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  • 22.07.2024 · IWW-Abrufnummer 242802

    Landgericht Nürnberg-Fürth: Beschluss vom 02.07.2024 – 18 Qs 22/24

    1. Die Zustellung an den Wahlverteidiger ist unwirksam, wenn dessen Bevollmächtigung nicht gemäß § 145a Abs. 1 StPO nachgewiesen ist. Die anwaltliche Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung ist hierfür nicht ausreichend.

    2. Nach § 463 d Satz 2 Nr. 1 StPO in der seit 01.10.2023 geltenden Fassung ist die Einbeziehung der Gerichtshilfe in allen Fällen vor der Entscheidung über einen Bewährungswiderruf zwingend, wenn kein Bewährungshelfer bestellt ist. Eine Differenzierung zwischen den in § 56f Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 StGB genannten Fällen widerspricht dem Gesetzeswortlaut.

    3. Ein Verstoß gegen § 463d Satz 2 StPO durch Nichteinbeziehung der Gerichtshilfe rechtfertigt keine Aufhebung und Zurückverweisung durch das Beschwerdegericht.


    LG Nürnberg-Fürth

    Beschluss vom 2. Juli 2024 


    In pp.

    1. Die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird als unbegründet verworfen.
    2. Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

    Gründe

    I.

    1. Mit Urteil des Amtsgerichts Weißenburg vom 11.08.2020 (4 Ls 1051 Js 11499/18), rechtskräftig seit 19.08.2020, wurde die Beschwerdeführerin wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt (Bl. 1 ff). Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

    Am 22.09.2018 gegen 11:15 Uhr hatte die Beschwerdeführerin in der Küche einer Asylbewerberunterkunft anlässlich einer - auch handgreiflichen - Auseinandersetzung mit einer Mitbewohnerin Pfannkuchenteig auf diese geschüttet, welche zuvor in gleicher Weise zum Nachteil der Beschwerdeführerin verfahren war und hernach die Räumlichkeit verlassen hatte. Die Beschwerdeführerin hatte sodann aus der Küche ein Brotmesser mit einer Klingenlänge von 20 cm geholt und gegenüber einer Sicherheitskraft, welche die Beschwerdeführerin hatte zurückhalten wollen, geäußert, sie steche die Mitbewohnerin ab. In deren Zimmer angekommen hatte die Beschwerdeführerin eine Stichbewegung in Richtung der Mitbewohnerin gemacht, welche eine 2 cm lange stark blutende Schnittwunde an der Handinnenfläche erlitten hatte, als sie ihre Hand nach einem Griff an das durch die Beschwerdeführerin gehaltene Messer zurückgezogen hatte. Hernach hatte die Beschwerdeführerin die Mitbewohnerin mit dem Messer noch leicht am Rücken verletzt und weitere ungezielte Schnitt- und Stichbewegungen ausgeführt. Die Schnittverletzung an der Hand hatte eine Verletzung der Beugesehnen zur Folge, und es hatte 4 bis 5 Monate gedauert, bis die Beweglichkeit des Zeigefingers wieder hergestellt war.

    Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wurde auf 3 Jahre festgesetzt und der Beschwerdeführerin die Anweisung erteilt, jeden Wohnungswechsel dem Gericht unaufgefordert mitzuteilen (Bl. 5). Die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung beziehen, wurden am 22.09.2020 dem Amtsgericht Nürnberg übertragen (Bl. 7 - Aktenzeichen dort 432 BRs 95/20).

    2. Mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 04.09.2023 (432 Ds 837 Js 23334/23), rechtskräftig seit 26.03.2024, wurde die Beschwerdeführerin wegen einer am 24.01.2023 innerhalb der noch bis zum 18.08.2023 laufenden Bewährungszeit begangenen neuen Straftat der vorsätzlichen Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde (Bl. 32 ff).

    Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

    Am 24.01.2023 gegen 16:45 Uhr hatte sich die Beschwerdeführerin als Patientin in einer Arztpraxis befunden und versucht, unberechtigt hinter einen Tresen zu gelangen. Die sich ihr in den Weg stellende Ärztin hatte die Beschwerdeführerin gezielt mit dem Unterarm weggestoßen und im Rippen- bzw. Bauchbereich getroffen, wodurch diese Prellungen erlitten und starke Übelkeit verspürt hatte. Einer Mitarbeiterin hatte die Beschwerdeführerin durch kräftiges Zupacken am Oberarm ein Hämatom und einen Kratzer am Oberarm zugefügt.

    Mit Verfügung vom 27.09.2023 (Blatt 17) leitete das Amtsgericht Nürnberg das Bewährungsheft der Staatsanwaltschaft Ansbach „zur Kenntnisnahme u. zur Stellungnahme“ zu. Mit Verfügung vom 06.10.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft Ansbach die durch das Amtsgericht Weißenburg vom 11.08.2020 (4 Ls 1051 Js 11499/18) gewährte Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen (Blatt 21 und 22). Mit Verfügung vom 12.10.2023 stellte das Amtsgericht Nürnberg diesen Antrag der Beschwerdeführerin unter der Adresse „[ ]“, zu (Blatt 22 Rückseite), die Zustellung erfolgte durch Einlage in den Briefkasten am 17.10.2023.

    Die gegen das vorgenannte Urteil gerichtete Berufung der Beschwerdeführerin verwarf das Landgericht Nürnberg-Fürth am 16.01.2024 ohne Verhandlung zur Sache (11 Nbs 837 Js 23334/23), weil die ausgebliebene Beschwerdeführerin ein keine hinreichenden Entschuldigungsgründe enthaltendes Attest vorgelegt hatte (Blatt 25 ff.). Ihre hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das OLG Nürnberg am 25.03.2024 als unbegründet (Blatt 39 ff. - Ws 207/24). In jenem Verfahren wurde die Beschwerdeführerin im Rahmen der sofortigen Beschwerde gegen die Berufungsverwerfung vom gleichen Verteidiger wie im hiesigen Beschwerdeverfahren vertreten.

