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  • 27.08.2019 · IWW-Abrufnummer 210847

    Bayerisches Oberstes Landesgericht: Beschluss vom 11.06.2019 – 202 ObOWi 874/19

    1. Der Ablehnungsgrund der verspäteten Antragstellung gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG setzt voraus, dass die beantragte Beweiserhebung zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 228 StPO führen müsste, also neu durchzuführen wäre. Eine bloße Unterbrechung i.S.v. § 229 StPO ist nicht ausreichend, weshalb sich das Gericht vor einer Ablehnung Gewissheit darüber zu verschaffen hat, ob die Hauptverhandlung mit der beantragten Beweiserhebung innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgeführt werden kann oder nicht. Diese Voraussetzungen sind vom Tatrichter im Rahmen der Begründung des Ablehnungsbeschlusses nachvollziehbar darzulegen (st.Rspr.; u.a. Anschluss an OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.2008 – 2 Ss OWi 864/17 = NZV 2008, 160 = ZfSch 2008, 169 = StraFo 2008, 122 = VRS 114 [2008], 55; 04.05.2010 - 2 RBs 35/10 bei juris und 03.02.2015 – 1 RBs 18/15 = DAR 2015, 275; KG, Beschl. v. 17.04.2018 - 122 Ss 46/18 = VRS 133 [2017], 149).

    2. Eine Ablehnung des Beweisantrag nach § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG kommt nicht in Betracht, wenn die tatrichterliche Aufklärungspflicht die Erhebung des beantragten Beweises gebietet (st.Rspr., vgl. u.a. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.03.2000 – 3 Ss 134/99 = NStZ-RR 2000, 275 = DAR 2000, 418).


    Bayerisches Oberstes Landesgericht (BayObLG)

    202 ObOWi 874/19

    Tenor

    I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 17.12.2018 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

    II. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.

    III. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückverwiesen.

    Gründe

    I.

    Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen am 17.12.2018 wegen einer am 22.05.2018 begangenen vorsätzlichen Verkehrsordnungswidrigkeit des Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 61 km/h zu einer Geldbuße von 880 EUR und verhängte gegen ihn ein mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer von zwei Monaten. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er macht insbesondere geltend, das Amtsgericht habe einen in der Hauptverhandlung vom 17.12.2018 gestellten Beweisantrag der Verteidigung auf Vernehmung zweier Zeugen zu einem - im Falle der Verhängung eines Fahrverbotes - drohenden Arbeitsplatzverlust zu Unrecht als verspätet abgelehnt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat unter dem 09.05.2019 beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 17.12.2018 mit der Maßgabe als unbegründet zu verwerfen, dass das Fahrverbot nur einen Monat beträgt.

    II.

    Die statthafte (§ 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG) und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde hat mit der in zulässiger Weise erhobenen Verfahrensrüge, die aufgrund der sie tragenden Ausführungen auch als Rüge der Verletzung des § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG erkennbar ist, - zumindest vorläufig - insoweit Erfolg, als der Rechtsfolgenausspruch des Urteils keinen Bestand hat. Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde jedoch unbegründet.

    1. Soweit sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Schuldspruch richtet, war sie als unbegründet zu verwerfen. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Rechtsbeschwerde hat - abgesehen vom Rechtsfolgenausspruch - keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG). Insoweit wird zur Begründung auf die diesbezüglich zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 09.05.2019 Bezug genommen.

    2. Indes greift die Rüge der Verletzung von § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG durch und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im Rechtsfolgenausspruch, da der Verfahrensfehler nur diesen betrifft.

    a) Der Verfahrensrüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

    Der Verteidiger beantragte in der Hauptverhandlung vom 17.12.2018 nach Vernehmung des Betroffenen zur Sache sowie Vernehmung des Messbeamten als Zeugen und Verlesung bzw. Inaugenscheinnahme diverser Messunterlagen die Vernehmung der Zeugen R. und A. zum Beweis der Tatsache, dass die Verhängung eines Fahrverbotes für den Betroffenen unweigerlich mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes verbunden sei. Das Amtsgericht lehnte diesen Beweisantrag ausweislich des Protokolls über die Hauptverhandlung vom 17.12.2018 gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG mit der Begründung ab, er sei ohne verständigen Grund so spät vorgebracht worden, dass die Beweiserhebung zur Aussetzung der Hauptverhandlung führen würde.

