01.02.2005 | Unfallschadensregulierung
Unfälle bei Eis und Schnee in der aktuellen Rechtsprechung
Sind Winterreifen derzeit ein Muss? Wer haftet bei „Blitzeis“? Und was versteht man unter „Vorstreuen“ in Abgrenzung zum „Nachstreuen“? Antworten darauf und auf weitere Haftungsfragen der Wintersaison im Spannungsfeld zwischen „Vollkasko-Mentalität“ und leeren Kassen der öffentlichen Hände geben die folgenden Checklisten und Fallübersichten.
Checkliste „Basiswissen kompakt“ |
1. Anspruchsgrundlagen: Ohne vertragliche/vertragsähnliche Beziehung, z.B. Mietvertrag (vgl. OLG Frankfurt NJW-RR 04, 312), richtet sich die Haftung bei Beteiligung von Kfz nach §§ 7, 18 StVG, ansonsten nach Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB) einschließlich § 839 BGB i.V.m Art. 34 GG, wobei das Verweisungsprivileg ausgeschlossen ist. Schutzgesetze iSd § 823 Abs. 2 BGB sind die Ortssatzungen der Gemeinden (OLG Celle VersR 98, 604). Zum Ganzen Rinne, NJW 96, 3303; Geigel/Wellner, 24. Aufl., Kap.14 Rn. 132 ff.; Kärger, DAR 03, 5, 8 ff.
2. Pflichtengrundlage öffentliche Hand: Hier wurzelt die Pflicht, Straßen und Wege bei Eis und Schnee zu räumen und zu bestreuen, einerseits in der Pflicht zur „polizeimäßigen“ Reinigungals originär öffentlich-rechtlicher Amtspflicht, andererseits in der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht (st. Rspr., BGH VA 04, 39, Abruf-Nr. 032437 = NJW 03, 3622). Letztere ist keine originäre Amtspflicht iSd § 839 BGB, aber in fast allen Bundesländern landesrechtlich durchweg als hoheitliche Aufgabe ausgestaltet (gute Übersicht bei Geigel/Wellner, 24. Aufl., Kap. 14, Rn. 134 ff.). Eine Ausnahme macht Hessen (vgl. OLG Frankfurt DAR 04, 701). Nur im Fall der Hoheitsaufgabe, also im Regelfall, greift § 839 BGB iVm Art. 34 GG ein, im Übrigen § 823 BGB.
3. Pflichtengrundlage Privatpersonen: Eine originäre Räum- und Streupflicht in Bezug auf öffentliche Straßen und Wege einschließlich Bürgersteige besteht im Allgemeinen nicht. Anders bei (Mit)Verursachung von Glätte. Originär räumungs- und streupflichtig ist ein Grundstückseigentümer nur für die Zuwege zu seinem Grundstück und die dortigen (Privat)Flächen (vgl. OLG Frankfurt NJW-RR 04, 312), nicht für die öffentlichen Gehwege entlang seines Grundstücks. Insoweit haftet er aber regelmäßig kraft Delegation als Übernehmer kommunaler Räum- und Streupflichten, und zwar entweder aus § 823 Abs.1 und/oder aus § 823 Abs. 2 BGB iVm der jeweiligen Ortssatzung als Schutzgesetz; zur Abwälzung s. Punkt 4.
4. Pflichtenübertragung: Gemeinden dürfen ihre Räum- und Streupflicht bzgl. Gehwege durch Ortsstatut (z.B. Straßenreinigungssatzung) auf die Eigentümer der angrenzenden Grundstücke übertragen (OLG Celle NZV 04, 643). Die Abwälzung setzt eine klare, inhaltlich bestimmte Satzungsregelung voraus. Die Anlieger müssen wissen, wer wann wo und wie zu streuen bzw. zu räumen hat (vgl. OLG Frankfurt 19.11.03, 1 U 62/03, Abruf-Nr. 050054). Problematisch sind Anlieger- und Stichstraßen (OLG Hamm NZV 04, 645; OLG Frankfurt a.a.O.). Die ihnen wirksam übertragenen Pflichten können die Eigentümer/Besitzer auf ihre Mieter oder Dritte delegieren (st. Rspr., OLG Celle VersR 98, 604). Ebenso wie der primär delegierenden Gemeinde verbleibt ihnen eine Kontroll- und Überwachungspflicht (für die Gemeinde s. BGH VersR 66, 1078, für Anlieger s. OLG Celle VersR 98, 604).
5. Passivlegitimation/Gerichtszuständigkeit: Adressat des Ersatzanspruchs und damit passivlegitimiert ist grds. der Träger der Sicherungspflicht. Angesichts der unterschiedlichen, sich teilweise überschneidenden Pflichtenkreise einerseits und regionaler Besonderheiten andererseits muss – nach genauer Klärung und Zuordnung des Unfallortes – besonders sorgfältig geprüft werden, wer vor welchem Gericht zu verklagen ist. Bei Amtshaftungsansprüchen ist § 71 GVG zu beachten.