    3. Ausweislich einer vor dem 03.05.2023 erholten Auskunft aus dem Bayerischen Behördeninformationssystem war die Beschwerdeführerin unter der Adresse „[ ]“, gemeldet (Blatt 15). Seit dem 26.02.2024 wohnte die Beschwerdeführerin mit ihrer Tochter in einer Einrichtung der Caritas für psychisch kranke und suchtkranke Mütter unter der Adresse [ ]. Sie verfügte dort über ein eigenes Appartement, welches sie selbst eingerichtet hatte. Diesen Umstand teilte sie dem bewährungsführenden Amtsgericht nicht mit, er gelangte am 10.06.2024 im Rahmen des Beschwerdeverfahrens durch Schriftsatz des Verteidigers vom 06.06.2024 mit einer Bestätigung der Caritas vom 03.05.2024 den Justizbehörden zur Kenntnis. Am 25.06.2024 war die Beschwerdeführerin unter der Adresse [ ], gemeldet.

    4. Mit Schriftsatz vom 20.03.2024, eingegangen beim Amtsgericht Nürnberg am 21.03.2024, zeigte sich für die Beschwerdeführerin ein Verteidiger zum Aktenzeichen 432 BRs 95/20 an und beantragte Akteneinsicht (Bl. 29). Eine entsprechende Vollmacht wurde weder im Original noch in Kopie und auch nicht elektronisch vorgelegt. In diesem Schriftsatz heißt es wie folgt:

    „(...) wird angezeigt, dass mich Frau [ ] mit ihrer Verteidigung beauftragt hat. Ordnungsgemäße Bevollmächtigung wird versichert.“

    Die Akteneinsicht wurde aufgrund Verfügung vom 25.03.2024 am 27.03.2024 gewährt (Bl. 29 und 30).

    Mit Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 18.04.2024 wurde die durch Urteil des Amtsgerichts Weißenburg vom 11.08.2020 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen (Bl. 42 f). Hinsichtlich der Zustellung traf die Vorsitzende folgende Verfügung (Blatt 43):

    „Beschluß zustellen mit RMB „sofortige Beschwerde“ an Verurteilte(n) u. Verteidiger“

    Am 22.04.2024 vermerkte die Serviceeinheit handschriftlich (Bl. 43):

    „1 x ZU
    1 x EB“

    Der Auslauf erfolgte nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg an ein besonderes Anwaltspostfach, sondern auf dem Postweg.

    Der Bewährungswiderruf wurde der Beschwerdeführerin am 23.04.2024 unter der Adresse „[ ]“ durch Einlage in den Briefkasten zugestellt. Auf der Zustellungsurkunde heißt es - z. T. durch Ankreuzen - formblattmäßig wie folgt:

    „Das mit umseitiger Anschrift und Aktenzeichen versehene Schriftstück (verschlossener Umschlag) habe ich in meiner Eigenschaft als Postbediensteter (...) zu übergeben versucht. (...) Weil die Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung/in dem Geschäftsraum nicht möglich war, habe ich das Schriftstück in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt.“

    Ein Zustellungsnachweis an den Verteidiger ist nicht in der Akte enthalten, weil der Verteidiger diesen weder auf einem sicheren Übermittlungsweg aus einem besonderen Anwaltspostfach noch auf dem Postwege zurücksandte.

    Mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 02.05.2024, eingegangen beim Amtsgericht Nürnberg auf einem sicheren Übermittlungsweg aus einem besonderen Anwaltspostfach am 02.05.2024, legte die Verurteilte sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 18.04.2024 ein (Bl. 45 ff).

    Die Staatsanwaltschaft Ansbach legte die Akten mit Verfügung vom 13.05.2024 am 16.05.2024 dem Landgericht Nürnberg-Fürth zur Entscheidung vor und beantragte, die sofortige Beschwerde kostenpflichtig als unzulässig zu verwerfen (Bl. 72 f).

    Mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 06.06.2024, eingegangen beim Amtsgericht Nürnberg auf einem sicheren Übermittlungsweg aus einem besonderen Anwaltspostfach am gleichen Tage und bei der Beschwerdekammer am 12.06.2024, begründete die Verurteilte die sofortige Beschwerde ergänzend.

    5. Seit dem 01.07.2024 wird gegen die Beschwerdeführerin in der JVA [ ] die Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 04.09.2023 (432 Ds 837 Js 23334/23) vollstreckt.

    II.

    Die statthafte sofortige Beschwerde ist zwar zulässig. In der Sache erweist sie sich gleichwohl als unbegründet.

    Weil § 78a GVG (anders als vergleichsweise die §§ 74b Satz 2, 74c Abs. 2 GVG) keine abweichende Beschwerdezuständigkeit vorsieht, verbleibt es trotz Inhaftierung der Beschwerdeführerin bei der Zuständigkeit der hiesigen Beschwerdekammer und eine Abgabe an die Strafvollstreckungskammer ist - trotz § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO - nicht veranlasst.