    b) Die gerichtliche Ablehnungsentscheidung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die auf § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG gestützte Ablehnung eines Beweisantrages setzt voraus, dass das Gericht den Sachverhalt nach dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme als geklärt ansieht und dass nach seiner freien Würdigung das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache ohne verständigen Grund so spät vorgebracht worden sind, dass die Beweiserhebung zur Aussetzung des Verfahrens führen würde. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs soll damit verhindert werden, dass Beweismittel, deren Vorhandensein und Bedeutung dem Betroffenen längst bekannt sind, bewusst zurückgehalten werden, um eine Aussetzung der Hauptverhandlung zu erzwingen. Das Gesetz legt dem Betroffenen daher in gewissem Umfang eine Mitwirkungspflicht auf, deren bewusste Verletzung eine Ablehnung des Beweisantrags nach sich ziehen kann (vgl. KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 77 Rn. 18 unter Hinweis auf BT-Drs. 10/2652 S. 23; ebenso Rebmann/Roth/Herrmann OWiG 3. Aufl. § 77 Rn. 12; vgl. auch Böttcher NStZ 1986, 393).

    aa) Dass das Amtsgericht vorliegend ersichtlich davon ausgegangen ist, der Betroffene habe die ihm obliegende Mitwirkungspflicht verletzt, weil er dem Amtsgericht - obwohl es ihm möglich und zumutbar gewesen wäre - seine Einwendungen gegen die Verhängung eines Fahrverbotes nicht so rechtzeitig vor dem Hauptverhandlungstermin mitgeteilt hat, dass das Amtsgericht gegebenenfalls die Ladung der beiden Zeugen zum Hauptverhandlungstermin hätte bewirken können, begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken (vgl. hierzu auch BVerfG NJW 1992, 2811; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 275; OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.2008 – 2 Ss OWi 864/17 = NZV 2008, 160 = ZfSch 2008, 169 = StraFo 2008, 122 = VRS 114 [2008], 55; OLG Hamm, Beschl. v. 28.03.2010 – 3 RBs 28/09 bei juris).

    bb) Allerdings hat das Amtsgericht in seinem Ablehnungsbeschluss nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die Durchführung der beantragten Beweiserhebung zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 228 StPO führen würde. Die bloße Notwendigkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung im Sinne des § 229 StPO genügt insoweit nicht (Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 77 Rn. 20; Rebmann/Roth/Hermann a.a.O. Rn. 13; Deutscher NZV 1999, 187; OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.2008 – 2 Ss OWi 864/17 = NZV 2008, 160 = ZfSch 2008, 169 = StraFo 2008, 122 = VRS 114 [2008], 55 und 03.02.2015 – 1 RBs 18/15 = DAR 2015, 275). Der Richter muss sich deshalb vor einer auf § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG gestützten Ablehnung Gewissheit darüber verschaffen, ob die Hauptverhandlung mit der beantragten Beweiserhebung innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgeführt werden kann (OLG Hamm, Beschl. vom 04.05.2010 - 2 RBs 35/10 bei juris). Für die Frage, ob die beantragte Beweiserhebung zur Aussetzung der Hauptverhandlung führt, ist maßgebend, ob ein seine Aufgaben pflichtbewusst erfüllender Richter auch bei angemessener Mehrarbeit (ohne Aufhebung anderer Termine oder Vernachlässigung sonstiger Pflichten) den Fortsetzungstermin zur Durchführung der Beweisaufnahme ansetzen könnte (OLG Hamm, Beschl. v. 03.02.2015 – 1 RBs 18/15 = DAR 2015, 275; vgl. auch BeckOK/Hettenbach OWiG 22. Ed. [Stand: 15.3.2019] § 77 Rn. 19). Ohne eine solche Prüfung, die sich vorliegend weder aus dem Ablehnungsbeschluss noch aus dem Hauptverhandlungsprotokoll oder den Urteilsgründen ergibt, durfte der Beweisantrag des Betroffenen nicht gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG zurückgewiesen werden (KG, Beschl. v. 17.04.2018 - 122 Ss 46/18 = VRS 133 [2017], 149). Bereits dieser Umstand verhilft der Verfahrensrüge zum Erfolg.

    cc) Die auf § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG gestützte Ablehnung eines Beweisantrages als verspätet erfordert aber neben den in der Bestimmung ausdrücklich genannten tatbestandlichen Voraussetzungen, dass die dem Gericht obliegende Aufklärungspflicht die Erhebung des beantragten Beweises nicht gebietet (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 275; OLG Düsseldorf VerkMitt 1989, 28 Nr 35; vgl. auch KK/Senge § 77 Rn. 19; Blum/Gassner/Seith OWiG § 77 Rn. 36; Haus/Krumm/Quarch Gesamtes Verkehrsrecht 2. Aufl. 2017 § 77 OWiG Rn. 36; einschränkend Göhler/Seitz/Bauer § 77 Rn. 20 und Rebmann/Roth/Hermann § 77 Rn. 12). Verletzt ist die Aufklärungspflicht, wenn das Gericht davon absieht, Beweise zu erheben, deren Benutzung sich nach der Sachlage aufdrängt oder zumindest nahe liegt (Göhler/Seitz/Bauer § 77 Rn. 4).

