24.11.2021 · IWW-Abrufnummer 226014
Bayerisches Oberstes Landgericht: Beschluss vom 30.09.2021 – 201 ObOWi 1165/21
Zwar unterbricht im Bußgeldverfahren die Anordnung der Vernehmung des Betroffenen nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG die Verjährung auch dann, wenn sie nicht erfolgreich vollzogen werden kann. Dies gilt jedoch nicht für die Anordnung einer Anhörung, die nicht durchgeführt werden soll. Ein solcher Fall liegt vor, wenn die Anordnung einer Vernehmung den Zusatz „Anhörung angeordnet ohne Versand“ enthält, der polizeiliche Sachbearbeiter zeitgleich ein Lichtbild des Betroffenen bei der Verwaltungsbehörde des Wohnsitzes anfordert und erst nach dessen Eingang und Durchführung der Identifizierung des Betroffenen als Fahrzeugführer der Versand des schriftlichen Anhörungsbogens an diesen angeordnet wird.
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteildes Amtsgerichts vom 10.05.2021 aufgehoben.
II. Das Verfahren wird eingestellt.
III. Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenenerwachsenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe
I.
DasAmtsgericht hat den Betroffenen am 10.05.2021 wegen fahrlässigenNichteinhaltens des erforderlichen Abstands zu einem vorausfahrenden Pkwentsprechend dem Bußgeldbescheid vom 07.12.2020 zu einer Geldbuße von 360 Euroverurteilt sowie ein mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2aStVG verbundenes Fahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet. Mit seinergegen das Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene dieVerletzung materiellen Rechts und macht insbesondere den Eintritt derVerfolgungsverjährung geltend. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mitStellungnahme vom 31.08.2021 beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenengegen das Urteil des Amtsgerichts vom 10.05.2021 als unbegründetkostenpflichtig zu verwerfen. Hierzu hat sich die Verteidigungmit Gegenerklärung vom 28.09.2021 geäußert.
II.
Die gemäߧ 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 OWiG statthafte undauch sonst zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Einstellung des Verfahrens, daVerfolgungsverjährung eingetreten ist und damit ein von Amts wegen zubeachtendes Verfahrenshindernis vorliegt.
1. FolgenderVerfahrensablauf liegt zugrunde:
Der demBetroffenen zur Last liegende Verkehrsverstoß wurde am 31.07.2020 begangen. DieErmittlungen der Polizeibehörde ergaben, dassHalterin des Fahrzeugs eine GmbH in S. ist. Unter dem 31.08.2020 wurde dasPolizeirevier X. ersucht, den verantwortlichen Fahrzeugführerfestzustellen und anzuhören. Ausweislich des erholten Handelsregisterauszugswird die GmbH durch zwei Geschäftsführer vertreten, einer davon ist derBetroffene. Der vom Polizeirevier X. befragte Geschäftsführer gab denBetroffenen als Verantwortlichen für den Fuhrpark an. Der Betroffene erklärteunter dem 26.10.2020 dem Polizeirevier, dass sich nicht eindeutig klären ließe,wer der Fahrer des Fahrzeugs war, da sich mehrere Personen im Auto befundenhätten und die genauen Fahrzeiten nicht dokumentiert wurden. Es könne sich umeinen Mitarbeiter des Standorts in Polen handeln. Das Polizeirevier X. teiltedeshalb mit Schreiben vom 26.10.2020 der Polizeibehörde in Bayern mit, dass derverantwortliche Fahrzeugführer nicht ermittelt werden konnte. Diese Polizeibehördeermittelte daraufhin, dass der beim Verkehrsverstoß festgestellte Pkw bereitsbei einem Parkverstoß am 09.04.2020 festgestellt worden war und dasVerwarnungsgeld in Höhe von 15 Euro vom Konto des Betroffenen bezahlt wurde.Unter dem 27.10.2020 gab der mit der Bearbeitung beauftragte Beamte einenStempelaufdruck zur Akte mit dem Zusatz „Anhörungo. Versand“. Zeitgleich forderte er bei der Stadt B. ein Lichtbild desBetroffenen an, welches dann am 30.10.2020 bei der Polizeibehörde einging.Unter dem 02.11.2020 verfügte derselbe Sachbearbeiter „Anhörung schriftlich“. In einer auf Aufforderung derGeneralstaatsanwaltschaft erholten Stellungnahme teilte der Sachbearbeiter der Polizeibehördemit, dass aus seiner Sicht ein relativ gutes Lichtbild vorlag, auf dem auchlediglich eine Person im Fahrzeug zu sehen war, und mit demselben Fahrzeug einParkverstoß begangen wurde, für den der Betroffene das Verwarnungsgeldbeglichen hatte; deshalb habe für ihn der Verdacht bestanden, dass derBetroffene Dauernutzer des Tatfahrzeugs ist und bei den Ermittlungen nichtmitwirken wollte. Der Betroffene sei deshalb für ihn mit hoherWahrscheinlichkeit als Fahrer in Betracht gekommen, sodass er zurVerjährungsunterbrechung am 27.10.2020 die Anhörung angeordnet habe. Zusätzlichhabe er das Passbild bei der zuständigen Behörde angefordert. Nach Eingang desLichtbilds habe er den Betroffenen eindeutig als verantwortlichenFahrzeugführer identifizieren können und dann den Versand eines schriftlichenAnhörungsbogens angeordnet. Wenn durch einen Sachbearbeiter vorerst lediglichdie Anhörung eines Betroffenen angeordnet werde, ohne dass automatisiert derVersand des Anhörungsbogens erfolgen soll, generiere das System den Eintrag „Anhörung angeordnet ohne Versand“.
