Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • · Fachbeitrag · Unfallschadensregulierung

    Nutzungsausfallentschädigung: Dauerstreitpunkt Nutzungswille

    von VRiOLG a.D. Dr. Christoph Eggert, Leverkusen

    | Was bei den Mietwagenkosten allenfalls ein Randaspekt ist, spielt beim Pendant „abstrakte Nutzungsausfallentschädigung“ oft eine zentrale Rolle: der Nutzungswille des Geschädigten. In der aktuellen Rechtsprechung ist die Tendenz zu beobachten, mithilfe dieses Kriteriums Ansprüche ganz oder zumindest teilweise auszuschließen. Wie man sich gegenüber dem Schädiger/VR und den Gerichten gegen unberechtigte Kürzungen zur Wehr setzen kann, zeigen wir im Folgenden. |

     

    Arbeitshilfe / Nutzungswille bei der Ausfallentschädigung

    • 1.Faktische Ausgangslage: Anlass für den Einwand „kein Nutzungswille“ sind vor allem Fälle, in denen der Geschädigte sein Fahrzeug nicht oder nicht zeitnah zum Unfall hat reparieren lassen und auch kein Ersatzauto angeschafft hat. Aus derartigen Situationen schließen VR auf das Fehlen eines Nutzungswillens. Weitere Fallgestaltung: Anmietung eines Ersatzfahrzeugs nur für fünf Tage, Restzeit bis zum Ersatzkauf ohne Ersatzwagen. Argument des VR: Ab dem sechsten Tag kein Nutzungswille.

     

    • 2.Rechtlicher Ausgangspunkt nach der BGH-Rechtsprechung: Aufhänger ist der Gesichtspunkt der „Fühlbarkeit“. Ohne „fühlbare“ Nutzungsbeeinträchtigung kein Vermögensschaden, so die Kurzformel. „Fühlbar“ ist die Nutzungsbeeinträchtigung, wenn das Fahrzeug unfallbedingt nicht zu dem mit seiner Anschaffung verfolgten Zweck genutzt werden konnte. Mit den Worten des BGH: „Nutzungsmöglichkeit und Nutzungswille sind unabdingbare Voraussetzungen für die Begründung eines Schadens“ (NJW 85, 2471). Anders formuliert: „Die Erstattung eines Nutzungsausfallschadens setzt voraus, dass der Geschädigte ohne das schädigende Ereignis zur Nutzung des Fahrzeugs willens und fähig gewesen wäre“ (BGH NJW 10, 2426 unter Hinweis auf BGHZ 45, 212; 98, 212; BGH NJW 08, 915). Beide Voraussetzungen müssen für die gesamte Zeit, für die eine Entschädigung verlangt wird, vorliegen.

     

    • 3.Wichtige Erweiterung: Auch wenn der Eigentümer das Fahrzeug persönlich nicht hätte nutzen können oder wollen (Führerscheinentzug, Krankenhausaufenthalt, Urlaubsreise ohne Auto), kann die Nutzungsbeeinträchtigung gleichwohl „fühlbar“ sein. Voraussetzung ist, dass der Wagen ohne den Unfall vom Ehepartner, einem Familienangehörigen, Verlobten oder Lebensgefährten genutzt worden wäre (BGH NJW 74, 33). Eine Anschaffung zum Zwecke des gemeinsamen Gebrauchs ist keine zwingende Voraussetzung (str., vgl. OLG Düsseldorf VersR 85, 149; SP 02, 171; OLG Koblenz VA 12, 59).

     

    • 4. Darlegungs- und Beweislast: Überholt ist OLG Düsseldorf 25.10.82, 1 U 90/82, juris, wonach der Geschädigte weder den Nutzungswillen noch die Nutzungsmöglichkeit darzulegen und zu beweisen hat, es vielmehr Sache des Schädigers sei, den Ausnahmefall - kein Nutzungswille, keine Nutzungsmöglichkeit - darzulegen und zu beweisen. Nach der aktuellen Rechtsprechung des OLG Düsseldorf liegt die Darlegungs- und Beweislast beim Geschädigten. Das steht im Einklang mit BGH NJW 85, 2471; NJW 87, 50, 52 und der h.M. in der Literatur 
(Ch. Huber, NJW 08, 1785, 1787 m.w.N.).

