12.09.2013
Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 16.04.2013 – 8 K 3100/11
1. Sind Schuldner und Gläubiger von Kapitalerträgen Geschwister, ist nach § 32d Abs. 2 Nr. 1 a EStG auf die erzielten Zinsen
nicht der Abgeltungssteuersatz von 25 %, sondern der progressive Steuersatz anzuwenden. Aufgrund der typisierenden Betrachtungsweise
ist unerheblich ist, ob die Geschwister sich tatsächlich nahe stehen.
2. § 32d Abs. 2 Nr. 1a EStG ist verfassungskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass nur die Fälle eines potentiellen
Gesamtbelastungsvorteils erfasst werden.
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Finanzrechtsstreit
hat der 8. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. April 2013 durch Vorsitzenden
Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Ehrenamtliche Richter …
für Recht erkannt:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob Zinsen aus der Stundung eines Kaufpreises zwischen Geschwistern dem linearen Abgeltungssteuersatz von 25
% unterliegen oder nach § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der Fassung des Unternehmensteuerreformgesetzes
2008 vom 14. August 2007 (BGBl I 2007, 1912) mit dem progressiven, tariflichen Steuersatz zu besteuern sind.
Die Kläger sind zusammen veranlagte Eheleute. Die Klägerin war zusammen mit ihrem Vater A.X. und ihrem Bruder C.X. als Kommanditistin
an der X GmbH & Co. KG (KG) beteiligt. Daneben hielt sie – ebenfalls zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder – eine Beteiligung
an der X Verwaltungs-GmbH (Komplementärin der KG) sowie an der grundbesitzenden XY GbR (GbR). Der Grundbesitz der GbR war
an die KG verpachtet.
Mit Anteilsübertragungsvertrag vom 29. Mai 2008 zwischen der Klägerin, A. und C.X. veräußerte sie – ebenso wie ihr Vater A.X.
– mit Wirkung zum 1. Juni 2008 diese Beteiligungen an ihren Bruder C.X..
Der Kaufpreis betrug für die KG-Beteiligung 180.000 EUR und für die GbR-Beteiligung 460.000 EUR. Er war in drei gleichen Raten
zum 15. Januar 2009, zum 31. Dezember 2009 und zum 31. Dezember 2010 zu zahlen. Das Auseinandersetzungsguthaben war vom Tage
des Ausscheidens an mit dem Zinssatz für Kontokorrentkredite der Hausbank zu verzinsen (Nr. III § 3 Abs. 3 und Nr. IV § 3
Abs. 3 des Anteilsübertragungsvertrags). Diese Regelungen beruhen auf § 15 des Gesellschaftsvertrags über die Errichtung der
KG vom 7. September 1989 und dem Gesellschaftsvertrag der GbR vom 21. Dezember 1998 (Verweis auf den Gesellschaftsvertrag
der KG in § 12).
Der Erwerber C.X. leistete an die Klägerin vereinbarungsgemäß im Streitjahr die erste und zweite Rate zuzüglich Zinsen in
Höhe von insgesamt 39.704 EUR.
Die Klägerin erklärte in der Einkommensteuererklärung 2009 vom 19. Mai 2010 die Zinsen als Einkünfte aus Kapitalvermögen,
die dem Abgeltungssteuersatz von 25 % unterfallen.
Der Beklagte unterwarf die Zinsen im Einkommensteuerbescheid 2009 vom 14. Oktober 2010 dagegen dem – höheren – tariflichen
Steuersatz, weil C.X. eine nahe stehende Person der Klägerin sei (Hinweis auf § 15 der Abgabenordnung – AO –) und die Zinsen
bei ihm als Betriebsausgaben abzugsfähig seien.