    1. Die gemäß § 453 Abs. 2 Satz 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere nicht verfristet. Weder die Zustellung an die Beschwerdeführerin noch jene an den Verteidiger setzte die Beschwerdefrist des § 311 Abs. 2 1. Hs. StPO in Lauf.

    a) aa)

    Die sofortige Beschwerde ist binnen einer Woche einzulegen; die Frist beginnt mit der Bekanntmachung (§ 35 StPO) der Entscheidung, § 311 Abs. 2 StPO. Bekanntmachungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sind gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 StPO zuzustellen. Die Zustellung von Entscheidungen ordnet der Vorsitzende an. Die Geschäftsstelle sorgt dafür, dass die Zustellung bewirkt wird (§ 36 Abs. 1 StPO). Wird die Entscheidung durch Zustellung bekanntgemacht und die für einen Beteiligten bestimmte Zustellung an mehrere Empfangsberechtigte bewirkt, so richtet sich die Berechnung einer Frist nach der zuletzt bewirkten Zustellung, § 37 Abs. 2 StPO.

    bb)

    Gemäß den §§ 37 Abs. 1 StPO, 180 Satz 1 ZPO kann ein Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist. Wohnt der Adressat nicht unter der Anschrift, liegen die Voraussetzungen der Ersatzzustellung nach den §§ 37 Abs. 1 StPO, 180 Satz 1 ZPO nicht vor und die Zustellung ist unwirksam (MüKoStPO/Valerius, 2. Aufl. 2023, StPO § 37 Rn. 61; KK-StPO/Schneider-Glockzin, 9. Aufl. 2023, StPO § 37 Rn. 26; BeckOK StPO/Larcher, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 37 Rn. 29). Ob eine Wohnung am Übergabeort existiert, richtet sich nicht danach, ob jemand unter einer bestimmten Adresse polizeilich gemeldet ist, sondern entscheidend ist, ob der Zustellungsempfänger tatsächlich an der angegebenen Anschrift wohnt und dort schläft, d. h. eine Wohnung des Adressaten an dem Ort, an dem zugestellt werden soll, i.S.d. Zustellvorschriften der §§ 178 ff. ZPO tatsächlich existiert und von dem Adressaten als Lebensmittelpunkt genutzt wird (OLG Hamm, Beschl. v. 13.04.2021 ‒ III-5 Ws 102/21 und 103/21; AG Landstuhl, Beschl. v. 05.05.2021 ‒ 2 OWi 4211 Js 90/21). Die Eigenschaft als Wohnung geht verloren, wenn sich während der Abwesenheit des Zustellungsempfängers auch der räumliche Mittelpunkt seines Lebens an einen neuen Aufenthaltsort verlagert (Thüringer Oberlandesgericht, Beschl. v. 05.12.2007 ‒ 1 Ss 262/07). Die Zustellungsurkunde erbringt gemäß den §§ 37 Abs. 1 StPO, 418 Abs. 1 ZPO grundsätzlich vollen Beweis für die in ihr bezeugten Tatsache der Zustellung. Nach § 418 Abs. 2 ZPO ist jedoch der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache zulässig. Dies erfordert die volle Überzeugung des Gerichts von der Unrichtigkeit der in der öffentlichen Urkunde bezeugten Tatsache (Thüringer Oberlandesgericht, Beschl. v. 14.05.2007 ‒ 1 Ws 97/07). Die Erklärung des Zustellers, dass die Übergabe des Schriftstücks unter der Anschrift, in der der Betroffene wohnt, nicht möglich gewesen sei, ist ein beweiskräftiges Indiz dafür, dass der Adressat am Tag der Zustellung unter der Zustellungsanschrift gewohnt hat. Diese Indizwirkung der Ersatzzustellung und ihrer Beurkundung kann durch eine plausible und schlüssige Darstellung entkräftet werden, wobei das bloße Bestreiten, d. h. die schlichte Behauptung, unter der Zustellungsanschrift nicht zu wohnen, nicht genügt (KG Berlin, Beschl. v. 27.06.2019 ‒ 5 Ws 61/19; OLG Hamm, Beschl. v. 12.11.2015 ‒ III-3 Ws 379/15).

    cc)

    Der gewählte Verteidiger, dessen Bevollmächtigung nachgewiesen ist, gilt als ermächtigt, Zustellungen und sonstige Mitteilungen für den Beschuldigten in Empfang zu nehmen, § 145a Abs. 1 Satz 1 StPO. Zum Nachweis der Bevollmächtigung genügt dabei gem. § 145a Abs. 1 Satz 2 StPO die Übermittlung einer Kopie der Vollmacht durch den Verteidiger.

    Die Zustellung an den Verteidiger muss, wenn dieser nicht als Pflichtverteidiger bestellt wurde, auf der Grundlage einer Verteidigervollmacht angeordnet werden (BGH, Beschl. v. 24.10.1995, 1 StR 474/95; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 145a Rn. 5). Die Bevollmächtigung ist nachzuweisen, wofür gemäß § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO die Übermittlung einer Kopie der Vollmacht ausreichend ist. Nach der vormaligen, am 01.04.1987 in Kraft getretenen Fassung des § 145a Abs. 1 StPO hieß es „Der gewählte Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet (...)“; seit dem 01.07.2021 lautet die Vorschrift in § 145a Abs. 1 Satz 1 StPO „Der gewählte Verteidiger, dessen Bevollmächtigung nachgewiesen ist“. Die Gesetzesänderung ermöglicht die elektronische Einreichung einer Verteidigervollmacht (BeckOK StPO/Krawczyk, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 145a Rn. 8).

    Die Voraussetzungen des § 145a Abs. 1 Satz 1 StPO können auch im Falle einer mündlich erklärten und im Sitzungsprotokoll beurkundeten Bevollmächtigung des Verteidigers erfüllt sein, wobei sein bloßes Auftreten in der Hauptverhandlung nicht ausreicht (BGH, Beschl. v. 24.10.1995 ‒ 1 StR 474/95; KG Berlin, Beschl. v. 15.06.2020 ‒ (4) 161 Ss 55/20 (59/20); OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.06.2002 ‒ 5 Ss 191/2002).