6. Inhalt und Umfang der Räum- und Streupflicht der öffentlichen Hand: Es entscheiden stets die Umstände des Einzelfalls (st. Rspr., BGH VA 04, 39, Abruf-Nr. 032437 = NJW 03, 3622). Art und Wichtigkeit des Verkehrsweges sind ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeitund die Stärke des zu erwartenden Verkehrs (BGH VA 04, 39 = NJW 03, 3622). Die Räum- und Streupflicht steht ferner unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (BGH VA 04, 39 = NJW 03, 3622). Eine umfassende (uneingeschränkte) Räum- und Streupflicht der öffentlichen Hand besteht demnach weder für Fahrbahnen noch für Geh- und Radwege.
7. Inhalt und Umfang der Räum- und Streupflicht von Anliegern/Mietern: Bei durch Ortsstatut delegierter Pflicht konkretisieren die einschlägigen Vorschriften, was zu tun und zu lassen ist. Besonders wichtig sind die zeitlichen Vorgaben.
8. Kein Anscheinsbeweis zu Lasten des Räum- und Streupflichtigen: Ein Glatteisunfall begründet keinen Anschein für eine Verletzung der Räum- und Streupflicht (OLG Celle NJW-RR 03, 1536; OLG Celle 25.8.04, 9 U 109/04, Abruf-Nr. 050055). Ein Glatteisunfall, der sich innerhalb der durch Satzung oder anderweitig festgelegten zeitlichen Grenzen der Streupflicht (werktags meist 7 bis 20 Uhr) ereignet hat, ist jedoch grds. ein Indiz für eine Verletzung der Streupflicht (OLG Celle NJW-RR 03, 1536). Keine indizielle Wirkung hat ein Unfall für eine Verletzung der Pflicht zum erneuten Streuen (Nachstreupflicht), vgl. OLG Celle NJW-RR 03, 1536 mit Ausführungen zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast (dazu auch OLG Celle NZV 04, 643).
9. Anscheinsbeweis für die Kausalität einer feststehenden Pflichtverletzung: Bei Glatteisunfällen spricht ein Anschein dafür, dass der Sturz und die Unfallverletzungen bei Beachtung der Streupflicht vermieden worden wären, wenn der Unfall innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht stattgefunden hat (BGH NJW 84, 432; OLG Celle NZV 04, 643; OLG Celle NJW-RR 03, 1536). Bei einem Unfall längere Zeit nach Ende der Streupflicht greift der Kausalitäts-Anscheinsbeweis nicht ein (BGH NJW 84, 432 – Unfall ca. 1 Std. nach Streupflichtende).
10. Entkräftung des Anscheinsbeweises für die Unfallkausalität: Der Pflichtige kann den Anscheinsbeweis dadurch entkräften, dass er eine Situation zum Unfallzeitpunkt beweist, in der ein Streuen zwecklos erscheinen durfte, so OLG Celle NZV 04, 643 (gefrierender Regen).
11. Anscheinsbeweis zu Lasten des Kraftfahrers: Bevor von einem typischen Geschehensablauf als Grundlage eines Anscheinsbeweises für ein Fahrerverschulden ausgegangen werden kann, muss bei einem Glatteisunfall die rechtzeitige Vorhersehbarkeit der Glätte feststehen (OLG Düsseldorf VA 03, 22, Abruf-Nr. 030005 – BAB-Unfall bei „Blitzeis“).
12. Mithaftung/Mitverschulden: Anzurechnen sind: die Betriebsgefahr des verunglückten Fahrzeugs (OLG Frankfurt DAR 04, 701), eventuell gesteigert durch Unaufmerksamkeit und/oder zu schnelles Fahren (OLG Nürnberg NZV 04, 641; Brand. OLG 22.6.04, 2 U 36/03, Abruf-Nr. 050056 – jeweils 50 : 50); bei einem Fußgänger die Kenntnis vom dauerhaften Unterlassen der Winterwartung (OLG Hamm NZV 04, 645), auch das Begehen eines erkennbar glatten und nicht abgestreuten Parkplatzes (OLG Hamm NZV 04, 646; s. auch OLG Hamm DAR 98, 142).
13. Kaskoversicherung: Wer mit Sommerreifen in den Winterurlaub (z.B. Schweiz) fährt, kann grob fahrlässig handeln, selbst wenn er hinten Schneeketten montiert hat (OLG Frankfurt/M. 10.7.03, 3 U 186/02, Abruf-Nr. 050057). Die StVZO schreibt die Benutzung von Winterreifen nicht vor (informativ und mit Auslandsübersicht Kärger, DAR 04, 670). |
Fallgruppe: Unfälle auf öffentlichen Straßen und Plätzen | ||||||||||||||||||||||||
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