· Fachbeitrag · Grundsicherung
Höheres Einkommen des reichen Bruders darf nicht zulasten des ärmeren Bruders gehen
von RiOLG Dr. Dagny Liceni-Kierstein, Brandenburg/Berlin
| In Rechtsprechung und Literatur bestehen unterschiedliche Auffassungen, ob Grundsicherungsleistungen für einen Elternteil ganz oder teilweise ausgeschlossen sind, wenn privilegierte mit nicht privilegierten Kindern, deren Bruttoeinkommen den Grenzbetrag von 100.000 EUR überschreitet, zusammentreffen. Der BGH hat die Frage jetzt klar entschieden. |
1. Ausgangsproblematik
Können in einem solchen Fall Grundsicherungsleistungen zumindest teilweise bedarfsdeckend - auch fiktiv - zugerechnet werden? Wird die nicht subsidiäre Grundsicherungsleistung abgelehnt, bei der kein Unterhaltsregress stattfindet, muss vom bedürftigen Elternteil nachrangige Hilfe zum Lebensunterhalt beantragt werden. Das hat wiederum einen Anspruchsübergang auf den Sozialhilfeträger zur Folge. Die unterschiedliche Subsidiarität hat also nicht nur theoretische, sondern praktische wirtschaftliche Bedeutung.
2. Der Fall des BGH (8. Juli 2015, XII ZB 56/14)
Mutter M, geboren 1934, ist verwitwet und lebt im eigenen Haushalt. Sie hat einen nicht gedeckten Unterhaltsbedarf in wechselnder Höhe zwischen monatlich 647 EUR und 756 EUR. M hat einen Sohn A und einen Sohn B. Sie erzielen jährliche Bruttoeinkünfte von
- A: mehr als 150.000 EUR
- B: 76.500 EUR
Wegen ihres ungedeckten Unterhaltsbedarfs hatte M die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen beantragt. Die Stadt lehnte diesen Antrag ab, da die Einkünfte des A die Einkommensgrenze des § 43 Abs. 3 S. 1 SGB XII übersteigen. Stattdessen gewährte sie M Hilfe zum Lebensunterhalt unter Rückübertragung der auf sie übergegangenen Unterhaltsansprüche zum Zwecke der gerichtlichen Geltendmachung gegen ihre Söhne A und B. Den Antrag der M auf anteilige Unterhaltszahlung gegen B hat das AG zurückgewiesen. Ihre Beschwerde hatte vor dem OLG keinen Erfolg. Der BGH hat die Entscheidung des OLG - jedoch mit abweichender rechtlicher Begründung - bestätigt und die zugelassene Rechtsbeschwerde der M zurückgewiesen. M hatte ihre Anträge noch wegen eines Unterhaltsrückstands von 3.725 EUR für den Zeitraum 8/11 bis 8/13 sowie wegen eines laufenden Unterhalts von 180 EUR ab 9/13 bzw. in Höhe von 182 EUR ab 1/14 weiterverfolgt.
3. Grundsicherung und Elternunterhalt
Zum 1.1.03 hat der Gesetzgeber u.a. für alle Personen über 65 Jahre eine Grundsicherung eingeführt. Sie entspricht der Höhe nach etwa der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Sozialrecht. Seit dem 1.1.05 ist die Grundsicherung als eine besondere Form der Sozialhilfe in den §§ 41 ff. SGB XII geregelt.
a) Intention des Gesetzgebers und Funktionsweise der Grundsicherung
Der Gesetzgeber wollte durch die Einführung der Grundsicherung im Alter dem Problem der verschämten Altersarmut begegnen. Sie wird vor allem dadurch verursacht, dass ältere Menschen aus Furcht vor einem Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder keine Sozialhilfe beantragen (BT-Drucks. 14/4595 S. 43). Aufgabe der Grundsicherung im Alter ist es deshalb, den Eltern eine eigenständige Grundversorgung zu verschaffen. Diese soll ihr Existenzminimum auch ohne Inanspruchnahme ihrer unterhaltspflichtigen Kinder sichern.
Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII vor, werden diese unabhängig von etwaigen Unterhaltsansprüchen gegen die Kinder gewährt. Anders als bei der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt findet im Regelfall kein Unterhaltsrückgriff gegenüber den unterhaltspflichtigen Kindern statt. Dementsprechend sind Grundsicherungsleistungen gegenüber dem zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch nicht nachrangig, sondern gelten als Einkommen. Sie reduzieren den unterhaltsrechtlichen Bedarf des Elternteils. Das gilt unabhängig davon, ob die Leistungen zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden sind.
Wichtig | Vor diesem Hintergrund besteht nach allgemeiner Ansicht für den bedürftigen Elternteil die Obliegenheit zur Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen. Eine Verletzung dieser Obliegenheit kann zur Anrechnung fiktiver Einkünfte in Höhe der entgangenen Grundsicherung führen.
b) Einkommensgrenze
Im Streitfall hatte M rechtzeitig Grundsicherungsleistungen beantragt und B erst nach Ablehnung dieses Antrags auf Zahlung von Elternunterhalt in Anspruch genommen. Eine unterhaltsrechtliche Verpflichtung, von sich aus mit Rechtsbehelfen gegen eine solche Versagung von bedarfsdeckenden Grundsicherungsleistungen vorzugehen, kann den Elternteil nur treffen, wenn hinreichende Erfolgsaussichten bestehen. Solche bestanden hier aber wegen § 43 Abs. 3 S. 6 SGB XII nicht, weil der ebenfalls unterhaltspflichtige Bruder A über jährliche Bruttoeinkünfte von mehr als 150.000 EUR verfügt.
Nach § 43 Abs. 3 S. 1 SGB XII bleiben Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten bei Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gegenüber ihren Kindern und Eltern unberücksichtigt, sofern deren jährliches Einkommen i.S. von § 16 SGB IV unter 100.000 EUR liegt. Nach § 43 Abs. 3 S. 2 SGB XII wird vermutet, dass das Einkommen der Unterhaltspflichtigen diese Grenze nicht überschreitet. Wird die Vermutung durch den Träger der Grundsicherung widerlegt - beträgt also das Einkommen des Kindes mindestens 100.000 EUR - besteht nach § 43 Abs. 3 S. 6 SGB XII kein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Bei mehreren unterhaltspflichtigen Kindern kommt jedem die Einkommensgrenze von 100.000 EUR zugute. Eine Zusammenrechnung der Einkünfte der Kinder findet nicht statt.
c) Ein Kind über - ein Kind unter der Einkommensgrenze
Unterschiedliche Auffassungen wurden bisher zu der Frage vertreten, wie zu entscheiden ist, wenn der Grundsicherungsträger bei mehreren unterhaltspflichtigen Kindern nicht bei allen Kindern den Nachweis eines jährlichen Bruttoeinkommens von mindestens 100.000 EUR führen kann. Anders als das OLG bestätigt der BGH, dass ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen gemäß § 43 Abs. 3 S. 6 SGB XII insgesamt ausgeschlossen ist, wenn nur eines der Kinder über steuerliche Gesamteinkünfte von 100.000 EUR oder mehr verfügt. Das folgt nach seiner Ansicht aus einer grammatikalischen Auslegung des § 43 Abs. 3 S. 1 SGB XII und dem erkennbar zu Tage getretenen Willen des Gesetzgebers. Schließlich sieht er sich mit einer solchen rechtlichen Beurteilung im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG.
Im Ergebnis stellt der BGH fest, dass M im Hinblick auf die Einkommensverhältnisse des (nicht privilegierten) A keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hatte. Sie war deshalb darauf angewiesen, die nachrangige Hilfe zum Lebensunterhalt zu beantragen. Vom B und seinem Bruder A ist dies letztlich auch mit zu verantworten, weil sie freiwillig keinen Elternunterhalt gezahlt haben. Damit ist zugleich eine Anrechnung der Grundsicherung als fiktives Einkommen der M auf ihren Unterhaltsanspruch ausgeschlossen.
