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  • 24.03.2010 | Haftpflichtprozess

    Der Vorschadeneinwand des Schädigers im Haftpflichtprozess - Teil 2 Personenschaden

    von VRiOLG a.D. Dr. Christoph Eggert, Leverkusen

    Im Anschluss an VA 10, 42 ff. (vorgeschädigtes Unfallfahrzeug) geht es im Folgenden um die Bedeutung von Vorschädigungen, Schadensanlagen und Anomalien in der Person des Geschädigten für die Feststellung und Bemessung von Personenschäden, speziell beim Schmerzensgeld und dem Erwerbsschaden.  

     

    Übersicht: Grundlagenwissen kompakt
    1. Hinnehmen wie er ist: Grundsätzlich muss der Schädiger den Geschädigten in dessen konkreter körperlicher und psychischer Beschaffenheit hinnehmen. M.a.W.: Ein Schädiger, der einen kranken oder gesundheitlich geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wenn der Betroffene gesund gewesen wäre (st. Rspr., BGH NJW-RR 05, 897).

     

    2. Volle Zurechnung: Dem Schädiger sind grundsätzlich auch die Auswirkungen seiner Verletzungshandlung zuzurechnen, die sich erst deshalb ergeben, weil der Verletzte bereits einen Körperschaden oder eine sonstige konstitutionelle Schwäche hatte (st. Rspr., BGH NJW 89, 2616).

     

    3. Kein Unterschied zwischen körperlicher und psychischer Vorschädigung: Auch ein psychischer Vorschaden (z.B. Depression, Klaustrophobie, besondere psychische Labilität) steht der Ersatzpflicht des Unfallverursachers nicht grundsätzlich entgegen (BGH NJW 96, 2425). Weitere BGH-Rspr. bei Stöhr, NZV 09, 161, 163 mit Hinweis auf die (schwierige) Abgrenzung zwischen „spezieller Schadensanlage“ und einer - den Schädiger entlastenden - allgemeinen Neigung zu unangemessener Erlebnisverarbeitung.

     

    4. Mitverursachung genügt: Es kommt nicht darauf an, ob der Unfall die alleinige Ursache einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist. Mitursächlichkeit, sei sie auch nur „Auslöser“ neben erheblichen anderen Umständen („Auslöserkausalität“), steht einer Alleinursächlichkeit in vollem Umfang gleich, bei der haftungsbegründenden wie bei der haftungsausfüllenden Kausalität (BGH NJW-RR 05, 897; NJW 02, 504 - Dauerschaden nach Zweitunfall). Eine „wesentliche“ oder „richtunggebende“ Mitursache muss der Unfall nicht sein. Ein Anteil i.S.v. „letzter Tropfen“ genügt.

     

    5. Einwand der „hypothetischen (= überholenden) Kausalität“: Hätte die Vorschädigung/Schadensanlage ohne den Unfall früher oder später zum gleichen Schaden geführt, wirkt sich dies als Reserveursache zugunsten des Schädigers aus. Seine Ersatzpflicht kann ganz oder teilweise entfallen (BGH VersR 69, 43); zur Beweislast siehe die folgende Checkliste.

     

    6. Kein Mitverschulden: Ein Mitverschulden (§ 254 BGB) kann grundsätzlich nicht daraus hergeleitet werden, dass der Verletzte sich mit einer schadenbegünstigenden Anlage den Gefahren des Straßenverkehrs ausgesetzt hat (BGH NJW 97, 455).

     

    7. Grenzen der Ersatzpflicht:
    • Wegfall der Haftung: In Extremfällen kann die Haftung trotz adäquater Kausalität wegen fehlenden Zurechnungszusammenhangs vollständig entfallen. Besonders problematisch ist dies bei psychischen Schäden, s. Ernst, VA 08, 186, 188, Pkt. 3.
    • Kürzung des Ersatzes: Wo Ursachen- und Zurechnungszusammenhang, wie meist, nicht verneint werden können, können körperliche wie psychische Vorschäden/Schadensanlagen bei der Schadensbemessung zu Lasten des Geschädigten zu berücksichtigen sein, speziell beim Schmerzensgeld (unten III) und beim Erwerbsschaden (unten IV), aber auch bei sonstigen Positionen wie Behandlungskosten, vermehrte Bedürfnisse, Haushaltsführungsschaden.
     

     

    Checkliste: Beweisfragen
    1. Unterscheidung zwischen haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität: Wegen des unterschiedlichen Beweismaßes von zentraler Bedeutung ist die Frage, ob die eine oder die andere Kausalität strittig ist. Der Geschädigte trägt in beiden Fällen die Beweislast. Bei der haftungsausfüllenden Kausalität kommt ihm jedoch die Erleichterung nach § 287 ZPO zu gute, während für die haftungsbegründende Kausalität der strengere Maßstab des § 286 ZPO gilt. Ist ein „erster Verletzungserfolg“ (Primärverletzung) unstreitig oder nach § 286 ZPO bewiesen, gilt für alles Weitere § 287 ZPO, einschl. der Frage einer unfallbedingten Verschlimmerung von Vorschäden.