    Die anwaltliche Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung reicht im Falle eines Wahlmandats nicht aus, um daraus eine Ermächtigung i.S. des § 145 a Abs. 1 StPO abzuleiten (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 14.04.2022 ‒ 2 Ws 15/22). Eine insofern unwirksame Zustellung setzt auch die Beschwerdefrist nicht in Lauf (BGH, Beschl. v. 15.11.2021 ‒ 5 StR 90/21). Die Zustellung an einen Verteidiger, dessen Vollmacht sich nicht i.S.v. § 145a Abs. 1 S. 1 StPO bei den Akten befindet, wird auch nicht dadurch wirksam, dass dieser im Anschluss ein von ihm datiertes und unterschriebenes Empfangsbekenntnis zur Akte reicht (BGH, Beschl. v. 15.11.2021 ‒ 5 StR 90/21 noch zur vormaligen Fassung des § 145a Abs. 1 S. 1 StPO).

    b) aa)

    Die oben zitierte Zustellungsverfügung der Vorsitzenden entspricht den Anforderungen des § 36 Abs. 1 Satz 1 StPO, auch wenn sie die Zustellungsart nicht enthielt. Mängel bei der Anordnung der Zustellung können zwar zu deren Unwirksamkeit führen. Die in Teilen der Rechtsprechung vertretene Meinung, der Vorsitzende müsse auch anordnen, in welcher Form zugestellt werden soll (OLG Celle, Beschl. v. 24.08.1976 ‒ 2 Ss (OWi) 276/76; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25.11.1981 ‒ 2 Ss (OWi) 749/81 - 367/81 II; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2016, § 36 Rn. 7; Pollähne in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 36 StPO, Rn. 4) ist mit den zutreffenden Argumenten der Gegenmeinung (BayObLG, Beschl. v. 12.03.1999 ‒ 1St RR 51/99; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25.11.1999 ‒ 1 Ws (OWi) 944/99) abzulehnen. Dieser Bereich betrifft die Ausführung der Zustellung nach § 36 Abs. 1 Satz 2 StPO, die der Geschäftsstelle obliegt.
    bb)

    Zwar wurde der Beschluss der Beschwerdeführerin am 23.04.2024 zugestellt, wonach die Beschwerdefrist am 23.04.2024 zu laufen begonnen und am 30.04.2024 um 24 Uhr, geendet hätte (§ 43 Abs. 1 StPO). Die sofortige Beschwerde mit Schriftsatz des Verteidigers vom 02.05.2024 ging erst am 02.05.2024 um 16:19:23 Uhr bei Gericht ein und mithin nach Ablauf dieser Frist.

    Nach den obigen Vorgaben war die Zustellung an die Beschwerdeführerin aber unwirksam und setzte die Beschwerdefrist nicht in Lauf. Zum Zeitpunkt der Zustellung am 23.04.2024 wohnte die Beschwerdeführerin tatsächlich nicht mehr unter der Zustellungsanschrift „[ ]“, sondern seit dem 26.02.2024 im „[ ] - Betreutes Wohnen für psychisch und suchtkranke Mütter mit Kind“ unter der Anschrift „[ ]“. Zwar belegt der Inhalt der Zustellungsurkunde als öffentliche Urkunde die Richtigkeit ihres Inhaltes. Durch den Akteninhalt ist aber belegt, dass die Beschwerdeführerin ihren Lebensmittelpunkt nicht mehr an der Zustellungsanschrift hatte. Vielmehr hatte sie unter der o. g. Adresse ein eigenes Apartment mit eigenen Möbeln. Einer weiteren plausiblen und schlüssigen Darstellung zum Beleg des neuen Lebensmittelpunktes bedarf es nicht (mehr), weil die insoweit vorliegenden Erkenntnisse durch eine Erklärung des „[ ]“ nachgewiesen wurden. Zwar werden Zustellungsmängel nach den §§ 37 Abs. 1 StPO, 189 ZPO geheilt, wenn das betreffende Schriftstück derjenigen Person, an welche die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Es ist aber nach Aktenlage völlig unbekannt, ob und ggf. wann die Beschwerdeführerin die Entscheidung über den Bewährungswiderruf als solche jemals erhalten hat.

    cc) Die Zustellung an den Verteidiger war ebenfalls unwirksam und setzte die Beschwerdefrist des § 311 Abs. 2 1. Hs. StPO nicht in Lauf.

    Zu dem Zeitpunkt, in dem die Zustellung - entgegen der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung des § 145a Abs. 1 StPO - an den Verteidiger verfügt wurde, befand sich vorliegend eine Verteidigervollmacht weder im Original noch in Kopie bei den Akten und war auch nicht sonst nachgewiesen. Mangels Aktenkundigkeit der Verteidigervollmacht war der Verteidiger damit nicht zustellungsberechtigt. Die Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung durch den Verteidiger berechtigte nach den obigen Vorgaben nicht, um wirksam Zustellungen an diesen zu verfügen und zu bewirken.

    Es kann dahinstehen, ob der Verteidiger in dem weiteren Verfahren gegen die Beschwerdeführerin, in welchem er sie in der Berufungsinstanz sowie bei der sofortigen Beschwerde vertrat, seine Bevollmächtigung ausreichend nachgewiesen hatte. Denn es handelte sich hierbei um ein anderes Verfahren, aus welchem nicht auf eine Bevollmächtigung des Verteidigers auch für das hiesige Verfahren geschlossen werden kann.