     

    • 5. Beweismaß: Mit dem Argument „Folgeschaden“ (BGH NJW 76, 1396) lässt sich die Anwendbarkeit des § 287 ZPO vertreten. Auch beim Weiterbenutzungswillen als Merkmal des Integritätsinteresses gilt nach BGH NJW 08, 437 Tz. 12 das Beweismaß von § 287 ZPO. Für § 286 ZPO spricht die Zuordnung der „Fühlbarkeit“ zum Anspruchsgrund (Nutzungswille = anspruchsbegründende Tatsache).
    • 6. Anscheinsbeweis bzw. tatsächliche Vermutung für einen fortbestehenden Nutzungswillen? Die maßgeblichen OLG-Fachsenate - vom BGH fehlt eine klare Stellungnahme - sind sich darin einig: Die allgemeine Lebenserfahrung spricht dafür, dass der Eigentümer eines PKW diesen ohne den unfallbedingten Ausfall (weiter)benutzt haben würde (OLG Celle VersR 73, 717; OLG Düsseldorf, st. Rspr., z.B. VA 02, 1; 6.10.09, I-1 U 192/08, Abruf-Nr. 093506; OLG München VersR 69, 1098; OLG Hamm DAR 94, 24). Weitere OLG haben sich angeschlossen, z.B. OLG Frankfurt a.M. DAR 84, 318; OLG Stuttgart 6.9.99, 4 U 73/99; OLG Dresden 30.6.10, 7 U 313/10; OLG Koblenz VA 12, 59; OLG Brandenburg VA 13, 20; OLG Köln 11.10.12, 22 U 48/12. LG und AG sind in großer Mehrheit gefolgt.

     

      • Darlegungs- und Beweiserleichterung. Auch wenn nicht ausdrücklich von einem Anscheinsbeweis die Rede ist (häufig heißt es „tatsächliche Vermutung“), läuft diese eindeutig herrschende Rechtsprechung im Ergebnis auf die Annahme eines Anscheinsbeweises hinaus (OLG München a.a.O.: „typisches Geschehen“). Die Wirkung ist (mindestens) eine Darlegungs- und Beweiserleichterung. Der Geschädigte wird (zunächst) davon freigestellt, zu seinem Nutzungswillen substanziiert vorzutragen (OLG Hamm a.a.O.; OLG Frankfurt a.M. a.a.O.). Sache des Schädigers/VR ist es, die „tatsächliche Vermutung“ zu entkräften.

     

      • Entkräftung der Vermutung bis hin zur Vermutung gegen den Geschädigten. Auseinander gehen die Ansichten in der Frage, durch welche Tatsachen die Vermutung eines fortbestehenden Nutzungswillens entkräftet wird. Gekennzeichnet sind die Problemfälle dadurch, dass der Geschädigte das Unfallfahrzeug nicht direkt oder überhaupt nicht reparieren lässt und zeitnah zum Unfall auch kein Ersatzfahrzeug anschafft. Wie diese Konstellationen in der aktuellen Rechtsprechung behandelt werden, zeigen die folgenden Übersichten.
     

     

    • Geschädigtengünstige Rechtsprechung
    Sachverhalt
    Begründung
    Fundstelle

    Unfall 10.12.12, Ersatzkauf nicht vor Juni 2013.

    Nutzungswille für den geltend gemachten Zeitraum (27 Tage) bejaht.

    LG Kaiserslautern

    14.6.13, 3 O 837/12,

    Abruf-Nr. 132466

    Ersatzbeschaffung mehr als 7 Monate nach Unfall; Überbrückung mit Kfz des Vaters.

    Nutzungswille in der Ersatzbeschaffungsphase bejaht.

