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  • 05.01.2009 | Hauptverhandlung

    Was Sie vom Beschlussverfahren nach § 72 OWiG wissen müssen

    von RiOLG a.D. Detlef Burhoff, Münster

    Häufig wird übersehen, dass das AG nach einem Einspruch nicht nur im Wege der Hauptverhandlung entscheiden kann, sondern das OWiG ihm in § 72 OWiG auch die Möglichkeit einräumt, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden. Wir wollen Ihnen die Vor- und Nachteile dieser Verfahrensweise vorstellen und aufzeigen, worauf Sie bei dem Beschlussverfahren nach § 72 OWiG achten müssen (vgl. zu allem auch Krumm in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2. Aufl. 2008, Rn. 337).  

     

    Checkliste 1: Allgemeine Fragen

    Frage  

    Antwort  

    Welche Vorteile hat das Beschluss-verfahren?  

    Ein ganz wesentlicher Vorteil des Beschlussverfahrens ist, dass nach § 72 Abs. 3 S. 2 OWiG das sog. Verschlechterungsverbot gilt. Das bedeutet, dass der ergehende Beschluss nicht dem Betroffenen nachteiligere Rechtsfolgen festsetzen darf als der Bußgeldbescheid.  

     

    Praxishinweis: Die Entscheidung des AG ist also für den Verteidiger und seinen Mandanten kalkulierbar. Ein weiterer Vorteil ist, dass Verteidiger und Betroffener nicht zu einer mündlichen Hauptverhandlung, die ggf. bei einem weiter entfernten AG stattfindet, anreisen müssen.  

    Welche Nachteile hat das Beschluss-verfahren?  

    Nachteilig ist, dass es nicht zu einer mündlichen Hauptverhandlung kommt. Dann wäre der Tatrichter bei seiner Entscheidung auf deren Ergebnis beschränkt (§ 261 StPO). Im Beschlussverfahren kann er hingegen den gesamten Akteninhalt (gegen den Betroffenen) verwenden.  

     

    Praxishinweis: Auch dem Rechtsbeschwerdegericht steht im Rechtsbeschwerdeverfahren (s. Checkliste 3) der gesamte Akteninhalt für seine Entscheidung offen (OLG Frankfurt NStZ-RR 02, 219).  

    Wann ist das Verschlechterungsverbot des § 72 Abs. 3 S. 2 OWiG verletzt?  

    Grds. gilt, dass im Beschluss keine höhere Geldbuße und auch keine Nebenfolge festgesetzt werden darf, die nicht bereits im Bußgeldbescheid angeordnet war (Göhler, OWiG, 14. Aufl., § 72 Rn. 56). Es darf also z.B. im Beschluss kein Fahrverbot verhängt werden, wenn dieses nicht schon Gegenstand des Bußgeldbescheids war.  

    Welche Folgen hat ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot?  

    Der Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot eröffnet die Rechtsbeschwerde (vgl. Checkliste 3). Es ist § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 OWiG entsprechend anzuwenden und zu argumentieren, dass dieses (Beschluss-)Verfahren nicht vom Einverständnis des Betroffenen gedeckt war (Göhler, a.a.O., § 72 Rn. 76).  

    Kann im Beschluss die Tat rechtlich anders eingeordnet werden?  

    Ja, das ist möglich. Der Begriff Entscheidung in § 72 Abs. 3 S. 2 OWiG meint nur die Rechtsfolgenentscheidung. Das bedeutet, dass das AG z.B. im Beschluss von einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung ausgehen kann, während die Verwaltungsbehörde im Bußgeldbescheid nur eine fahrlässige angenommen hat.  

    Darf die Geldbuße erhöht werden, wenn im Beschluss von einem im Bußgeldbescheid angeordneten Fahrverbot nach § 4 Abs. 4 BKatV abgesehen wird?  

