmung der kürzesten Straßenverbindung nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG ist auch eine Fährverbindung einzubeziehen.
2.Besonderheiten einer Fährverbindung wie Wartezeiten, technische Schwierigkeiten oder Auswirkungen der Witterungsbedingungen auf den Fährbetrieb können dazu führen, dass eine andere Straßenverbindung als "offensichtlich verkehrsgünstiger" anzusehen ist als die kürzeste Straßenverbindung.
Gründe
I.
1
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war im Streitjahr 2007 vom 1. Januar bis zum 31. Oktober bei der Firma W AG in D beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs beendet.
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In der Einkommensteuererklärung für 2007 machte der Kläger bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte für 200 Tage geltend. Die einfache Wegstrecke zu seinem Arbeitsplatz setzte er mit 52 km an.
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Zudem begehrte der Kläger die Berücksichtigung von Aufwendungen für Fahrten zu Rechtsanwalt W mit insgesamt 660 € (20 Fahrten x 110 km x 0,30 €), dessen Kanzlei sich ebenfalls in D befindet. Rechtsanwalt W hatte den Kläger in dessen Arbeitsrechtsstreit gegen die W AG vertreten. Das Finanzgericht (FG) ermittelte die einfache Entfernung zwischen der Kanzlei und der W AG mit 1,89 km laut Routenplaner.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr lediglich Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte auf der Grundlage einer einfachen Entfernung von 45 km. Für Fahrten zu Rechtsanwalt W setzte er insgesamt 24 € (20 x 4 km x 0,30 €) als Werbungskosten an.
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Mit dem Einspruch machte der Kläger geltend, die Rechtsberatung durch Rechtsanwalt W habe sich über mehrere Monate erstreckt. Etliche Beratungstermine hätten außerhalb der Arbeitszeit gelegen, so dass eine Anfahrt vom Wohnort erforderlich gewesen sei. Im Rahmen der Einspruchsentscheidung schätzte das FA die Fahrtkosten zu Rechtsanwalt W mit 10 Fahrten x 25 km x 2 x 0,30 € = 150 €. Die Wegstrecke zwischen Wohnung und Arbeitsstätte setzte es nur noch mit 25 km an. Die hiergegen erhobene Klage wies das FG mit in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 107 veröffentlichten Gründen ab.
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Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 2011 1 K 2732/09 und die Einspruchsentscheidung vom 30. November 2009 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2007 vom 31. März 2009 dahingehend zu ändern, dass bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit weitere Werbungskosten in Höhe von 2.130 € berücksichtigt werden.
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Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
9
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) können Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit abgezogen werden. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG in der für das Streitjahr geltenden Fassung für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer in Höhe von 0,30 € anzusetzen. Für die Bestimmung der Entfernung ist die kürzeste Straßenverbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte maßgebend; eine andere als die kürzeste Straßenverbindung kann zugrunde gelegt werden, wenn diese offensichtlich verkehrsgünstiger ist und vom Arbeitnehmer regelmäßig für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte benutzt wird (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG).
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Entsprechend dem Sinn und Zweck der Regelung, die auch umwelt- und verkehrspolitische Belange im Blick hat (vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BTDrucks 14/4242, S. 5), ist auch eine zumutbare Fährverbindung in die Entfernungsbestimmung einzubeziehen (vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BTDrucks 14/4242, S. 6).