    Auch bei dem Verteidiger wäre eine Heilung des Zustellungsmangels nach den §§ 37 Abs. 1 StPO, 189 ZPO zu erwägen, allerdings ist auch bei ihm nach Aktenlage völlig unbekannt, ob und ggf. wann er die Beschwerdeentscheidung als solche jemals erhalten hat.

    dd) Dahinstehen kann an dieser Stelle mangels wirksamer Zustellung und Nachweises der Heilung gemäß den §§ 37 Abs. 1, 189 ZPO, ob im Falle einer gegenteiligen Annahme nicht bereits deshalb Wiedereinsetzung nach den §§ 44 Satz 1, 45 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StPO zu gewähren wäre, weil die nach § 145a Abs. 3 StPO vorgesehenen Unterrichtungen unterlassen wurden (BGH, Beschl. v. 31.01.2006 ‒ 4 StR 403/05; BayObLG, Beschl. v. 01.02.2023 ‒ 201 ObOWi 49/23; KG Berlin, Beschl. v. 27.11.2020 ‒ (5) 161 Ss 155/20 (47/20); OLG Köln, Beschl. v. 10.06.2011 ‒ III-2 Ws 308/11; OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.03.2010 ‒ 2 Ws 500/09; LG Essen, Beschl. v. 28.12.2022 ‒ 51 Qs 21/22).

    2. Die sofortige Beschwerde ist allerdings unbegründet, denn der Widerruf der Strafaussetzung ist zu Recht erfolgt.

    a) aa)

    Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat (§ 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB). Jede in der Bewährungszeit begangene Straftat von einigem Gewicht rechtfertigt, unabhängig davon, ob sie einschlägig oder nicht einschlägig ist, den Widerruf der Bewährungsentscheidung. Die Tat muss nicht einmal der früheren nach Art und Schwere entsprechen (KG Berlin, Beschl. v. 16.02.2023 ‒ 2 Ws 1/23; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 12.10.2022 ‒ 1 Ws 11/22).

    bb)

    Das Gericht sieht von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht, weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen, insbesondere die verurteilte Person einer Bewährungshelferin oder einem Bewährungshelfer zu unterstellen, oder die Bewährungs- oder Unterstellungszeit zu verlängern (§ 56f Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 StPO). Diese Frage beurteilt sich allein danach, ob bei Würdigung aller Umstände andere Maßnahmen genügen, um der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen, obwohl die Strafaussetzung zunächst misslungen ist und deshalb die Widerrufsvoraussetzungen vorliegen (vgl. BeckOK StGB/Heintschel-Heinegg, 61. Ed. 1.5.2024, StGB § 56f Rn. 27). Mildere Maßnahmen als der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung stellen aber nur dann eine angemessene Reaktion auf ein neues Fehlverhalten des Verurteilten dar, wenn auf Grund neuer Tatsachen erwartet werden kann, dass der Verurteilte in Zukunft keine Straftaten mehr begehen wird (vgl. KG, Beschl. v. 01.10.1999 - 1 AR 1174/99 - 5 Ws 571/99; Beschl. v. 21.10.2008 ‒ 2 Ws 520/08). Von einem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wegen erneuter Straffälligkeit innerhalb der Bewährungszeit kann dann nicht abgesehen werden, wenn die Sozialprognose des Verurteilten weiterhin ungünstig erscheint (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 06.10.1995 - 3 Ws 616/95). Die Frage der Erkrankung eines Verurteilten ist nicht die primäre Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung, sondern ist in erster Linie unter dem Aspekt der Haftfähigkeit und unter dem Gesichtspunkt des § 455 StPO zu betrachten, was in die Zuständigkeit der Strafvollstreckungsbehörde fällt (OLG Rostock, Beschl. v. 06.12.2017 ‒ 20 Ws 316/17; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 16.12.2015 ‒ 1 Ws 174/15; KG, Beschl. v. 23.06.2006 ‒ 2 AR 57/06 - 5 Ws 215/06 und v. 15.09.1999 ‒ 1 AR 1014/99 - 5 Ws 499/99).

    cc) Das für den Widerruf einer Strafaussetzung zuständige Gericht soll sich der zeitnahen Prognose eines Tatrichters anschließen, weil diesem aufgrund der Hauptverhandlung in der Regel bessere Erkenntnismöglichkeiten für eine sachgerechte Beurteilung der Zukunftsprognose des Verurteilten zur Verfügung stehen (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 18.11.2022 ‒ 13/22 EA; KG Berlin, Beschl. v. 23.11.2022 ‒ 2 Ws 161/22; v. 27.07.2020 ‒ 5 Ws 91/20 ).

    b) aa)

    Die Beschwerdeführerin hat den obigen Vorgaben entsprechend innerhalb der bis zum 08.08.2023 laufenden Bewährungszeit am 24.01.2023 eine Straftat begangen. Diese war - wie die rechtskräftigen Feststellungen des Urteils des Amtsgerichts Nürnberg vom 04.09.2023 zeigen - nicht nur einschlägig, sondern auch von ähnlichem - wenngleich aufgrund des Strafrahmens geringerem - Gewicht.

    bb) Mildere Maßnahmen im Sinne des § 56f Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 StGB reichen nicht aus, um der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen. Eingangs ist festzuhalten, dass das Amtsgericht Nürnberg in seiner Entscheidung vom 04.09.2023 angesichts fehlender günstiger Kriminalprognose, Arbeit und familiärer Bindungen zu der Erkenntnis gelangt ist, es sei nicht zu erwarten, dass sich die Beschwerdeführerin schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen werde (§ 56 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die psychische Disposition der Beschwerdeführerin war dem Amtsgericht bekannt, anderenfalls es nicht zur Anwendung des § 21 StGB gekommen wäre. Das Amtsgericht hat in diesem Verfahren - in Person der Vorsitzenden im Übrigen personenidentisch mit der erkennenden Richterin des angefochtenen Beschlusses - in einer Hauptverhandlung die entsprechende Prognose gestellt, die im Ansatz geeignet war, eine Bindung auch im hiesigen Bewährungsüberwachungsverfahren zu begründen.