PRAXISHINWEIS | Damit der Elternteil nicht aus Furcht vor behördlicher Ausforschung der wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Kinder darauf verzichtet, Grundsicherung zu beantragen, ist er - über allgemeine Angaben hinaus - nicht verpflichtet, dem Grundsicherungsträger Einzelheiten zu den wirtschaftlichen Verhältnissen seiner Kinder zu offenbaren. Inhaltlich ist der Auskunftsanspruch nach § 43 Abs. 3 S. 4 SGB XII auf Angaben zum Bruttoeinkommen beschränkt. Informationen zu den sonstigen wirtschaftlichen Verhältnissen - z.B. Angaben zu einem Wohnvorteil oder zum Einkommen seines Ehegatten - können nicht verlangt werden, auch wenn sie für die Beurteilung seiner unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit unmittelbar von Bedeutung sind. Auch insoweit bestehen also Unterschiede gegenüber der Hilfe zum Lebensunterhalt. |
3. Ausschluss des Anspruchsübergangs
Trotz der tatsächlich gewährten Hilfe zum Lebensunterhalt ist im Streitfall jedoch der Übergang des Unterhaltsanspruchs der M gegen den leistungsfähigen B auf den Sozialhilfeträger ausgeschlossen.
- Der BGH stellt hierzu fest, dass sich ein solcher Ausschluss allerdings nicht aus § 94 Abs. 1 S. 3 HS 2 SGB XII ergibt. Die Vorschrift - die ausdrücklich klarstellt, dass der Unterhaltsanspruch des grundsicherungsberechtigten Elternteils gegenüber Kindern nicht übergeht - greift vorliegend nicht ein, weil M mit Blick auf die Einkommensverhältnisse des A keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hat.
- Ein Anspruchsübergang ist jedoch nach § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII wegen unbilliger Härte ausgeschlossen. Er würde hier zu einem widersprüchlichen Ergebnis führen und soziale (und nicht bloß zivilrechtliche/familiäre) Belange vernachlässigen. Denn die Folge wäre eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung des B mit einem Einzelkind.
a) Ungleichbehandlung mit Einzelkind
Der B kann im Rahmen der seiner Mutter gewährten nachrangigen Hilfe zum Lebensunterhalt nur deshalb zum Unterhalt herangezogen werden, weil die Einkünfte seines Bruders den Grenzbetrag von 100.000 EUR übersteigen und seine Mutter damit von bedarfsdeckenden Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen ist. Wäre der B dagegen Einzelkind, könnte ihn der Träger der Sozialhilfe aufgrund seines Einkommens von 76.500 EUR nicht auf Elternunterhalt in Anspruch nehmen. Er könnte seine Mutter auf bedarfsdeckende Grundsicherungsleistungen verweisen und sich gegenüber einem Unterhaltsrückgriff auf das Privileg des § 94 Abs. 1 S. 3 HS 2 SGB XII berufen.
b) Keine sachliche Rechtfertigung
Indem er die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen von den Einkommensverhältnissen unterhaltspflichtiger Kinder abhängig macht, wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass „hohe Einkommen nicht vom Unterhaltsrückgriff befreit werden“. Im Streitfall wäre B einem Unterhaltsrückgriff aber nicht wegen der Höhe seines Einkommens, sondern allein deswegen ausgesetzt, weil er einen einkommensstärkeren Bruder hat. Da es an einer sachlichen Rechtfertigung hierfür fehlt, bejaht der BGH zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs das Vorliegen eines Härtegrunds und damit einen Ausschluss des Anspruchsübergangs.
Im Ergebnis ist M trotz der ihr gewährten Hilfe zum Lebensunterhalt wegen § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII Inhaberin ihres gegen den B gerichteten Anspruchs auf Elternunterhalt geblieben. Die gleichwohl durch den Sozialhilfeträger vorgenommene Rückübertragung geht ins Leere.