Den dagegen am 18. Oktober 2010 (Eingang beim Beklagten) erhobenen Einspruch begründeten die Kläger damit, dass zur Bestimmung
der nahe stehenden Person nicht auf die Definition der Angehörigen in § 15 AO zurückgegriffen werden dürfe. Erforderlich sei
nach dem zu § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG ergangenen Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 22. Dezember
2009 (BStBl I 2010, 94, Tz. 136) vielmehr, dass die Person auf den Steuerpflichtigen einen beherrschenden Einfluss ausüben
könne oder umgekehrt der Steuerpflichtige auf diese Person einen beherrschenden Einfluss ausüben könne oder eine dritte Person
auf beide einen beherrschenden Einfluss ausüben könne oder die Person oder der Steuerpflichtige imstande sei, bei der Vereinbarung
der Bedingungen einer Geschäftsbeziehung auf den Steuerpflichtigen oder die nahe stehende Person einen außerhalb dieser Geschäftsbeziehung
begründeten Einfluss auszuüben, oder wenn einer von ihnen ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der Erzielung der Einkünfte
des anderen habe. Das sei zwischen der Klägerin und C.X. nicht der Fall gewesen. Die Anteilsübertragung habe ihren Grund in
der Entfremdung der Parteien. Die Klägerin und C.X. hätten seit dem Tag der Anteilsübertragung außer über ihre Anwälte keinen
Kontakt mehr miteinander gehabt.
Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 9. August 2011 als unbegründet zurück. Nach dem BMF-Schreiben
vom 22. Dezember 2009 (BStBl I 2010, 94, Tz. 136) sei typisierend davon auszugehen, dass Angehörige i.S. des § 15 AO einander
nahe stehende Personen seien. Der Gesetzgeber bediene sich hier zur Entlastung der Steuerverwaltung einer Typsierung, die
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei.
Mit der dagegen am 31. August 2011 erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Ziel weiter. Die Klägerin sei keine ihrem Bruder
nahe stehende Person i.S. des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG. Das BMF-Schreiben vom 22. Dezember 2009 (BStBl I 2010, 94)
sei als Verwaltungsvorschrift nicht geeignet, Angehörige i.S. des § 15 AO ohne weitere Voraussetzungen in den Kreis der nahe
stehenden Personen einzubeziehen. Die Vorschrift des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG sei als Missbrauchsbekämpfungsnorm
konzipiert. Sie müsse daher im Wege der teleologischen Reduktion dahingehend eingeschränkt werden, dass ein Gesamtbelastungsvorteil
und eine Einkünfteverlagerung festgestellt werden müsse, damit eine nahe stehende Person angenommen werden könne. Die Anwendung
des Abgeltungssteuersatzes dürfe nur dann ausscheiden, wenn die dem Gläubiger nahe stehende Person das ihr überlassene Kapital
zur Finanzierung progressiv besteuerter Tätigkeiten einsetze. Eine solche Situation liege im Streitfall nicht vor. C.X. könne
als Privatmann die gezahlten Zinsen steuerlich nicht abziehen.
Die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion folge auch aus § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes
(JStG) 2010 vom 8. Dezember 2010 (BGBl. I 2010, 1768), die ab dem Veranlagungszeitraum 2011 gelte. Darin habe der Gesetzgeber
den Anwendungsbereich der Vorschrift nunmehr eingeschränkt, indem die den Kapitalerträgen entsprechenden Aufwendungen beim
Schuldner Betriebsausgaben oder Werbungskosten im Zusammenhang mit Einkünften sein müssen, die der inländischen Besteuerung
unterliegen und § 20 Abs. 9 Satz 1 zweiter Halbsatz EStG keine Anwendung findet. Diese Einschränkung sei auch vorliegend zu
berücksichtigen, da der Gesetzgeber nicht gewollt habe, die Vorschrift im Streitjahr anders auszulegen als nach dem JStG 2010.
Der Beklagte habe nicht begründet und nachgewiesen, dass der Schuldner C.X. die Kapitalerträge als privatwirtschaftlicher
Erwerber der Gesellschaftsanteile als Betriebsausgaben oder Werbungskosten im Zusammenhang mit seinen Einkünften, die der
inländischen Besteuerung unterliegen, berücksichtigen könne.
Im Übrigen verstoße die Anwendung des tariflichen Einkommensteuersatzes im Streitfall gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), weil grundlos verwandtschaftliche Beziehungen gegenüber Rechtsbeziehungen zu fremden
Dritten diskriminiert würden.