DerBußgeldbescheid wurde daraufhin am 07.12.2020 erlassen und dem Betroffenen am09.12.2020 zugestellt. Die Akten sind nach Einspruchseinlegung am 05.02.2021beim Amtsgericht eingegangen, wo ein Termin zur Hauptverhandlung am 08.02.2021anberaumt wurde. In der Hauptverhandlung vom 10.05.2021 ist das angegriffeneUrteil ergangen.
2. DasVerfahren ist wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen (§ 260 Abs. 3StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG), weil bereits vorUrteilsverkündung Verfolgungsverjährung (§ 31 Abs. 1 Satz 1 OWiG)eingetreten war.
a) Die Frage, obVerfolgungsverjährung eingetreten ist, ist als Verfahrensvoraussetzung bzw. alsVerfahrenshindernis vom Senat im Rahmen der Rechtsbeschwerde von Amts wegeneigenständig unter Benutzung aller verfügbaren Erkenntnisquellen imFreibeweisverfahren zu überprüfen (vgl. Göhler/Seitz/Bauer OWiG 18. Aufl. § 31 Rn. 17, 19).
b) DieVerjährungsfrist betrug für den verfahrensgegenständlichen Verstoß drei Monate(§ 26 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StVG). Sie begann am 31.07.2020,dem Tattag (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), und wurde durch die am27.10.2020 erfolgte Anordnung der Anhörung des Betroffenen nicht gemäß § 33Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG unterbrochen.
aa) Nach§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG wird die Verjährung unterbrochendurch die erste Vernehmung des Betroffenen oder die Anordnung dieserVernehmung. Voraussetzung ist dabei, dass sich die Ermittlungen gegen einenbestimmten namentlich bekannten Betroffenen richten und nicht erst derErmittlung eines noch unbekannten Täters dienen (vgl. Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. § 33 Rn. 6a).Durch diese Regelung hat der Gesetzgeber angeordnet, dass die Verjährung auchdann unterbrochen wird, wenn der Anhörungsbogen dem Betroffenen nicht zugeht.Die Unterbrechungshandlung braucht, um wirksam zu werden, nicht nach außen inErscheinung zu treten oder zur Kenntnis des Betroffenen zu gelangen. Wäre dieUnterbrechungswirkung vom Zugang abhängig, so wäre damit der Lauf derVerjährungsfrist an ein Ereignis geknüpft, das außerhalb der Einwirkung desVerfügenden liegt (BGH, Beschl. v. 09.07.1974 ‒ 1 StR 283/74 bei juris Rn. 7).Die Anordnung der Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens liegt allerdings nurdann vor, wenn ein Ermittlungsorgan den Willen geäußert hat, dass demBetroffenen die Einleitung des Ermittlungsverfahrens mitgeteilt werden soll.Solches wird angenommen, wenn der zuständige Beamte der Verwaltungsbehördeverfügt hat, dass dem Betroffenen ein Anhörungsbogen zugesandt werden soll(BGH, Beschl. v. 22.5.2006 - 5 StR 578/05 = BeckRS 2006, 7750 Rn. 15).Allerdings unterbricht die Anordnung einer Anhörung, die nicht durchgeführtwerden soll, die Verjährung nicht (BeckOK/GertlerOWiG [31. Ed.- Stand: 01.07.2021] § 33 Rn. 38).
bb) Vorliegendfehlt es nach den Gesamtumständen an dem ernsthaften Willen des polizeilichenSachbearbeiters, bereits unter dem 27.10.2020 die Anhörung des Betroffenenanzuordnen. Unter diesem Datum wird zwar einerseits die Anhörung desBetroffenen „ohne Versand“ verfügt,andererseits wird aber zeitgleich ein Lichtbild des Betroffenen bei derVerwaltungsbehörde des Wohnsitzes angefordert. Erst unter dem 02.11.2020 wirdder Versand eines Anhörungsbogens angeordnet. Dies zeigt, dass sich derpolizeiliche Sachbearbeiter am 27.10.2020 offensichtlich unsicher war, ob demhier Betroffenen tatsächlich ein Anhörungsbogen übersandt werden soll. Andersist es nicht zu erklären, warum der Versand an den mit Adresse bekanntenBetroffenen (noch) nicht erfolgen sollte und zeitgleich ein Lichtbildangefordert wurde.
c) Daherist Verjährung am 30.10.2020 eingetreten (vgl. zur Berechnung Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. § 31 Rn. 16) undkonnte weder durch die Anordnung der Übersendung eines Anhörungsbogens am02.11.2020 noch durch den Erlass des Bußgeldbescheides am 07.12.2020 nach § 33Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG unterbrochen werden. Da das Verfahrendemnach bereits vom Amtsgericht gemäß § 206 a StPO i.V.m. § 46Abs. 1 OWiG einzustellen gewesen wäre, holt der Senat unter(klarstellender) Aufhebung des angefochtenen Urteils die gebotene Entscheidungdurch Beschluss nach (§ 79 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 OWiGi.V.m. § 349 Abs. 4 StPO).