    LG Stuttgart

    SP 13, 254

    Ersatzbeschaffung ca. 7 Monate nach dem Unfall.

    Früherer Ersatzkauf aus finanziellen Gründen unmöglich.

    LG Wiesbaden

    SP 13, 114

    Beauftragung eines SV nach 9 Monaten, Ersatzkauf 13 Monate nach dem Schadensfall.

    Keine Entkräftung der Vermutung für einen Nutzungswillen durch Warten mit Ersatzkauf.

    OLG Brandenburg

     VA 13, 20

    Verzögerung der Reparatur auch dadurch, dass Geschädigter erst zum RA ging.

    Lebenserfahrung spricht für Fortdauer des Nutzungswillens.

    LG Saarbrücken

     VA 11, 146

    Ersatzbeschaffung 5 1/2 Monate nach dem Unfall.

    Warten kann viele Gründe haben, kritische Grenze ist bei weniger als 
6 Monaten nicht überschritten.

    AG München

    SP 12, 293

    Ersatzbeschaffung ca. 5 Monate nach dem Unfall.

    Warten aus finanziellen Gründen unschädlich.

    AG Dachau

    SP 10, 17

    Ersatzbeschaffung 5 Monate nach dem Unfall.

    Zeitferner Ersatzkauf kann Nutzungswillen allein nicht beseitigen, weiterer Vortrag des Schädigers erforderlich.

    LG Braunschweig

    NZV 06, 41

    Reparatur/Ersatzkauf hinausgeschoben.

    Nutzungswille für die Ersatzbeschaffungsdauer plausibel dargelegt.

    OLG Düsseldorf

    NZV 03, 379

     

     

    • Geschädigtenungünstige Rechtsprechung
    Sachverhalt
    Begründung
    Fundstelle

    Erst 21 Monate nach Unfall Ersatzfahrzeug für 2.000 EUR vom Vater gekauft.

    Kein Nutzungswille in der Phase normaler Wiederbeschaffung.

    OLG Frankfurt a.M.
SP 13, 254

    Miete am 21.12.10 nach Unfall am 15.10.10.

    Vermutung für Fehlen des Nutzungswillens nicht entkräftet.

    AG Bonn

    SP 13, 227

    8 1/2 Monate mit Ersatzkauf gewartet.

    Vermutung für fehlenden Nutzungswillen nicht entkräftet.

    LG Köln

    SP 12, 367

    Reparatur erst 14 Monate nach dem Unfall.

    Zuwarten mit Reparatur indiziert fehlenden Nutzungswillen.

    LG Heilbronn

    SVR 12, 423

    Mehr als 6 Monate mit Ersatzbeschaffung (Krad) gewartet.

    Vermutung für fehlenden Nutzungswillen.

    OLG Celle

     13.10.11, 5 U 130/11

    Feststellungsantrag, der auch künftigen Nutzungsausfallschaden erfassen sollte.

    Bei mehrmonatigem Warten Vermutung für fehlenden Nutzungswillen, finanzielle Schwäche kann sie erschüttern.

    OLG Naumburg

    NJW 12, 1232, 1235

    Verzögerter Reparaturbeginn ohne plausiblen Grund.

    Bei ungewöhnlich langem Warten Vermutung „kein Nutzungswille“.

    AG Köln

    SP 12, 293

    Keine Reparatur, Ersatzkauf erst mehr als 18 Monate nach dem Unfall.

    Bei mehr als zweimonatigem Warten mit der Reparatur Vermutung für fehlenden Nutzungswillen.

    AG Gummersbach

    SP 11, 192

    Ersatzbeschaffung ca. 10 Monate nach dem Unfall.

    Vermutung für fehlenden Nutzungswillen nicht entkräftet.

    AG Bergheim

    SP 10, 155

    Unfall 12.3.07, Reparatur im Dezember 07.

    Wie vorstehend AG Bergheim.

    LG Hanau

    SP 09, 293

    Unfall April/Anfang Mai 01, Ersatzbeschaffung 11.7.01.

    Vermutung für fehlenden Nutzungswillen nicht entkräftet.