In der mündlichen Verhandlung führten die Kläger außerdem aus, die – verzinsliche– Stundung der Kaufpreise sei auf die Gesellschaftsverträge
der KG und der GbR aus den Jahren 1989 und 1998 zurückzuführen. Damit habe die Fortführung der Gesellschaften erleichtert
werden sollen. Ein Missbrauch der Abgeltungssteuer, etwa durch eine Back-to-back-Finanzierung, sei nicht beabsichtigt gewesen.
Die Zinseinnahmen des anderen Veräußerers A.X. seien in bestandskräftigen Einkommensteuerbescheiden dem Abgeltungssteuersatz
unterworfen worden.
Die Kläger beantragen,
den Einkommensteuerbescheid 2009 vom 14. Oktober 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. August 2011 dahingehend
abzuändern, dass die erhaltenen Zinsen in Höhe von 39.704 EUR mit dem Abgeltungssteuersatz von 25 % und nicht mit dem tariflichen
Steuersatz besteuert werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist zur Begründung auf seine Einspruchsentscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet. Der Einkommensteuerbescheid 2009 vom 14. Oktober 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom
9. August 2011 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung
– FGO –).
1. Die Klägerin erzielt durch die Vereinnahmung der Zinsen aus der Stundung des Veräußerungserlöses Einkünfte aus Kapitalvermögen
(§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG).
2. Die Zinsen sind gemäß § 32a EStG mit dem tariflichen, progressiven Steuersatz zu versteuern. Der Abgeltungssteuersatz findet
keine Anwendung.
a) Nach § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG beträgt die Einkommensteuer 25 Prozent für Einkünfte aus Kapitalvermögen, die nicht unter
§ 20 Abs. 8 Satz 1 EStG fallen. Der Abgeltungssteuersatz gilt jedoch nach § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG u.a. nicht für
Kapitalerträge i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG, wenn Gläubiger und Schuldner einander nahe stehende Personen sind.
Der Begriff der nahe stehenden Person ist gesetzlich nicht definiert. Nach der Gesetzesbegründung zum Unternehmensteuerreformgesetz
2008 soll ein Näheverhältnis i.S. des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG vorliegen, wenn die Person auf den Steuerpflichtigen
einen beherrschenden Einfluss ausüben kann oder umgekehrt der Steuerpflichtige auf diese Person einen beherrschenden Einfluss
ausüben kann oder eine dritte Person auf beide einen beherrschenden Einfluss ausüben kann oder die Person oder der Steuerpflichtige
imstande ist, bei der Vereinbarung der Bedingungen einer Geschäftsbeziehung auf den Steuerpflichtigen oder die nahe stehende
Person einen außerhalb dieser Geschäftsbeziehung begründeten Einfluss auszuüben oder wenn einer von ihnen ein eigenes wirtschaftliches
Interesse an der Erzielung der Einkünfte des anderen hat (BT-Drucks. 16/4841, S. 61; BR-Drucks. 220/07, S. 98).
Die Finanzverwaltung hat diese – ohne Gesetzeszitat an die Begriffsbildung des § 1 Abs. 2 des Außensteuergesetzes (AStG) angelehnte
– Definition in den BMF-Schreiben vom 22. Dezember 2009 (BStBl I 2010, 94, Tz. 136, Satz 1) und nachfolgend vom 9. Oktober
2012 (BStBl I 2012, 953, Tz. 136, Satz 1) übernommen. Ergänzend heißt es dort, dass ein derartiges Näheverhältnis vorliegt,
wenn Gläubiger und Schuldner der Kapitalerträge Angehörige i.S. des § 15 AO sind oder wenn – außerhalb von Angehörigenverhältnissen
– die Vertragsbeziehungen einem Fremdvergleich nicht standhalten (jeweils Sätze 2 und 3).