    Die unter dem 02.05.2024 und 06.06.2024 vorgetragenen Aspekte rechtfertigen keine andere Betrachtungsweise. Zutreffend ist, dass die Beschwerdeführerin die den Widerrufsgrund bildende Straftat weniger als sieben Monate vor Ablauf der - wohl - beanstandungsfreien Bewährungszeit begangen hat, was für eine gewisse Einmaligkeit sprechen könnte. Ihre Lebensverhältnisse erscheinen allerdings nicht in einem Maße verändert oder gefestigt, dass nunmehr davon auszugehen wäre, Auflagen oder Weisungen, ein Bewährungshelfer oder eine Verlängerung der Bewährungszeit könnten die Gefahr weiterer Straftaten vermindern. Die Sozialprognose hat sich nicht zu ihren Gunsten verändert. Der Beschwerdeführerin, welche im Übrigen gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verdachtsweise widersprüchliche und unwahre Angaben machte (Blatt 64 ff.), wurde die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wie sich aus dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.04.2024 (Blatt 59) ergibt. Der Antrag auf Asylanerkennung und subsidiären Schutzstatus wurde abgelehnt. Es wurde lediglich ein Abschiebungsverbot für Somalia festgestellt (§ 60 Abs. 5 AufenthG), weil bei Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK insofern vorliege, als sie in Somalia nicht über familiäre Bindungen verfüge, die für ihre Existenzsicherung zwingend erforderlich seien (Blatt 69). Diese Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes ändert nichts an der (negativen) Kriminalprognose und wird sie nicht von Straftaten abhalten. Die Beschwerdeführerin wird auch weiterhin keinerlei Arbeitstätigkeit nachgehen, wobei dieses bereits an ihren fehlenden Deutschkenntnissen scheitern wird, denn trotz eines mittlerweile achtjährigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland ist sie der deutschen Sprache nicht mächtig (Blatt 52), was sich auch aus den Ausführungen des Hauses [ ] vom 03.05.2024 ergibt, welches ebenfalls die Notwendigkeit von Übersetzungshilfen erwähnt.

    Der Aufenthalt seit dem 26.02.2024 in einer Einrichtung der Caritas für psychisch kranke und suchtkranke Mütter in einem eigenen von ihr eingerichteten Apartment rechtfertigt keine andere Annahme: Eine eigene Wohnung hielt sie auch nicht von den Straftaten vom 22.09.2018 und 24.01.2023 ab. Eine Besserung der durch die sofortige Beschwerde vorgetragenen (Blatt 46) und in dem für das Verfahren [ ] erstatteten Gutachten vom 05.12.2023 (Blatt 57 ff.) teilweise attestierten posttraumatischen Belastungsstörung und Impulskontrollstörung, welche durch das Amtsgericht Weißenburg am 11.08.2020 (Blatt 3) sachverständig beraten als nicht gegeben und durch das Amtsgericht Nürnberg ohne erkennbare sachverständige Begutachtung als Grund für eine Strafrahmenverschiebung nach § 21 StGB herangezogen wurden, hat sich bislang jedenfalls nicht ergeben. Diese würden ein zusätzliches Risiko für die Begehung (situationsbedingt) gleichgelagerter und einschlägiger Straftaten wie jenen vom 22.09.2018 und 24.01.2023 bilden, welches auch durch Auflagen oder Weisungen, einen Bewährungshelfer oder die Verlängerung der Bewährungszeit nicht minimiert werden könnte. Ihre Muttereigenschaft hat die Beschwerdeführerin auch bisher nicht von der Begehung der Straftaten abgehalten und begründet keine günstige Sozialprognose. Das dahingehende Verhalten am 15.01.2024, sich angesichts der für den 16.01.2024 bevorstehenden Berufungshauptverhandlung ein nichtssagendes Attest zu besorgen (Blatt 26), rechtfertigt zudem die Annahme, die Beschwerdeführerin werde sich hinsichtlich zur Vermeidung eines Bewährungswiderrufs angeordneter Maßnahmen nach § 56f Abs. 2 Satz 1 Sätze 1 und 2 StGB in ähnlicher Weise verhalten. Die im Gutachten vom 05.12.2023 (Blatt 48 ff.) beschriebenen Erkrankungen der Beschwerdeführerin wären nach den obigen Vorgaben unter dem Aspekt der Haftfähigkeit zu betrachten, was nicht Sache der hier erkennenden Beschwerdekammer ist. Bei der durchgeführten Würdigung aller Umstände wurde berücksichtigt, dass die Beschwerdeführerin im Falle des Vollzugs der Freiheitsstrafe(n) aus der Einrichtung der Caritas ausziehen muss. Ein Freihalten ihres Platzes erscheint allerdings nach den Ausführungen des Hauses [ ] gleichwohl möglich. Im Übrigen kann der Aufnahme der Beschwerdeführerin in dieser Einrichtung der Caritas letztlich ohnehin kaum noch eine festigende Wirkung im Hinblick auf eine günstige Kriminalprognose zukommen, weil sie im gegenwärtigen Zeitpunkt die im Verfahren 432 Ds 837 Js 23334/23 erkannte Freiheitsstrafe bereits angetreten hat.

    III.

    Zwar hat das Amtsgericht entgegen der seit dem 01.10.2023 geltenden Fassung des § 463d Satz 2 Nr. 1 StPO eine Einbeziehung der Gerichtshilfe vor seiner Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung nicht erkennbar erwogen. Eine Aufhebung und Rückverweisung der Sache war gleichwohl ebenso wenig veranlasst wie eine Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe durch die Beschwerdekammer.