     

    2. Was ist „Primärverletzung“, was „Sekundärschaden“? Unter „Primärverletzung“ versteht man die Rechtsgutverletzung als solche, d.h. eine Körperverletzung oder Gesundheitsbeeinträchtigung (§ 823 Abs.1 BGB, § 7 Abs. 1 StVG). Eine bloße Rechtsgutgefährdung reicht nicht. Andererseits genügt, dass der Schädiger auf das Rechtsgut des Geschädigten in einer Weise eingewirkt hat, die nachteilige Folgen auslösen kann (BGH VersR 83, 985 - Notbremsung aus Tempo 100 zum Stillstand, behauptete Knieverletzungen als „Sekundärschaden“!). Informativ die beiden Morbus-Sudeck-Urteile BGH NJW 04, 777 und VersR 08, 644. Zur Abgrenzung Primär-/Sekundärschaden in HWS-Sachen s. Ernst, VA 08, 186 und aktuell OLG Frankfurt 1.4.09, 7 U 163/08, Abruf-Nr. 100893 (unstr. HWS-Distorsion als Primär-, Bandscheibenvorfall als Sekundärschaden).

     

    Praxishinweis für Geschädigten-RA: In Fällen mit Nachweisschwierigkeiten (wie in HWS-Sachen) nicht nur auf eine organische Verletzung, sondern auch auf das fragilere Gut „Gesundheit /körperliches Wohlbefinden“ setzen. Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel etc. hilfsweise als Primärschaden geltend machen. Bei nicht feststellbarer Körperverletzung kann auch ein psychischer Schaden die „Primärverletzung“ sein (Ernst, VA 08, 186 ff.).

     

    3. Primär-/Sekundärverletzung bei einer Mehrheit von Verletzungen: Beispiel: Unstreitig hatte der Radfahrer bei seinem Sturz eine Gehirnerschütterung, eine Schwellung am rechten Fuß und eine Distorsion beider Handgelenke erlitten. Als weitere Unfallfolge behauptete er eine HWS-Verletzung. Beweis nach § 287 oder nach § 286 ZPO? Letzteres, so OLG Düsseldorf 12.3.07, I-1 U 192/06, Abruf-Nr. 072897. Nach der aktuellen Rspr. des 1. ZS genügt dagegen irgendeine unfallbedingte Verletzung, egal, wo am Körper (27.3.09, I-1 W 13/09 , Abruf-Nr. 100894). Das deckt sich mit BGH VA 09, 5.

     

    Praxishinweis für Geschädigten-RA: Unstreitige oder leicht nachweisbare Unfallverletzung(en) als „ersten Verletzungserfolg“ einsetzen. Identität der Schädigungsursache und Einheit des Körpers betonen. Gericht auf Leitsatz 3 zu BGH VA 09, 5, Abruf-Nr. 083794 hinweisen.

     

    4. Vorschädigung in HWS-Sachen: Nach den Grundsätzen 1 und 2 der Übersicht Grundlagenwissen sowie nach dem Prinzip „Mitverursachung reicht“ (Übersicht Punkt 4) ist die vorgeschädigte HWS/BWS/LWS rechtlich wenig problematisch. Die Schwierigkeiten liegen im Tatsächlichen.

     

    Typisches Szenario: Der Schädiger bestreitet unter Hinweis auf degenerative Veränderungen (Osteochondrose, Spondylose) jegliche HWS-Verletzung (schon kein Primärschaden), behauptet hilfsweise, dass die geltend gemachten (Folge-)Beschwerden auf die Vorschädigung zurückgingen, ohne sie eine etwaige unfallbedingte HWS-Verletzung nach längstens zwei Monaten abgeklungen wäre, äußerst hilfsweise: unfallunabhängig wäre es infolge der Vorschädigung ohnehin zu den behaupteten Beschwerden gekommen, so dass sie zumindest bei der Schadenshöhe anspruchsmindernd zu berücksichtigen sei.

     

    Lässt sich die „Vorschädigung“ nicht leugnen (eine degenerative Veränderung der HWS gilt ab Alter 30 als normal), kann der Kl. gleichwohl den Beweis einer unfallbedingten Primärverletzung führen. Die Vorschädigung kann sogar als verletzungsfördernder Faktor genutzt werden (wissenschaftlich bis heute str.). Jedenfalls sind Gericht und auch der SV nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass Mitursächlichkeit der Kollision genügt (oben Übersicht Punkt 4). Wichtig ist, Beschwerdefreiheit vor dem Unfall, also das Stummsein der Vorschädigung, belegen zu können. Bewiesen werden muss sie nicht, denn der Kl. hat bei str. Primärverletzung allein diese zu beweisen, wobei Beschwerdefreiheit vor dem Unfall nur ein (wichtiges) Indiz ist. Zur Beweisführung s. Ernst, VA 08, 186, 187. Zur Problematik „Anspruchskürzung“ s. unten die beiden Fallgruppen.

     

    5. Hypothetische Kausalität: Die Darlegungs- und Beweislast für das Wirksamwerden der Reserveursache „Vorschädigung“ trägt - auch in zeitlicher Hinsicht - der Schädiger (BGH VersR 69, 43; 96, 779), mit Erleichterung nach § 287 ZPO (BGH NJW 72, 1515). Der Verletzte hat eine sekundäre Darlegungslast. Die Auskunftspflicht nach § 119 Abs. 3 VVG umfasst nicht die Pflicht, den (Haus-)Arzt von seiner Schweigepflicht zu entbinden oder sich durch einen VR-Arzt untersuchen zu lassen. Ob es ratsam ist, eine Schweigepflichtsentbindung abzulehnen, steht auf einem anderen Blatt. Zur Verwertung von Gesundheitsdaten, die ohne wirksame Entbindung gewonnen worden sind, BGH NJW 10, 289. Die Benennung des Arztes als Zeugen bedeutet eine konkludente Entbindung (BGH a.a.O.).