01.05.2005 | Unfallschadensregulierung
BGH zum Linksabbiegen bei Sichthindernissen
1. Kann derjenige, der bei Dämmerung von einer gut ausgeleuchteten innerörtlichen Straße nach links abbiegen will, wegen vorhandener Sichthindernisse die Gegenfahrbahn nicht einsehen, so muss er sich in diese hineintasten. Er darf nicht darauf vertrauen, dass ihm nur beleuchtete Fahrzeuge entgegen kommen, die wegen ihrer Beleuchtung durch die Sichthindernisse (hier: Pflanzenbewuchs) hindurch erkannt werden können. |
2. Die Betriebsgefahr eines Kfz, das nach links abbiegt, ist gegenüber derjenigen eines unter normalen Umständen geradeaus fahrenden Fahrzeugs erhöht. Bestehen für den Linksabbieger erschwerte Sichtverhältnisse auf den Gegenverkehr, führt dies zu einer weiteren Erhöhung der Betriebsgefahr. |
(BGH 11.1.05, VI ZR 352/03, Abruf-Nr. 050727) |
Sachverhalt
Am 28.6.99 um 22.31 Uhr ereignete sich innerorts ein Unfall, bei dem der klagende Motorrad-Fahrer mit einem Polizeifahrzeug des beklagten Landes kollidierte. Die Parteien streiten über die beiderseitige Verantwortlichkeit für den Unfall. Unstreitig war der Kläger Geradeausfahrer, während das Polizeifahrzeug an einer Einmündung nach links abbog. Nach den Feststellungen des OLG war das Krad des Klägers vorn unbeleuchtet. Seine Ausgangsgeschwindigkeit betrug bei zulässigen 50 km/h mindestens 67 km/h. Die Straße war im Einmündungsbereich durch einen Mittelstreifen getrennt. Bis zu 1,40 m hohes Gras behinderte die Sicht in die Richtung, aus der der Kläger kam. LG und OLG haben einen Anspruch auf Schmerzensgeld wegen nicht nachweisbaren Verschuldens des Polizeibeamten verneint. Für den materiellen Schaden des Klägers hat das OLG eine Haftung des beklagten Landes zu einem Drittel angenommen. Die Revision des Klägers führte zur Urteilsaufhebung, während die Anschlussrevision des Landes zurückgewiesen wurde.
Entscheidungsgründe
Nach Meinung des BGH ist der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch (§ 847 BGB a.F.) zu Unrecht verneint worden. Der Ansicht des Berufungsgerichts, ein Kraftfahrer, der bei Dämmerung nach links abbiegen wolle, dürfe darauf vertrauen, dass sich aus der Gegenrichtung nur beleuchtete Fahrzeuge nähern, könne weder in dieser Allgemeinheit noch für den konkreten Fall gefolgt werden. Dies um so weniger, als dem Fahrer des Polizeifahrzeugs ein Linksabbiegerverschulden zur Last falle. Trotz der Sichthindernisse habe er sich nicht in die Gegenfahrbahn hineingetastet. Bei der Abwägung der Haftungsanteile sei zu Lasten des Landes ferner zu berücksichtigen, dass die Betriebsgefahr des Polizeiwagens auch durch objektive Umstände erhöht sei, nämlich einmal wegen des gefahrenträchtigen Abbiegens nach links, zum anderen durch die erschwerten Sichtverhältnisse auf den Gegenverkehr.
Praxishinweis
Die Entscheidung betrifft zwar einen „Altfall“. Doch auch für Fälle aus der Zeit nach dem 31.7.02 ist sie in vielfacher Hinsicht von Interesse. Was im 2. Leitsatz zur Haftungsabwägung gesagt wird, ist keineswegs Allgemeingut. Lesenswert sind auch die Ausführungen zur Wartepflicht des Linksabbiegers bei Tag und in der Dämmerung, zum Vertrauensgrundsatz und zum Anscheinsbeweis beim Fahren ohne Licht. Kurzum: Pflichtlektüre.
Möchten Sie diesen Fachbeitrag lesen?
Kostenloses VA Probeabo
0,00 €*
- Zugriff auf die neuesten Fachbeiträge und das komplette Archiv
- Viele Arbeitshilfen, Checklisten und Sonderausgaben als Download
- Nach dem Test jederzeit zum Monatsende kündbar
* Danach ab 16,70 € / Monat