    OLG Köln

     VA 04, 112

     

     

    PRAXISHINWEISE |  

    • Auch in Fällen ohne zeitnahe Reparatur bzw. Ersatzbeschaffung - die kritische Grenze liegt bei zwei Monaten - kann eine abstrakte Nutzungsausfallentschädigung ab Unfalltag beansprucht werden.

     

    • Zu den Anspruchsvoraussetzungen Nutzungswille und Nutzungsmöglichkeit sollte in solchen Fällen vorsorglich ausdrücklich vorgetragen werden. Auszurichten ist der Vortrag an der für den Mandanten ungünstigen Rechtsprechung (siehe obige Übersicht) unter Hinweis auf die positive Judikatur (siehe oben).

     

    • Beachten Sie: Versicherungsschreiben, Kommentare und Urteile wimmeln von Fehlzitaten - meist zum Nachteil des Geschädigten. Gestützt wird der Einwand „kein Nutzungswille“ stets auf dieselben Urteile, vorzugsweise OLG Köln DAR 05, 32 = VersR 04, 1332; OLG Frankfurt SP 13, 254; AG Bergheim SP 10, 155, AG Gummersbach SP 11, 192. Näheres Hinsehen zeigt, dass die Urteile entweder nicht passen, überholt sind oder eine Mindermeinung darstellen. Beklagenswert fehlerhaft sind auch manche von Versicherungsseite gern zitierte Kommentare, z.B. Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, § 249 BGB Rn. 160 mit Fehlzitaten BGH NJW 76, 1396 und OLG Düsseldorf SP 02, 171. Daneben liegt auch Palandt/Grüneberg mit dem Hinweis auf BGH NJW 08, 911.

     

    • Herauszustellen und mit der einhelligen Rechtsprechung der OLG-Fachsenate zu belegen ist die tatsächliche Vermutung für das Fortbestehen des Nutzungswillens.

     

    • Auch wenn es wegen der Vermutungswirkung entbehrlich ist: Der fortdauernde Nutzungswille kann mit Nutzungsgewohnheiten aus der Zeit vor dem Unfall untermauert werden. Achtung! Bei Fahrzeugen mit Saisonkennzeichen (§ 9 Abs. 3 FZV) enden Nutzungswille und -möglichkeit mit Ablauf der Zulassungszeit (OLG München DAR 09, 703). Anspruchsfeindlich ist auch eine Außerbetriebssetzung gem. § 14 FZV (Stilllegung).

     

    • Die Vermutung für die Fortdauer des Nutzungswillens über den Unfalltag hinaus wird nicht schon dadurch 
erschüttert oder gar widerlegt, dass zwischen Unfall und Reparatur bzw. Ersatzanschaffung ein längerer Zeitraum liegt. Erst recht begründet bloßer Zeitablauf ohne Mobilität keine Vermutung für das Fehlen eines 
Nutzungswillens. Entgegenstehende Rspr. ist a) nicht überzeugend und b) keinesfalls „herrschend“. Die OLG-Fachsenate sind dezidiert anderer Meinung. Zusatzargument: Wenn eine Vermutungswirkung gegen den Mandanten bestünde, kann sie nicht für die Zeit direkt nach dem Unfall - Faustregel: bis zu 30 Tage - eingreifen.

     

    • Aus anwaltlicher Vorsicht sind die Gründe substanziiert vorzutragen, warum nicht zu einem früheren Zeitpunkt repariert bzw. ersatzbeschafft wurde. Meist sind es finanzielle Schwierigkeiten, mitunter auch Probleme mit Ersatzteilen oder bei der Wiederbeschaffung. Nicht der Nutzungswille ist hier das eigentliche Problem. Vielmehr geht es in den „Verzögerungsfällen“ um die Frage des Mitverschuldens. Dazu, welche Wartezeiten einem Geschädigten von den Gerichten zugestanden werden, siehe den Beitrag VA 12, 132.
    Quelle: Ausgabe 09 / 2013 | Seite 151 | ID 42243969