Die Literatur folgt zum Teil der Finanzverwaltung darin, dass bei Angehörigen von einander nahe stehenden Personen auszugehen
sei (Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 32. Aufl. 2013, § 32d Rz 8; gegen diese Gleichstellung: Koss in Korn, § 32d EStG Rz 47;
Behrens/Renner, Betriebs-Berater – BB – 2008, 2319, unter IV.2.; Fischer, Deutsches Steuerrecht – DStR – 2007, 1898, unter
2.; Worgulla, Der Erbschaft-Steuer-Berater – ErbStB – 2010, 151, unter IV.2.c). Zum Teil wird – wie von der Gesetzesbegründung
–ein Näheverhältnis i.S. des § 1 Abs. 2 AStG gefordert (Baumgärtel/Lange in Hermann/ Heuer/Raupach, § 32d EStG Rz 20; Schulz/Vogt,
DStR 2008, 2189, unter 2.1.1.3; gegen diese Bezugnahme: Storg in Frotscher, EStG, § 32d Rz 20). Andere Autoren vertreten wiederum,
dass sich das Näheverhältnis nach zu den verdeckten Gewinnausschüttungen (vgl. § 8 Abs. 3 Satz 2 des Körperschaftsteuergesetzes
– KStG – und § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG) entwickelten Kriterien bestimme (Lambrecht in Kirchhof, EStG, 12. Aufl. 2013,
§ 32d Rz 11; Blümich/Treiber, § 32d EStG Rz 69; Schmidt/Wänger, NWB, Fach 3, S. 14939, 14948; ebenso: Niedersächsisches Finanzgericht
– FG –, Urteil vom 6. Juli 2011 4 K 322/10, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2012, 242, zu § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst.
b Satz 2 EStG).
Nach Auffassung des Senats kommt im Gesetzestext des § 32d Abs. 2 Satz 1 Buchst. a EStG im Gegensatz zu anderen steuerlichen
Vorschriften die Bezugnahme auf die Legaldefinition der „nahe stehenden Person” in § 1 Abs. 2 AStG nicht hinreichend deutlich
zum Ausdruck (siehe z.B. § 90 Abs. 3 Satz 1, § 162 Abs. 3 Satz 3 und § 178a Abs. 1 Satz 1 AO; § 3 Nr. 70 Satz 4 EStG; § 8
Abs. 1 Nr. 3 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AStG; § 8a Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 KStG; § 121 Nr. 4 des Bewertungsgesetzes und
§ 4 Abs. 2 Nr. 3 des Investitionszulagengesetzes 1982). Im Übrigen ist die für die Beschreibung eines Näheverhältnisses bei
natürlichen Personen allein in Betracht kommende Bestimmung des § 1 Abs. 2 Nr. 3, letzter Halbsatz AStG in den Gesetzesmaterialien
nicht wörtlich übernommen worden. Die gesetzliche Formulierung „eigenes Interesse an der Erzielung der Einkünfte des anderen”
versteht die Rechtsprechung als „persönliches” und nicht als „wirtschaftliches Interesse” (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH
– vom 19. Januar 1994 I R 93/93, BFHE 174, 61, BStBl II 1994, 725). In der Gesetzesbegründung wird demgegenüber ein „wirtschaftliches
Interesse” verlangt.
Die Ausnahmevorschrift will Gestaltungen verhindern, bei denen aufgrund der Steuersatzspreizung betriebliche Gewinne, z.B.
in Form von Darlehenszinsen, abgesaugt werden und so die Steuerbelastung auf den Abgeltungssteuersatz reduziert wird (BT-Drucks.
16/4841, S. 60). Die Gefahr einer solchen Gestaltung besteht immer dann, wenn zwischen den handelnden Personen (Gläubiger
und Schuldner der Kapitalerträge) eine Beziehung besteht, durch die der zwischen Fremdkapitalgeber und -nehmer normalerweise
bestehende Interessengegensatz eingeschränkt oder aufgehoben wird. Damit entsprechen die Kriterien für die Bestimmung einander
nahe stehender Personen i.S. des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG denjenigen, die der Feststellung verdeckter Gewinnausschüttungen
(§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG; § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG) bei Vorteilsgewährungen der Kapitalgesellschaft an Nichtgesellschafter
zugrunde gelegt werden (ebenso: Niedersächsisches FG, Urteil vom 6. Juli 2011 4 K 322/10, EFG 2012, 242). Für eine weite Auslegung
des Begriffs der „nahe stehenden Person” spricht auch, dass § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG in den Jahren 2009 und 2010
durch das BMF-Schreiben vom 22. Dezember 2009 (BStBl I 2010, 94, Tz. 134) und ab dem Jahr 2011 durch die Fassung des JStG
2010 eine am Gesetzeszweck orientierte Einschränkung (Bestehen eines Gesamtbelastungsvorteils) erfahren hat (vgl. unten unter
2.b).