    In dem Fall kann die Geldbuße erhöht werden. Nach Auffassung der Rechtsprechung ist eine Gesamtschau der Rechtsfolge vorzunehmen, die im Vergleich zu einer Gesamtschau der Sanktionen im Bußgeldbescheid keine nachteilige Folge für den Betroffenen erkennen lassen darf (BGHSt 24, 11; BayObLG NJW 80, 849; OLG Stuttgart VRS 66, 467).  

     

    Praxishinweis: Das gilt auch, wenn ein längeres Fahrverbot gegen Erhöhung der Geldbuße verkürzt wird.  

    Wann kann das Beschlussverfahren durchgeführt werden?  

    Grds. ist das Beschlussverfahren in allen Fällen zulässig. Allerdings ist Voraussetzung, dass die Sachaufklärungspflicht nicht eine Hauptverhandlung in Anwesenheit des Betroffenen erforderlich macht. Das wäre z.B. der Fall, wenn der Betroffene bestreitet, Fahrer des Pkw gewesen zu sein und deshalb seine Identifizierung anhand eines Lichtbilds erforderlich ist. I.d.R. wird sich das Beschlussverfahren daher nur anbieten, wenn es um eine Rechtsfrage oder um die Rechtsfolgen geht (zu Details Krumm, a.a.O., Rn.442 ff., vgl. auch OLG Celle NJW 07, 2505).  

    Wird das Beschlussverfahren nur von Amts wegen durchgeführt?  

    Nein. Der Verteidiger kann das Verfahren anregen. Das bietet sich vor allem an, wenn über das Verschlechterungsverbot die Rechtsfolgen des Bußgeldbescheids „festgeschrieben“ werden sollen und ggf. eine weite Anreise zu einem entfernteren AG erspart werden soll.  

    Kann das Beschlussverfahren auch noch angeordnet werden, wenn bereits eine Hauptverhandlung anberaumt war bzw. stattgefunden hat und ausgesetzt worden ist?  

    Ja, beides ist nach h.M. möglich (vgl. OLG Karlsruhe VRS 58, 263; Göhler, § 72 Rn. 27 m.w.N.; Krumm, a.a.O., Rn. 340; a.A. für die Durchführung des Beschlussverfahrens nach ausgesetzter Hauptverhandlung OLG Hamm VRS 57, 50).  

    Hat das Beschlussverfahren für den Verteidiger gebührenrechtliche Auswirkungen?  

    Ja, nach Nr. 5115 Anm. 1 Ziff. 5 VV RVG entsteht für den Verteidiger die Befriedungsgebühr, wenn das AG nach § 72 OWiG im Beschlusswege entscheidet (wegen der Einzelh. s. Burhoff/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 2. Aufl., 2007, Nr. 5115 VV Rn. 38 ff.).  

     

    Praxishinweis: Das gilt auch, wenn nach einer bereits durchgeführten Hauptverhandlung noch ins Beschlussverfahren übergegangen wird (LG Cottbus zfs 07, 529; AG Köln AGS 07, 621).  

     

     

     

     

     

    Checkliste 2: Verfahren, insbesondere Widerspruch

    Frage  

    Antwort  

    Welche Voraussetzungen müssen für die Durchführung des Beschlussverfahrens erfüllt sein?  

    Neben der allgemeinen Geeignetheit (vgl. dazu Checkliste 1) ist Voraussetzung, dass keiner der Widerspruchsberechtigten (vgl. Ziff. 2) der Entscheidung im Beschlussverfahren widersprochen hat (vgl. Ziff. 7 ff.).  

     

    Praxishinweis: Das Beschlussverfahren ist außerdem nur zulässig, wenn der Betroffene auf die beabsichtigte Verfahrensweise zuvor hingewiesen worden ist (§ 72 Abs. 1 S. 2 OWiG; vgl. Ziff. 4 ff.). Der Hinweis ist nach § 72 Abs. 1 S. 3 OWiG allerdings entbehrlich, wenn der Amtsrichter den Betroffenen frei sprechen will. Nach § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 OWiG hat der Hinweis verjährungsunterbrechende Wirkung.  

    Wer ist widerspruchsberechtigt?  