    1.a) § 463d StPO hatte bis zum 30.09.2023 folgenden Wortlaut:

    „Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen; dies kommt insbesondere vor einer Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung des Strafrestes in Betracht, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist.“

    Seit dem 01.10.2023 hat § 463d StPO folgenden Wortlaut:

    „Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Die Gerichtshilfe soll einbezogen werden vor einer Entscheidung
    1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
    2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

    Im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 30.12.2022 (Drucksache 687/22) bzw. vom 06.03.2023 (Drucksache 20/5913) war folgende Formulierung vorgeschlagen:

    „Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Dies kommt insbesondere in Betracht vor einer Entscheidung
    1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
    2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

    In der Begründung hierzu heißt es (Seiten 86/87 bzw. 75/76):

    „Derzeit enthält § 463d StPO eine konkretisierende Regelung zur Einschaltung der Gerichtshilfe nur für den Fall des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung. Dieser Regelungsgehalt soll beibehalten und in den neuen Satz 2 Nummer 1 überführt werden.

    Durch die neue Nummer 2 soll der Vollstreckungsbehörde ausdrücklich nahegelegt werden, die Gerichtshilfe auch vor der Entscheidung über die Anordnung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe einzuschalten, um die Bereitschaft der verurteilten Person zu Ratenzahlungen oder gemeinnützigen Arbeitsleistungen zu fördern und so die Anordnung oder Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe so weit wie möglich zu vermeiden. Die Einschaltung der Gerichtshilfe, mit der zugleich die Hinweispflicht des neuen § 459e Absatz 2 Satz 2 StPO-E erfüllt werden kann, soll aber im Ermessen der Vollstreckungsbehörde stehen und kann unterbleiben, etwa, wenn die verurteilte Person das Angebot von Zahlungserleichterungen oder der Ableistung freier Arbeit bereits endgültig abgelehnt hat. In Fällen, in denen beispielsweise ein freier Träger die Beratung der verurteilten Person im Wege der aufsuchenden Sozialarbeit übernommen hat, wie dies derzeit bereits in einigen Ländern praktiziert wird, kann sich die Einschaltung der Gerichtshilfe auch darauf beschränken, die dafür notwendigen personenbezogenen Daten an den freien Träger zu übermitteln (siehe vorstehend zu Nummer 3 Buchstabe b). Im Übrigen wird zu Hintergrund und Zweck der Regelung auf die Ausführungen im Allgemeinen Teil unter I. 1. Buchstabe c und II. 1. vor Buchstabe a verwiesen.“

    Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) vom 26.05.2023 (Drucksache 20/7026) schlugen jedoch folgenden Wortlaut vor (Hervorhebung durch das Gericht):

    „Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Die Gerichtshilfe soll einbezogen werden vor einer Entscheidung
    1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
    2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

    Die Fraktion der SPD hatte zur Begründung wie folgt ausgeführt:

    „Mit der im Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen vorgeschlagenen Anpassung des § 463d Satz 2 StPO soll ein intendiertes Ermessen festgeschrieben werden, damit die Gerichtshilfe in den Fällen des § 463d Satz 2 Nr. 1 und 2 StPO-E im Regelfall einbezogen werde.“

    Die Fraktion der CDU/CSU hatte dem entgegnet:

    „Auch im Hinblick auf die vorgeschlagene Änderung des § 463d StPO komme ein gewisses Misstrauen gegenüber den Gerichten zum Ausdruck, weil der Entscheidungsspielraum zur Frage der Einbindung der Gerichtshilfe eingeschränkt werde.“

    Am 22.06.2023 wurde der Gesetzentwurf in der in Kraft getretenen Form mit den Stimmen der Regierungskoalition unter Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen und im Bundesgesetzblatt vom 02.08.2023 veröffentlicht.

    b) § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO enthält eine gleichgelagerte Sollvorschrift für die Form der Anhörung des Verurteilten:

    „Hat das Gericht über einen Widerruf der Strafaussetzung wegen Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen zu entscheiden, so soll es dem Verurteilten Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben.“

    Die mündliche Anhörung ist dort zwingend, wenn eine weitere Aufklärung des Sachverhalts möglich erscheint und ihr keine schwerwiegenden Gründe entgegenstehen (vgl. KK-StPO/Appl, 9. Aufl. 2023, StPO § 453 Rn. 7; MüKoStPO/Nestler, 1. Aufl. 2019, StPO § 453 Rn. 11; BeckOK StPO/Coen, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 453 Rn. 7; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 453 StPO, Rn. 16). Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Verurteilte beachtenswerte Gründe für die Nichterfüllung haben kann, aber nicht in der Lage ist, diese Gründe in einer das Gericht überzeugenden Weise schriftlich darzustellen (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf des 23. StrÄndG - BT-Drucksache 370/84 vom 24.08.1984). Das Gesetz will dort damit von vornherein der Gefahr begegnen, dass schwerwiegende Widerrufsentscheidungen ohne zureichende Tatsachengrundlage ergehen. Die Ausgestaltung als Sollvorschrift eröffnet dem Gericht lediglich die Möglichkeit, von der grundsätzlich zwingend gebotenen mündlichen Anhörung aus schwerwiegenden Gründen abzusehen, anderenfalls ein schwerwiegender Verfahrensmangel vorliegt, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung führt (statt vieler Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 15.12.2008 ‒ 1 Ws 212/08).

    c) aa)