Bei der Prüfung einer verdeckten Gewinnausschüttung reicht als Indiz für ein „Nahestehen” jede Beziehung zwischen einem Gesellschafter
und dem Dritten aus, die den Schluss zulässt, sie habe die Vorteilszuwendung der Kapitalgesellschaft an den Dritten beeinflusst.
Derartige Beziehungen können familienrechtlicher, gesellschaftsrechtlicher, schuldrechtlicher oder auch rein tatsächlicher
Art sein (BFH-Urteile vom 18. Dezember 1996 I R 139/94, BFHE 182, 184, BStBl II 1997, 301; vom 22. Februar 2005 VIII R 24/03,
BFH/NV 2005, 1266; vom 19. Juni 2007 VIII R 54/05, BFHE 218, 244, BStBl II 2007, 830; vom 19. Dezember 2007 VIII R 13/05,
BFHE 220, 187, BStBl II 2008, 568; vom 8. Oktober 2008 I R 61/07, BFHE 223, 131, BStBl II 2011, 62). Sie umfassen insbesondere
auch Angehörigenverhältnisse (Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 32. Aufl. 2013, § 20 Rz 56; Schuhmann, GmbH-Rundschau – GmbHR –
2008, 1029, unter III.1.).
Im Streitfall sind Schuldner und Gläubiger der Kapitalerträge Geschwister (Angehörige nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 AO). Sie stehen
damit in einer engen familienrechtlichen Beziehung, die typischerweise dazu geeignet ist, den zwischen fremden Dritten bestehenden
Interessengegensatz einzuschränken oder aufzuheben. Ob die Klägerin und ihr Bruder tatsächlich einander nahe standen, ist
in Anbetracht der typisierenden Betrachtungsweise des Gesetzes unerheblich (vgl. zu § 1 Abs. 2 AStG: BFH-Urteil vom 19. Januar
1994 I R 93/93, BFHE 174, 61, BStBl II 1994, 725, unter II.3.c). Der Gesetzgeber hat einen Korrekturbedarf gesehen, aber mit
dem JStG 2010 außer dem theoretisch möglichen Bestehen eines Gesamtbelastungsvorteils durch die Steuersatzspreizung keine
weiteren Einschränkungen (z.B. Widerlegung des Nahestehens durch besondere Umstände des Einzelfalls, Fremdüblichkeit der Zinsvereinbarung)
normiert. Solche Einschränkungen würden außerdem das Vereinfachungsziel der Typisierung in Frage stellen.
b) Die weiteren – im Streitjahr lediglich von der Finanzverwaltung aufgestellten und für das Gericht nicht bindenden – einschränkenden
Voraussetzungen des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG sind ebenfalls erfüllt.
Die Anwendung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG wird bereits im Streitjahr durch das BMF-Schreiben vom 22. Dezember 2009
(BStBl I 2010, 94, Tz. 134) u.a. dahingehend eingeschränkt, dass der Darlehensnehmer, wenn er eine natürliche Person ist,
Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbständiger Arbeit oder Vermietung und Verpachtung erzielen und
die Darlehenszinsen als Betriebsausgaben oder Werbungskosten geltend machen können muss.