    Widerspruchsberechtigt sind:  

    • Staatsanwaltschaft,
    • Betroffener/Verteidiger,
    • gesetzlicher Vertreter des Betroffenen,
    • Erziehungsberechtigter des Betroffenen.

    Wer hat Vorrang, wenn Betroffener und Verteidiger sich nicht einigen können?  

    Der Widerspruch bzw. die Meinung des Betroffenen geht vor (BayObLG VRS 68, 469).  

    Wie muss der Hinweis auf die beabsichtigte Entscheidung im Beschlussverfahren gestaltet sein?  

    Aus dem Hinweis an die Widerspruchsberechtigten muss sich eindeutig ergeben, dass ohne mündliche Hauptverhandlung im schriftlichen Verfahren entschieden werden soll. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Möglichkeit des Widerspruchs besteht, der innerhalb einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Hinweises erklärt werden muss.  

     

    Praxishinweis: Der Hinweis muss (dem Betroffenen) nach § 72 Abs. 1 S. 2 OWiG förmlich zugestellt werden (Göhler, a.a.O., § 72 Rn. 41; Krumm, a.a.O., Rn. 366). Ist der Hinweis nicht zugestellt worden, hat der Betroffene die Möglichkeit der Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 OWiG (vgl. dazu Checkliste 3).  

    Kann eine kürzere Widerspruchsfrist bestimmt werden?  

    Nein, eine kürzere Frist ist unwirksam und gestattet nicht, vorzeitig durch Beschluss zu entscheiden.  

    Reicht ggf. der  

    Hinweis an den  

    Verteidiger aus?  

    Ja. Aus dem ausdrücklichen Verweis in § 72 Abs. 1 S. 2 letzter HS OWiG auf § 145a Abs. 1, 3 StPO folgt jedoch, dass sich dann eine schriftliche Vollmacht des Verteidigers bei den Akten befinden muss (vgl. dazu Stephan in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2. Aufl., 2008, Rn. 2785; OLG Zweibrücken VA 08, 118).  

    Ist der Hinweis in Sonderfällen ggf. entbehrlich?  

    Ja, auf den Hinweis kann z.B. verzichtet werden, wenn der Betroffene selbst das Beschlussverfahren angeregt oder bei Einlegung des Einspruchs erklärt hat, dem Beschlussverfahren werde nicht widersprochen (Göhler, a.a.O., § 72 Rn. 32; OLG Hamm NZV 93, 324).  

    Ist der Widerspruch gegen das Beschlussverfahren formbedürftig?  

    Nein, der Widerspruch bedarf keiner besonderen Form (OLG Koblenz NStZ 91, 191). Das bedeutet: Der Widerspruch kann auch durch schlüssiges Verhalten erklärt werden.  

     

    Praxishinweis: Als Faustregel muss sich der Verteidiger merken, dass ein Widerspruch gegen das Beschlussverfahren in jeder Äußerung des Betroffenen gesehen werden kann, aus der hervorgeht, dass er mit einer richterlichen Entscheidung allein aufgrund des Akteninhalts nicht einverstanden ist, sondern eine weitere Klärung des Tathergangs wünscht (OLG Hamm VA 01, 174; PA 04, 86; OLG Jena VRS 109, 123; OLG Koblenz, a.a.O.).  

    Rechtsprechung zu „konkludenten“ Widersprüchen  

    Widerspruch bejaht (vgl. auch Krumm, a.a.O., Rn. 371 ff.):  

    • Bestreiten des dem Bußgeldbescheid zugrundeliegenden Sachverhalts im gerichtlichen Verfahren (OLG Hamm VRS 58, 46),
    • Fristverlängerungsantrag durch Verteidiger (Lemke/Mosbacher, Ordnungswidrigkeitenrecht, 2. Aufl., § 72 Rn. 15),
    • Antrag auf Ladung eines Sachverständigen (BayObLG DAR 72, 197, 209 bei Rüth),
    • Verlangen einer mündlichen Verhandlung (BayObLG DAR 76, 169, 179) oder einer ergänzenden Beweisaufnahme (OLG Hamm JR 72, 208),
    • Ankündigung einer schriftlichen Stellungnahme zur beabsichtigten Entscheidung im Verfahren nach § 72 OWiG (Göhler, a.a.O., § 72 Rn. 40),
    • Einverständnis mit der Entscheidung im Beschlussweg nur für den Fall einer bestimmten Entscheidung (OLG Zweibrücken VA 08, 118).