    Die Einführung dieser Soll-Regelung in § 463d Satz 2 StPO macht die Einbeziehung der Gerichtshilfe für die dort genannten Fälle - insbesondere bei Entscheidungen der nach § 462a Abs. 2 StPO zuständigen Gerichte, wo in der Mehrzahl kein Bewährungshelfer bestellt ist - bei einer Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung seit dem 01.10.2023 zum Regelfall und zwingend. Die Nichteinbeziehung der Gerichtshilfe ist in den dort genannten Fällen nun begründungsbedürftig und damit implizit justiziabel (Pollähne in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 463d StPO, Rn. 2). Sie kann jedoch unterbleiben, wenn sie keinerlei zusätzlichen Erkenntnisse oder Erfolgsaussichten verspricht oder ihr zwingende Gründe entgegenstehen. Vertreten wird, dass die Nichteinschaltung der Gerichtshilfe - wie bei § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO - aber ermessensfehlerhaft sei und einen Verfahrensfehler begründen könne, der in Abweichung von § 309 Abs. 2 StPO eine Aufhebung und Rückverweisung rechtfertigen könne (BeckOK StPO/Coen, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 463d Rn. 4; KK-StPO/Appl, 9. Aufl. 2023, StPO § 463d Rn. 3).

    bb) Eine dahingehende Differenzierung zwischen einem Widerruf der Strafaussetzung wegen der in § 56f Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 3 StGB genannten Verstöße, bei denen die Einbeziehung der Gerichtshilfe zu erfolgen hätte, und solchen der Begehung einer Straftat in der Bewährungszeit nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB, bei der von ihrer Einbeziehung abgesehen werden könnte, ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht zulässig, der nur von „Widerruf der Strafaussetzung“ spricht und gerade nicht differenziert. Aus dem Umstand, dass die Sätze 2 und 4 in § 453 Abs. 1 StPO ausdrücklich differenzieren und die mündliche Anhörung nur im Fall eines „Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen“ vorsehen, hingegen die Neufassung in § 463d Satz 2 Nr. 1 StPO nicht in gleicher Weise verfährt, ist zu schließen, dass der Gesetzgeber dort eine entsprechende Differenzierung gerade nicht anstrebte, sondern die Einbeziehung der Gerichtshilfe in allen Fällen eines Widerrufes der Strafaussetzung wollte. Dass die konsequente Befolgung der durch den Gesetzgeber ausdrücklich so gewollten Anordnung des § 463d Satz 2 StPO in der Form, grundsätzlich in allen Fällen die Gerichtshilfe einzubeziehen, in denen bei Fehlen eines Bewährungshelfers - aus welchem Grund auch immer - über den Widerruf der Strafaussetzung oder die Aussetzung eines Strafrestes entschieden werden muss, zu einer erheblichen Mehrbelastung der Gerichtshilfestellen führen wird, der diese in der gegenwärtigen personellen Ausstattung kaum standhalten können, hat für die nach § 462a StPO und im Beschwerdeverfahren zuständigen Gerichte ebenso wenig entscheidungserheblich zu sein wie die Frage der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit dieser in § 463d Satz 2 StPO getroffenen Regelung.

    2. Die entgegen § 463d Satz 2 StPO gewählte Vorgehensweise des Amtsgerichts rechtfertigt jedenfalls in der hier vorliegenden Fallkonstellation, in der die Beschwerdekammer angesichts des ausführlichen Beschwerdevorbringens im Schriftsatz vom 02.05.2024, des psychiatrischen Gutachtens vom 15.02.2024, des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.04.2024 und der Stellungnahme des Hauses [ ] vom 02.05.2024 über alle zur Entscheidung notwendigen Informationen mit aktuellem Stand verfügt, weder eine Rückverweisung an das Amtsgericht zur Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe noch deren Nachholung durch die Beschwerdekammer selbst.

    a) Anders als im Falle des § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO und unterbliebener mündlicher Anhörung des Verurteilten durch das Beschwerdegericht rechtfertigt der Verstoß gegen § 463d Satz 2 StPO durch Nichteinbeziehung der Gerichtshilfe - entgegen der insoweit bereits geäußerten Rechtsmeinung - keine Aufhebung und Zurückverweisung.

    Eine Zurückverweisung der Akten an die erste Instanz zum Zwecke der weiteren Aufklärung ist nicht zulässig. Lediglich in Ausnahmefällen kann das Beschwerdegericht aus rechtlichen Gründen die Sache an die Vorinstanz zurückverweisen (MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl. 2024, StPO § 309 Rn. 10; BeckOK StPO/Cirener, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 309 Rn. 10, KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl. 2023, StPO § 309 Rn. 7). Solche liegen nur dann vor, wenn die Entscheidung des Erstgerichts an einem schweren Mangel leidet und von einer ordnungsgemäßen Justizgewährung nicht mehr auszugehen ist, bspw. wenn das Erstgericht eine gesetzlich vorgeschriebene mündliche Anhörung nicht durchgeführt hat (MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl. 2024, StPO § 309 Rn. 36; BeckOK StPO/Cirener, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 309 Rn. 17 m. w. N.).

    Ein derart schwerwiegender Verfahrensmangel liegt jedenfalls nicht im Verstoß des Erstgerichts gegen § 463d Satz 2 StPO. Insbesondere wurden keine (mündlichen) Anhörungsrechte der Beschwerdeführerin verletzt. Eine Rückverweisung in dieser Konstellation wäre unzulässig, weil sie letztlich auf eine weitere Aufklärung durch das Erstgericht durch Einbeziehung der Gerichtshilfe gerichtet wäre.

    b) Eine Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe durch die Beschwerdekammer war nicht veranlasst. Über die Inhalte der oben zitierten Fundstellen hinaus könnten durch die Einbeziehung der Gerichtshilfe keine weiteren für die Entscheidung wesentlichen Informationen erlangt werden, über die die Beschwerdekammer nicht schon verfügt.

    IV.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.