Der Gesetzgeber hat diese Einschränkung durch das Jahressteuergesetz 2010 ab dem Veranlagungszeitraum 2011 (und damit außerhalb
des Streitzeitraums) im Wesentlichen übernommen. Danach ist der Abgeltungssteuersatz nicht anzuwenden, wenn Gläubiger und
Schuldner einander nahe stehende Personen sind, soweit die den Kapitalerträgen entsprechenden Aufwendungen beim Schuldner
Betriebsausgaben oder Werbungskosten im Zusammenhang mit Einkünften sind, die der inländischen Besteuerung unterliegen und
§ 20 Abs. 9 Satz 1 EStG keine Anwendung findet. Ausweislich der Gesetzesbegründung wird damit die Ausnahmeregelung auf Fälle
beschränkt, in denen eine Steuersatzspreizung (Abzug der gezahlten Entgelte für die Kapitalüberlassung als Werbungskosten
oder Betriebsausgaben, Besteuerung der vereinnahmten Erträge mit dem Abgeltungssteuersatz) gestaltet werden kann, da nur insoweit
ein Regelungsbedürfnis besteht (BT-Drucks. 17/3549, S. 19; BR-Drucks. 318/10 – Beschluss –, S. 44). Es soll also kein „Gesamtbelastungsvorteil”
dadurch erzielt werden können, dass der Schuldner die gezahlten Zinsen im Rahmen seiner – tariflichen, progressiven – Einkommensbesteuerung
mit einem Steuersatz von bis zu 45 % als Werbungskosten oder Betriebsausgaben abziehen kann, während der Gläubiger die vereinnahmten
Zinsen nur mit dem linearen Steuersatz von 25 % versteuern muss. Der Gesetzgeber belässt es insoweit bei einer abstrakten
Betrachtungsweise; er fordert nicht, dass der Werbungskosten- oder Betriebsausgabenabzug die Steuerbelastung beim Schuldner
tatsächlich um über 25 % mindert. Die Neuregelung führt im Ergebnis dazu, dass der Gläubiger die Zinseinnahmen bei einem Darlehen
an eine nahe stehende Person für deren Einkünfteerzielung (Werbungskosten- oder Betriebsausgabenabzug im Rahmen der – tariflichen,
progressiven – Einkommensbesteuerung) mit dem tariflichen Einkommensteuersatz versteuert und bei einem Darlehen an eine nahe
stehende Person für deren privaten Konsum (kein Werbungskosten- oder Betriebsausgabenabzug) mit dem Abgeltungssteuersatz.
Im Streitfall besteht die – im Streitjahr nach dem BMF-Schreiben vom 22. Dezember 2009 (BStBl I 2010, 94, Tz. 134) vorausgesetzte
– abstrakte Gefahr eines solchen Gesamtbelastungsvorteils. Entgegen der Ansicht der Kläger kann der Bruder die an die Klägerin
gezahlten Zinsen im Rahmen seiner – tariflichen, progressiven – Einkommensbesteuerung als Betriebsausgaben oder Werbungskosten
abziehen, da er aus dem Betrieb des Unternehmens Einkünfte aus Gewerbebetrieb und aus der Verpachtung des Grundbesitzes Einkünfte
aus Vermietung und Verpachtung oder – bei Bestehen einer Betriebsaufspaltung – solche aus Gewerbebetrieb erzielt. Ob wegen
der Bindung der Vertragsparteien an die Gesellschaftsverträge aus den Jahren 1989 und 1998 oder wegen nicht bestehender Missbrauchsabsicht
ein Erlass der Steuer aus Billigkeitsgründen in Betracht kommt, kann der Senat im vorliegenden Verfahren nicht entscheiden.
3. Die verfassungsrechtlichen Bedenken der Kläger gegen § 32d Abs. 2 Satz 1 Buchst. a EStG teilt der Senat nicht. Insbesondere
kann die Vorschrift – wie vorliegend– mit dem BMF-Schreiben vom 22. Dezember 2009 (BStBl I 2010, 94, Tz. 134) jedenfalls verfassungskonform
einschränkend so ausgelegt werden, dass sie nur die Fälle eines potentiellen Gesamtbelastungsvorteils erfasst. Der Senat schließt
sich insoweit der ausführlichen Begründung des Niedersächsischen FG (Urteil vom 18. Juni 2012 15 K 417/10, EFG 2012, 2009,
unter 2.c der Entscheidungsgründe) an.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Es ist höchstrichterlich noch nicht entschieden, wie der Begriff der „nahe stehenden
Person” in § 32d Abs. 2 Satz 1 Buchst. a EStG auszulegen ist und ob die Vorschrift verfassungsgemäß ist (siehe bereits Niedersächsisches
FG, Urteile vom 6. Juli 2011 4 K 322/10, EFG 2012, 242, Revision BFH VIII R 31/11, zu § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b Satz 2
EStG; vom 18. Juni 2012 15 K 417/10, EFG 2012, 2009, Revision BFH VIII R 9/13).