     

    Praxishinweis: Erklären der Betroffene bzw. sein Verteidiger, dass sie mit dem Beschlussverfahren nur unter einer bestimmten Bedingung einverstanden sind, also dass z.B. kein Fahrverbot verhängt wird, kann nur nach § 72 OWiG entschieden werden, wenn sich das Gericht an die Bedingung hält.  

     

    Als nicht ausreichend sind hingegen angesehen worden,  

    • das bloße Bestreiten des Tatvorwurfs im Ermittlungsverfahren (BayObLG DAR 85, 233, 248 bei Rüth),
    • das Äußern einer anderen Rechtsauffassung als der, die dem Bußgeldbescheid zugrunde liegt (Göhler, a.a.O., § 72 Rn. 17 m.w.N.),
    • ein Terminsverlegungsantrag (KG JR 70, 430),
    • ein Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme (BayObLG DAR 1974, 169, 187 bei Rüth).

    Welche Möglichkeiten hat der Betroffene, wenn sein Widerspruch nicht fristgerecht erhoben ist bzw. zu spät beim AG eingeht?  

    Nach § 72 Abs. 2 S. 1 ist der verspätete Widerspruch unbeachtlich. Das AG kann dann im Beschlussverfahren entscheiden. Der Betroffene hat aber gem. § 72 Abs. 2 S. 2 OWiG die Möglichkeit, gegen den ergehenden Beschluss innerhalb von einer Woche nach Zustellung des Beschlusses Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen.  

     

    Praxishinweis: Der Wiedereinsetzungsantrag muss nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 45 Abs. 1 StPO beim AG gestellt werden. Der Verteidiger sollte in diesen Fällen unbedingt auch die Rechtsbeschwerde erheben. Wird dem Wiedereinsetzungsantrag stattgegeben, ist die Rechtsbeschwerde gegenstandslos (§ 79 Abs. 3 S. 2 OWiG i.V.m. § 342 StPO). Er darf aber nicht versäumen, diese auch zu begründen, da die Begründungsfrist während des Wiedereinsetzungsverfahrens weiter läuft.  

    Kann ein Widerspruch zurückgenommen werden?  

    Ja, auch ein bereits erklärter Widerspruch kann zurückgenommen werden. Damit ist der Weg ins Beschlussverfahren eröffnet.  

    Kann der Amtsrichter im Beschlussverfahren weitere Ermittlungen durchführen?  

    Ja, das ist zulässig. Insoweit gilt § 71 Abs. 2 OWiG.  

     

    Praxishinweis: Das Ergebnis dieser Ermittlungen darf aber nur zulasten des Betroffenen verwendet werden, wenn ihm rechtliches Gehör gewährt worden ist (Göhler, a.a.O., § 72 Rn. 4, 47 ff.).  

    Welche Entscheidungen können im Beschlussverfahren ergehen?  

    Die Beschlussentscheidung kann - wie das Urteil - den Betroffenen verurteilen oder freisprechen. Möglich ist auch die Einstellung des Verfahrens. Es ist darauf zu achten, dass die Einstellung des Verfahrens nach § 47 OWiG nicht unter § 72 OWiG fällt (OLG Dresden NZV 06, 447).  

    Wie muss der Beschluss begründet werden?  

    Die Anforderungen an die Begründung des Beschlusses ergeben sich aus § 72 Abs. 4, 5 OWiG.  

    Welche Rechtswirkungen hat die Beschlussentscheidung?  

    Der Beschluss führt wie ein Urteil zum Strafklageverbrauch. Zudem tritt nach § 32 Abs. 2 OWiG das Ruhen der Verjährung ein.