01.12.2005 | Unfallschadensregulierung
Schadensersatz bei psychischen Schäden
Nach Rückenproblemen sind psychische Störungen mittlerweile der zweithäufigste Grund für Krankschreibungen, Tendenz steigend. Nach einem Verkehrsunfall kommt oft alles zusammen: HWS-Verletzung, psychische Störung und Verdienstausfall. Bei dieser Kumulation von Nachweis-, Kausalitäts- und Zurechnungsproblemen ist der höchste Schwierigkeitsgrad schnell erreicht, nicht zuletzt wegen der psychischen Aspekte des Schadenfalles. Der folgende Beitrag fasst die wichtigsten Punkte zusammen.
Übersicht „Grundkonstellationen“ |
Schadenstypologisch sind folgende Konstellationen zu unterscheiden:
1. Psychischer Primärschaden: Ohne (feststellbare) körperliche Verletzung kommt es unmittelbar durch einen Unfall zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Form eines Schockschadens oder eines anderen psychischen Traumas.
Beispiel: Die Mutter sieht, wie ihr Kind überfahren wird. Ein Arzt bescheinigt eine „schwere reaktive Depression“ mit fortdauernder Arbeitsunfähigkeit.
Hauptprobleme: Hat die psychische Reaktion Krankheitswert oder hat sich nur das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht? Bei Annahme einer rechtlich relevanten Gesundheitsschädigung: Ist Unfallkausalität zu bejahen? Wenn ja, wie ist das Schmerzensgeld zu bemessen? Zurechnung von Mitverschulden des eigentlichen Unfallopfers? Mitverschulden wegen unterlassener psychotherapeutischer Behandlung?
2. Psychischer Folgeschaden: Eine unfallbedingte Verletzung des Körpers oder der Gesundheit führt – allein oder in Verbindung mit anderen Faktoren – zu einer psychischen Störung des Betroffenen.
Beispiel: Auffahrunfall mit leichtem HWS-Schleudertrauma; nach 3 Wochen ist der Verletzte wieder arbeitsfähig, dann erneute Krankschreibung wegen „posttraumatischer Anpassungsstörung“.
Hauptprobleme: Nachweis der psychischen Störung, ursächlicher Zusammenhang mit dem Unfall; Wegfall des haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhangs; Bemessung von Schmerzensgeld und Erwerbsschaden; Mitverschulden wegen Behandlungsversäumnissen?
3. Psychischer „Vorschaden“: Bei einem Viertel aller Verletzten, die nach einem Unfall eine seelische Störung geltend machen, hat laut Statistik eine seelische Erkrankung vorbestanden. Sonderfall: psychischer „Vorschaden“ durch früheren Unfall.
Beispiel: Betroffener litt vor dem Unfall an Depressionen.
Hauptprobleme: Einfluss auf die Haftung unter Kausalitätsgesichtspunkten; Abschläge beim Schmerzensgeld und beim Erwerbsschaden?
4. Entwicklung körperlicher Leiden aus psychischen Gründen: Nach psychischem Primärschaden (Punkt 1) und/oder infolge psychischer Folgewirkungen (Punkt 2) kommt es zu körperlichen Krankheitssymptomen. Sonderfall „Konversionsneurose“.
Beispiel: Psychische Fehlverarbeitung des Unfalls führt zu Lähmungserscheinungen an Armen und Beinen.
Hauptprobleme: Nachweis-, Kausalitäts- und Zurechnungsfragen. |
ABC der psychologischen/psychiatrischen Grundbegriffe |
Aggravation: bewusst intendierte, verschlimmernde Darstellung einer vorhandenen Störung.
Aktualneurose (veraltet): Von einer Aktualneurose sprechen vorwiegend Juristen, wenn die Neurose unmittelbar (aktuell) durch das Unfallereignis ausgelöst wurde.
Begehrensneurose: Bei der Begehrensneurose (= Rentenneurose) wird der Unfall im neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass genommen, den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen (so BGH NJW 04, 1945). In der Psychologie werden Begehrenshaltungen mit anderer Terminologie diskutiert. Zur auch haftungsrechtlich schwierigen Abgrenzung der Begehrensneurose gegen die Konversionsneurose sieheG. Müller, VersR 98, 129, 133; 03, 137 ff.
Depressive Störungen: Störungsbilder mit Symptomen wie traurige Verstimmung, Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Kopf- und Herzschmerzen, Isolationsneigung, Leistungsabfall (ICD-10 F 34.1 und ICD-10 F 32, 33*).
Konversionsneurose: Fall der psychischen Fehlverarbeitung eines Unfallgeschehens, heute meist „Konversionsstörung“ genannt. Konversion bedeutet eine Umwandlung eines verdrängten seelischen Konfliktes in ein körperliches Symptom (BGH NJW 86, 777; abw. G. Müller VersR 98, 133). Siehe G. Müller auch zur haftungsrechtlich schwierigen Abgrenzung gegen die Begehrensneurose in VersR 98, 129, 133; 03, 137 ff.
Neurose: Veralteter Sammelbegriff für eine Vielzahl psychischer Störungen mit unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ursachen. In der modernen Diagnostik richtet man sich nach den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM IV. Näheres unter http://leitlinien.net
Posttraumatische Belastungsstörung (PTSB oder PTSD): Die 10. Auflage der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) hat eine spezielle Kategorie der „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F 43)“ gebildet. Die PTBS (F 43.1) kann Folge eines seelischen Erstschadens sein, aber auch nach einer „echten“ Körperverletzung auftreten, z.B. einer HWS-Verletzung (vgl. OLG Koblenz NJW-RR 04, 1318).
Psychische Fehlverarbeitung: Folgewirkung eines Unfallgeschehens, z.B. in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1) oder Anpassungsstörung (ICD-10 F 43.2) oder einer Begehrensneurose.
Rentenneurose (veraltet): siehe Begehrensneurose.
Schock (psychologisch): starke seelische Erschütterung; zum Begriff BGH NJW 71, 1883.
Simulation: bewusste Vortäuschung einer krankhaften Störung; häufig vermutet, aber selten nachweisbar.
Somatoforme Störungen: Hauptkategorie für verschiedene Formen von Störungen (ICD-10 F 45); entwickeln sich häufig nach objektiv inadäquaten Traumen wie z.B. leichteren Auffahrunfällen.
Somatisierungsstörung (SD): Fall einer somatoformen Störung (ICD-10 F 45.0); früher häufig als „allgemeines psychosomatisches Syndrom“ bezeichnet. |
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