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· Fachbeitrag · Betreuung

Betroffene dürfen ins Gutachten schauen

| Nach Einholung eines Gutachtens bestellte das Gericht einen Berufsbetreuer. Die Betroffene erhielt das Gutachten nicht, da sie die Erörterung nach Ansicht des Gerichts „stark belasten“ würde. Dies muss allerdings ein Arzt bewerten und nicht das Gericht selbst, so der BGH. Bevollmächtigte müssen aufpassen: Fälle wie diese sind nicht selten. |

 

Sachverhalt

Die Betroffene litt an fortschreitender Demenz. Sie bevollmächtigte mit einem als „Verfügung“ bezeichneten Schreiben die Beteiligte zu 1 für den Fall, dass sie sich nicht mehr in völliger geistiger Gesundheit befinden sollte, Entscheidungen für sie zu treffen. Nach Anhörung der Betroffenen und auf Grundlage eines gerichtlich eingeholten Gutachtens bestellte das Gericht die Beteiligte zu 2 zur Berufsbetreuerin mit umfassendem Aufgabenkreis (u. a. Vermögens- und Gesundheitssorge, Post annehmen und öffnen, Vertretung gegenüber Behörden). Hiergegen wehrte sich die Betroffene mit einer Beschwerde. Das Gericht holte weitere Stellungnahmen ein und hörte die Betroffene erneut an. Es half den Beschwerden jedoch nicht ab und legte die Entscheidung dem LG vor. Das LG wies die Beschwerden ohne weitere Anhörung der Betroffenen zurück. Hiergegen erhoben die Beteiligte zu 1 und die Betroffene jeweils Rechtsbeschwerde.

 

Entscheidungsgründe

Wird über eine mögliche Betreuung entschieden, hat der Betroffene einen Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Dem trägt § 278 Abs. 1 S. 1 FamFG Rechnung, der eine persönliche Anhörung vorschreibt. Diese ist durchzuführen, wenn das nach § 280 Abs. 1 S. 1 FamFG einzuholende Sachverständigengutachten vorliegt (BGH 3.7.19, XII ZB 62/19). Das Gutachten ist dem Betroffenen persönlich zur Verfügung zu stellen. Hiervon kann nur abgesehen werden, wenn ärztlich bestätigt ist, dass erhebliche gesundheitliche Nachteile für den Betroffenen möglich sind, wenn er das Gutachten erhält. Hierüber enthielt das Gutachten aber keinerlei Angaben. Das Gericht lieferte die Begründung gleich selbst: Eine Erörterung des Gutachtens mit der Betroffenen sei „kontraproduktiv“ und würde sie „stark belasten“. Das Gericht hätte ihr aber das Gutachten aber zuleiten müssen. Der BGH wies die Sache daher an das LG zurück (6.5.20, XII ZB 6/20, Abruf-Nr. 216305).

 

Darüber hinaus war das angefertigte Gutachten unbrauchbar.

 

MERKE | Der Sachverständige muss Art und Ausmaß der Erkrankung im Einzelnen anhand Vorgeschichte, durchgeführter Untersuchungen und sonstiger Erkenntnisse darstellen und wissenschaftlich begründen.

 

Das zweiseitige Gutachten basierte nur auf einem mit der Betroffenen geführten Gespräch und kurzer Beschreibung ihres körperlichen Zustands. Tests und Untersuchungen wurden nicht durchgeführt. Weiterhin blieb unklar, welche Befunde die Diagnose Demenz begründen und inwieweit eine weitgreifende Betreuung hinsichtlich umfassender Aufgabenkreise nötig sei.

 

 

PRAXISTIPP | Eine bereits bestehende Betreuung wird häufig erweitert. Viele Krankheiten verlaufen schleichend oder schränken später auch Fähigkeiten des Betreuten ein, die zuvor noch unbeeinträchtigt waren. Zieht das Gericht mit neuen Gutachten neue Tatsachengrundlagen heran, ist auch eine erneute Anhörung geboten (BGH 4.12.19, XII ZB 392/19, Abruf-Nr. 213599).

 

Relevanz für die Praxis

In der Vergangenheit gab es immer wieder ähnliche Fälle: Der Betroffene erhält ein Gutachten nicht, wird nicht angehört oder das Gericht stützt sich auf ein mangelhaftes Gutachten (u. a. zuletzt BGH 12.2.20, XII ZB 179/19, Abruf-Nr. 214896).

 

Bevollmächtigte müssen daher jeweils alle drei infrage kommenden Verstöße beachten. Ebenso sollte der Anwalt prüfen, ob sich der Gutachter adäquat und vor allem mittels der notwendigen Diagnostik mit der Krankheit auseinandergesetzt hat (Beispiel Fibromyalgie: SR 20, 23). Im Zweifel kann er eine ergänzende Stellungnahme oder gar ein völlig neues Gutachten fordern, da die bisherige Sachaufklärung unzureichend war. Dies gilt vor allem, wenn weitere Arztberichte zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen kommen (BGH 4.3.20, XII ZB 443/19, Abruf-Nr. 215319).

 

Weiterführender Hinweis

  • Widersprüche zwischen SV-Gutachten und fachärztlichen Stellungnahmen sind aufzuklären, SR 20, 114
Quelle: Ausgabe 09 / 2020 | Seite 151 | ID 46684709