3. Außerhalbder Sachprüfung merkt der Senat noch an, dass das angefochtene Urteil - selbstwenn keine Verfolgungsverjährung eingetreten wäre - vorliegend deshalbkeinen Bestand haben könnte, da der Tatrichter unmittelbar im Anschluss an dieHauptverhandlung vom 10.05.2021 die Zustellung einer Abschrift desHauptverhandlungsprotokolls, in welchem sich der Urteilstenor ohne Gründebefand, sowohl an den Betroffenen als auch an den Verteidiger mitRechtsmittelbelehrung verfügt hat und sich damit dafür entschieden hat, dassein Urteil ohne Gründe den inneren Dienstbetrieb verlässt.
Es stellteinen materiell-rechtlichen Mangel dar, der bereits auf die Sachrüge hin zubeachten ist, wenn das für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegerichtmaßgebliche Urteil entgegen § 267 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG keine Gründeenthält (vgl. nur BGH NStZ-RR 1999, 45; KK-StPO/Gericke 8. Aufl. § 338 Rn. 92, jeweils m.w.N.). DieErgänzung durch die erst am 26.05.2021 zu den Akten gelangten schriftlichenUrteilsgründe war unzulässig und damit für das vorliegendeRechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr relevant (vgl. nur OLG Bamberg, Beschl. v.16.12.2008 - 3 Ss OWi 1060/08 und 10.11.2011 - 3 Ss OWi 1444/11, jeweils beijuris; ebenso: OLG Hamm Beschl. v. 20.01.2014 - 1 RBs 8/14 bei juris). DasAmtsgericht war nicht befugt, das nicht mit Gründen versehene Urteil vom10.05.2021 nach der am 20.05.2021 erfolgten Zustellung an den Betroffenen undden Verteidiger abzuändern.
a) Esentspricht gefestigter Rechtsprechung, dass die nachträgliche Ergänzung einesUrteils grundsätzlich nicht zulässig ist - und zwar auch nicht innerhalb derUrteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO -, wenn esbereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts hinausgegeben worden ist(BGHSt 43, 22; 58, 243; OLG Bamberg a.a.O.). Für das Bußgeldverfahren folgtdaraus, dass ein vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes, nicht mitGründen versehenes Urteil, das den inneren Dienstbereich des Gerichts bereitsverlassen hat, nicht mehr verändert werden darf, es sei denn, die nachträglicheUrteilsbegründung ist gemäß § 77b Abs. 2 OWiG zulässig (BGHSt 58, 243m.w.N.; OLG Bamberg ZfS 2009, 175; StraFo 2010, 468; OLG Brandenburg VRS 122,151; OLG Celle NZV 2012, 45; OLG Dresden NZV 2012, 557; OLG Hamm a.a.O.; KG NZV1992, 332; OLG Oldenburg NZV 2012, 352).
b) Imvorliegenden Verfahren hat sich der Tatrichter mit der Verfügung, das denUrteilstenor enthaltene Sitzungsprotokoll an den Betroffenen und denVerteidiger „mit Anlagen:Rechtsmittelbelehrung“ zuzustellen, endgültig für die förmliche Zustellungeiner nicht mit Gründen versehenen Urteilsfassung entschieden. Damit hat dasUrteil den inneren Dienstbereich des Gerichts verlassen und ist nach außen inErscheinung getreten.
c) DieVoraussetzungen für ein Absehen von einer schriftlichen Begründung des Urteilswaren nicht gegeben (§ 77b Abs. 1 OWiG). Die Generalstaatsanwaltschaftverkennt in ihrer Stellungnahme vom 31.08.2021 insoweit, dass schon deshalb dieUrteilsgründe nicht nachträglich gefertigt werden konnten (§ 77b Abs. 2OWiG), da es sich weder um eine Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft handeltnoch eine Rechtsbeschwerde des Betroffenen vorliegt, der in derHauptverhandlung gemäß § 77b Abs. 1 Satz 3 OWiG von einem Verteidigervertreten worden ist und auch nicht lediglich eine Geldbuße von nicht mehr als250 Euro festgesetzt worden ist.
III.
DieKostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46Abs. 1 OWiG. Nachdem der Verteidiger bereits frühzeitig auf den Eintrittder Verfolgungsverjährung hingewiesen hatte, sind keine Gründe ersichtlich, diees unbillig erscheinen lassen würden, von einer Auferlegung der notwendigenAuslagen des Betroffenen auf die Staatskasse abzusehen (§ 467 Abs. 3Satz 2 Nr. 2 StPO).
Gemäߧ 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.