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  • 15.02.2012 · IWW-Abrufnummer 120312

    Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen: Beschluss vom 24.10.2011 – 16 A 1571/10

    Nach dem StVG ist der Fahrerlaubnisbehörde untersagt, in einem Entziehungsverfahren zum Nachteil des Fahrerlaubnisinhabers vom Inhalt eines strafgerichtlichen Urteils abzuweichen, soweit es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung der Schuldfrage oder der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Jedoch dürfen im Entziehungsverfahren grundsätzlich auch strafrechtliche Sachverhalte herangezogen werden, die entweder gar nicht zu einer Strafverfolgung geführt haben oder deren strafgerichtliche Aburteilung noch aussteht, sofern nur die Annahme der aus strafbarem Verhalten abzuleitenden Gefahr hier für die Sicherheit des Straßenverkehrs eine ausreichende tatsächliche Grundlage hat.


    OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.10.2011 - 16 A 1571/10
    VG Münster - 11.06.2010
    Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Rechtsmittelverfahren wird abgelehnt.
    Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 11. Juni 2010 wird abgelehnt.
    Der Kläger trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
    Der Streitwert wird auch für das Berufungszulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
    Gründe
    Der Antrag des Klägers, ihm für das Rechtsmittelverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin V. C. aus N. beizuordnen, ist abzulehnen, weil schon der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung wie aus den nachfolgenden Ausführungen hervorgeht keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO).
    Der auf die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils), des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache) und des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) gestützte Zulassungsantrag des Klägers bleibt ohne Erfolg, weil die genannten Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt sind bzw. nicht eingreifen.
    Der Kläger hat zur Darlegung des Zulassungsgrundes ernstlicher Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht, der Beklagte und ihm folgend das Verwaltungsgericht hätten zur Begründung der die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigenden Fahrungeeignetheit des Klägers auf strafrechtliche Verfehlungen zurückgegriffen, die zum einen nicht zu einer Verurteilung, sondern zur Einstellung der damaligen Jugendstrafverfahren geführt hätten, und die zum anderen Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen, in der Berufungsinstanz schwebenden Strafverfahrens seien. Indem diese strafrechtlichen Vorwürfe gleichwohl zu Lasten des Klägers herangezogen worden seien, hätten der Beklagte und das Verwaltungsgericht die auch im Recht der präventiven Gefahrenabwehr garantierte Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) ignoriert; nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung seien bei der Auslegung und Anwendung der bestehenden Gesetze die Wertentscheidungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen. Dieses Vorbringen lässt außer Acht, dass schon das hier anzuwendende Fachrecht eine differenzierende Regelung über die Heranziehung strafrechtlich zu würdigender Sachverhalte im fahrerlaubnisrechtlichen Verfahren getroffen hat. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG darf die Fahrerlaubnisbehörde im Entziehungsverfahren einen Sachverhalt, der Gegenstand eines Strafverfahrens ist, nicht berücksichtigen, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 des Strafgesetzbuchs in Betracht kommt. § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG untersagt es der Fahrerlaubnisbehörde, in einem Entziehungsverfahren zum Nachteil des Fahrerlaubnisinhabers vom Inhalt eines strafgerichtlichen Urteils abzuweichen, soweit es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung der Schuldfrage oder der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Diesen Regelungen kann im Umkehrschluss entnommen werden, dass im Entziehungsverfahren grundsätzlich auch strafrechtliche Sachverhalte herangezogen werden dürfen, die entweder gar nicht zu einer Strafverfolgung geführt haben oder deren strafgerichtliche Aburteilung noch aussteht, sofern nur die Annahme der aus strafbarem Verhalten abzuleitenden Gefahr hier für die Sicherheit des Straßenverkehrs eine ausreichende tatsächliche Grundlage hat. Der Kläger hat vor diesem Hintergrund weder dargelegt, dass die genannten Bestimmungen etwa weil in dem noch anhängigen Strafverfahren eine strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB in Betracht käme eine Berücksichtigung der in Rede stehenden (mutmaßlichen) Straftaten ausschließen, noch dass diese Bestimmungen verfassungs bzw. völkerrechtlichen Zweifeln ausgesetzt seien. Soweit der Kläger aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (19359/04) zur Rechtmäßigkeit der nachträglichen Festsetzung einer unbefristeten Sicherungsverwahrung Folgerungen für die Frage ziehen möchte, ob auch (noch) nicht abschließend strafgerichtlich abgeurteilte Sachverhalte in eine präventive Gefahrenprognose einfließen können, vermag das nicht zu überzeugen. Indem der Kläger die Überlegung in den Mittelpunkt rückt, die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention fänden nach der genannten Entscheidung über das Strafrecht hinaus auch im Recht der Gefahrenabwehr Anwendung, sofern die Maßnahme sanktionierende Wirkung entfalte und im Zusammenhang mit einer Straftat stehe, ermöglicht das keinen Rückschluss auf den vorliegenden Fall der Fahrerlaubnisentziehung. Keines der Kriterien, die nach Auffassung des EGMR den Strafcharakter oder jedenfalls den strafähnlichen Charakter der nachträglichen Sicherungsverwahrung ausmachen insbesondere die äußerliche Übereinstimmung zwischen der "eigentlichen" Strafhaft und der Sicherungsverwahrung kann auf die stets nur zu präventiven Zwecken angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis übertragen werden.
    Die Darlegungen des Klägers zum Vorliegen einer Grundsatzbedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen schon deshalb neben der Sache, weil die insoweit maßgeblichen Bestimmungen (d.h. die §§ 2 Abs. 4 Satz 1 und 3 Abs. 1 Satz 1 StVG bzw. die §§ 11 Abs. 1 Satz 3 und 46 Abs. 1 Satz 1 FeV) nicht erst in der jüngeren Vergangenheit geändert worden sind und diese Bestimmungen bzw. ähnlich lautende Vorläuferbestimmungen (etwa § 4 Abs. 1 StVG in der bis zum 31. Dezember 1993 geltenden Fassung bzw. § 3 Abs. 1 Satz 2 StVZO in der bis zum 30. Juni 1988 geltenden Fassung) wiederholt Gegenstand auch höchstrichterlicher Rechtsprechung gewesen sind.
    Vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 13. Januar 1961 VII C 233.59, BVerwGE 11, 334, VII C 29.59, VRS 20 (1961), 392, und VII C 97.60, VRS 20 (1961), 391, sowie die Nachweise bei Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 41. Aufl. 2011, § 2 StVG Rn. 15.
    Die in jüngerer Vergangenheit erfolgte Änderung des § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV insbesondere die Einfügung der Nrn. 6 und 7 betrifft demgegenüber die Befugnis der Fahrerlaubnisbehörde, wegen Straftaten, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen, die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) anzuordnen. Durch diese neuen Bestimmungen hat der Verordnungsgeber Präzisierungen vorgenommen, die nicht nur die Zulässigkeit der Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung, sondern auch die Grenzziehung zwischen Fällen mit Untersuchungsbedarf und solchen Fällen betreffen, in denen wegen - zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde feststehender Fahrungeeignetheit keine Untersuchung mehr erforderlich ist (§ 11 Abs. 7 FeV). Warum diese Konkretisierung neuen bzw. zusätzlichen Klärungsbedarf hervorrufen soll, ist vom Kläger nicht dargelegt worden. Ebensowenig zeigt er Klärungsbedarf hinsichtlich des "Stufenverhältnisses zwischen § 11 Abs. 3 und Abs. 7 FeV " auf.
    Außerdem hat eine Rechtsfrage im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie über den Einzelfall hinaus das heißt aber auch: im jeweiligen Einzelfall selbst einen Klärungsbedarf aufwirft; die Klärung allgemeiner Rechtsfragen, die sich im konkreten Fall gar nicht stellen, soll mit der Grundsatzberufung hingegen nicht ermöglicht werden. Daher wäre vom Kläger darzulegen gewesen, inwieweit eine Auslegung der oben genannten Vorschriften über die charakterliche Fahreignung bzw. über die Rechtsfolgen beim Fehlen dieser Eignung in Betracht kommt, die trotz der Vielzahl und Schwere der dem Kläger zur Last zu legenden Gewaltdelikte in seinem Fall zu deren Unanwendbarkeit führen könnte; daran fehlt es jedoch.
    Aus dem zuletzt genannten Grund ist auch nicht dargelegt, dass bezogen auf die konkrete Rechtssache des Klägers besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO bestehen.
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 47 Abs. 1 und 3 sowie 52 Abs. 1 und 2 GKG.
    Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

    RechtsgebieteEMRK, VwGO, StVGVorschriftenArt. 6 Abs. 2 EMRK; § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; § 3 Abs. 4 S. 1 StVG