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a) Verkehrsgünstiger als die kürzeste Straßenverbindung kann eine andere Route dann sein, wenn eine Zeitersparnis erzielt wird (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. Oktober 1975 VI R 33/74, BFHE 117, 70, BStBl II 1975, 852; BFH-Beschluss vom 10. April 2007 VI B 134/06, BFH/NV 2007, 1309). Konkrete zeitliche Vorgaben müssen insoweit nicht erfüllt sein. Insbesondere kann nicht in jedem Fall eine Zeitersparnis von 20 Minuten gefordert werden. Die Frage, ob eine Straßenverbindung als "offensichtlich verkehrsgünstiger" als die kürzeste Route angesehen werden kann, ist vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen (BFH-Urteile vom 16. November 2011 VI R 46/10, BFH/NV 2012, 505; VI R 19/11, BFH/NV 2012, 508; jeweils zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt). Da das Merkmal der Verkehrsgünstigkeit auch andere Umstände als eine Zeitersparnis beinhaltet (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 508), kann eine Straßenverbindung auch dann "offensichtlich verkehrsgünstiger" sein als die kürzeste Verbindung, wenn sich dies aus Besonderheiten einer im Rahmen der kürzesten Straßenverbindung zu nutzenden Fährverbindung wie langen Wartezeiten, häufig auftretenden technischen Schwierigkeiten oder Auswirkungen der Witterungsbedingungen auf den Fährbetrieb ergibt. Führen solche Umstände dazu, dass sich der Steuerpflichtige auf den Fährbetrieb im Rahmen der Planung von Arbeitszeiten und Terminen nicht hinreichend verlassen kann, so ist dies im Rahmen der Beurteilung der Verkehrsgünstigkeit einer Straßenverbindung zu berücksichtigen.
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b) Erweist sich eine vom Steuerpflichtigen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte genutzte Straßenverbindung nicht als "offensichtlich verkehrsgünstiger" als die kürzeste Verbindung, so können Kosten für die Fähre nicht als Werbungskosten angesetzt werden, wenn der Steuerpflichtige die Fährverbindung tatsächlich nicht genutzt hat. Die unterschiedliche Behandlung eines Steuerpflichtigen, der die vom Gesetzgeber zum Abzug zugelassenen Aufwendungen für die kürzeste Straßenverbindung einschließlich tatsächlich angefallener Fährkosten geltend macht, gegenüber einem Steuerpflichtigen, der eine andere nicht "offensichtlich verkehrsgünstigere" Verbindung gewählt hat, folgt unmittelbar aus der gesetzlichen Regelung, die der Berechnung der als Werbungskosten abziehbaren Aufwendungen die kürzeste Verbindung zugrunde legt.
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2. Das FG ist von anderen rechtlichen Grundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
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a) Die Ausführungen in der Vorentscheidung, wonach weitere Aufwendungen für Fahrten zu Rechtsanwalt W nicht zum Abzug zuzulassen seien, weil ein höherer Aufwand nicht glaubhaft gemacht sei, sind allerdings revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze ist weder gerügt noch sonst ersichtlich, so dass die Revisionsinstanz an diese tatrichterliche Würdigung gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO).
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b) Zu Unrecht ist das FG jedoch im Rahmen der Vorentscheidung davon ausgegangen, eine Straßenverbindung sei nur dann als "offensichtlich verkehrsgünstiger" i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG anzusehen, wenn eine Zeitersparnis von mindestens 20 Minuten erzielt werde. Zudem hat das FG, ausgehend von seiner abweichenden Rechtsauffassung, den vom Kläger vorgetragenen Umstand der mangelnden Verlässlichkeit der Fährverbindung nicht berücksichtigt. Soweit das FG ausführt, die Klage könne bereits deshalb keinen Erfolg haben, weil im Streitfall überhaupt keine Zeitersparnis zu erwarten sei, kann dies die Vorentscheidung schon deshalb nicht tragen, weil die Ausführungen nicht die kürzeste Verbindung mit der vom Kläger gefahrenen Strecke vergleichen, sondern sich lediglich mit Letzterer befassen und insbesondere keinerlei Feststellungen hinsichtlich der kürzesten Straßenverbindung (z.B. betreffend die Staugeneigtheit) enthalten.
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Die Feststellungen des FG ermöglichen keine abschließende Entscheidung des Streitfalls. Im zweiten Rechtsgang wird das FG, ggf. im Wege der Beweisaufnahme, die erforderlichen Feststellungen nachholen. Zunächst ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass und an wie vielen Tagen der Kläger die von ihm gewählte Fahrtstrecke tatsächlich zurückgelegt hat. Sodann wird das FG Ermittlungen zu den Verkehrsverhältnissen beider Strecken sowie zu den vom Kläger vorgetragenen Umständen zur Fährverbindung anstellen und auf der Grundlage dieser Feststellungen beurteilen, ob die längere Fahrtstrecke als "offensichtlich verkehrsgünstiger" im Sinne der angeführten Rechtsprechung anzusehen ist.