PRAXISHINWEIS | Ist der unterhaltsbedürftige Elternteil in einem Pflegeheim untergebracht, ist sein Hilfebedarf vielfach so hoch, dass bewilligte Grundsicherungsleistungen nicht ausreichen, um seinen gesamten Unterhaltsbedarf sicherzustellen. Die übrigen Heimkosten müssen dann durch ergänzende Sozialhilfe abgedeckt werden. In einem solchen Fall greift der Ausschluss des Anspruchsübergangs nach § 94 Abs. 1 S. 3 HS 2 SGB XII nur ein, soweit Leistungen der Grundsicherung erbracht werden. Im Übrigen geht der Unterhaltsanspruch des Elternteils gegen das Kind gemäß § 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII bis zur Höhe der gewährten sonstigen Hilfen auf den Sozialhilfeträger über. |
4. Einwand der unzulässigen Rechtsausübung
Ungeachtet seiner Leistungsfähigkeit schuldet der (privilegierte) B im Streitfall keinen Elternunterhalt. Dem eigenen Unterhaltsbegehren der M kann er unter den gegebenen Umständen den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegenhalten.
a) Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe
Auch wenn der Übergang des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger ausnahmsweise ausgeschlossen ist, ändert das nichts an dem gesetzlich gewollten Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe (§ 2 SGB XII). Insbesondere ist die nachrangig gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt nicht als unterhaltsrechtlich bedarfsdeckende Leistung zu behandeln. Kommt es jedoch - wie hier - wegen eines Härtegrunds ausnahmsweise zu einem Ausschluss des Anspruchsübergangs auf den Sozialhilfeträger, kann es für den Unterhaltsberechtigten nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) geboten sein, von einer Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs gegen den Unterhaltspflichtigen abzusehen. Insoweit bedarf es einer Abwägung der beiderseitigen Interessen im Einzelfall. Eine solche Interessenabwägung lässt hier eine Korrektur geboten erscheinen.
b) Interessenabwägung
Im Streitfall wäre der gesamte Bedarf der M die im eigenen Haushalt lebt, im Fall der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen gedeckt gewesen. Der B kann seine Mutter aber nicht auf diese Grundsicherungsleistungen verweisen. Dies nur deshalb, weil er einen einkommensstärkeren Bruder hat, dessen Bruttoeinkünfte den in § 43 Abs. 3 S. 1 SGB XII vorgesehenen Grenzbetrag von 100.000 EUR überschreiten. Darin liegt nicht nur aus dem Blickwinkel des Sozialhilferechts eine systemwidrige Härte. Auch die unterhaltsrechtliche Beurteilung führt zu dem Schluss, dass die Heranziehung des B zum Unterhalt unter den gegebenen Umständen eine besondere Belastung für ihn ist. Denn sein Bruder schließt aufgrund seines hohen Einkommens die gemeinsame Mutter von einer anderweitigen Bedarfsdeckung durch Grundsicherungsleistungen aus.
Nach Ansicht des BGH ist es M daher im vorliegenden Fall nach Treu und Glauben - auch unter Berücksichtigung des Gebots der familiären Rücksichtnahme (§ 1618a BGB) - zuzumuten, von einer Durchsetzung ihrer Ansprüche auf Elternunterhalt gegen B abzusehen. Das gilt sowohl für die Vergangenheit als auch für zukünftige Unterhaltszeiträume.
FAZIT | Das praktische Ergebnis der BGH-Entscheidung stellt sich wie folgt dar: Der Sozialhilfeträger ist gegenüber B nicht forderungsberechtigt (auch nicht in einem späteren Verfahren), da die Unterhaltsansprüche der M abweichend von § 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII nicht auf ihn übergegangen sind.
Die M ist nach dem Grundsatz von Treu und Glauben ebenfalls daran gehindert, ihre Unterhaltsansprüche gegen B geltend zu machen. Daraus folgen für sie aber keine wirtschaftlichen Nachteile. Der Träger der Sozialhilfe hat M tatsächliche Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt. Die vereinnahmte und von M nicht rückzahlbare Sozialhilfe entfaltet im Umfang ihrer Gewährung bzw. der anteiligen unterhaltsrechtlichen Haftung des Antragsgegners (§ 1606 Abs. 3 S. 1 BGB) eine - de facto - bedarfsdeckende Wirkung. Lehnen B und sein Bruder A die Zahlung von Elternunterhalt auch in der Zukunft ab, muss M vom Sozialhilfeträger auch zukünftig Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt werden. Abweichungen würden sich erst ergeben, wenn sich ihr Unterhaltsbedarf - z.B. durch Eintritt der Pflegebedürftigkeit und Heimunterbringung - ändern würde. |
Weiterführender Hinweis