    Wie sich aus der insoweit lückenhaften Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils zur Frage des Vorliegens eines Härtefalls, die der Senat aufgrund der ebenfalls erhobenen unausgeführten Sachrüge heranziehen kann, ergibt, hätte es sich der Tatrichterin unter Beachtung der Aufklärungspflicht aufdrängen müssen, der beantragten Beweiserhebung nachzugehen. Die von ihr getroffenen Feststellungen und angestellten Erwägungen tragen im Übrigen auch nicht - wie die Generalstaatsanwaltschaft meint - die Verhängung eines nur einmonatigen Fahrverbotes. Das Amtsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung - auch wegen der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer - ein Absehen von einem an sich als Regelfall verwirkten Fahrverbot unter dem Gesichtspunkt der Existenzgefährdung nur in Betracht kommt, wenn eine massive Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz, mithin eine „existenzvernichtende“ außergewöhnliche Härte vorliegt (vgl. nur OLG Bamberg NZV 2010, 46 m.w.N.), und dass dabei von dem Betroffenen „in substantiierter Weise Tatsachen vorgetragen“ werden müssen, welche die Annahme einer Existenzgefährdung „greifbar erscheinen lassen“ (BVerfG NJW 1995, 1541). Es hat aber verkannt, dass der Betroffene in der Hauptverhandlung vom 17.12.2018 solche Tatsachen in ausreichender Form vorgetragen hat. Ausweislich der Urteilsfeststellungen hat der Betroffene vorgebracht, dass er nach Durchlaufen der Probezeit nunmehr über eine unbefristete Festanstellung als Berufskraftfahrer verfüge, in seinem Arbeitsvertrag festgelegt sei, dass ihm gekündigt werde, wenn er keinen Führerschein habe, und dass im Jahr 2018 sein Urlaubsanspruch bis auf 9 Tage Resturlaub aufgebraucht sei. Unbeschadet dessen hat das Amtsgericht auf eine von der Verteidigung vorgelegte Bestätigung des Arbeitgebers abgestellt, die im Juni 2018 ausgestellt worden war, mithin zu einem Zeitpunkt, zu dem sich der Betroffene noch in der Probezeit befunden hatte. Ohne den Inhalt dieses Schreibens im Einzelnen mitzuteilen, verneint es das Vorliegen einer existenziellen Härte mit der Begründung, dass „bereits aus arbeitsrechtlichen Gründen eine Kündigung nicht ohne weiteres möglich ist und allein auf Grundlage des Schreibens vom Juni 2018 eine konkrete Existenzgefährdung nicht belegt wurde, da nicht ersichtlich ist, inwieweit die Fahrverbotsfrist mit Urlaub und Freistellung nach dem Stand heute überbrückt werden kann“. Dabei teilt das angefochtene Urteil weder den Umfang des Urlaubsanspruchs des Betroffenen für das Jahr 2019 mit noch begründet es tragfähig, weshalb es von der Möglichkeit einer „Freistellunge“ des Betroffenen durch den Arbeitgeber ausgeht. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Amtsgericht hat schon verkannt, dass den Betroffenen weder eine Beweislast noch die Pflicht zur Glaubhaftmachung der Umstände trifft, die er zur Begründung einer Existenzgefährdung durch die Verhängung des - hier im Raum stehenden - zweimonatigen Fahrverbotes vorgetragen hat. Vielmehr hatte es allein auf die hinreichend substantiierten Angaben des Betroffenen zu seiner aktuellen beruflichen Situation abzustellen und musste sich gehalten sehen, diese Angaben durch eine Vernehmung des Arbeitgebers kritisch zu hinterfragen. Genau hierauf zielte das verfahrensgegenständliche Beweisbegehren der Verteidigung ab, dessen Ablehnung der Verfahrensrüge der Verletzung von § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG damit auch unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht zum Erfolg verhilft.

    III.

    Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Rechtsfolgenausspruch des amtsgerichtlichen Urteils auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrages beruht, ist das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch sowie in der Kostenentscheidung aufzuheben. Wegen der Wechselwirkung zwischen Fahrverbot und Geldbuße betrifft die Aufhebung den gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den ihm zugehörigen Feststellungen (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO). Die Sache wird im Umgang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

    IV.

    Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.

    Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.

    RechtsgebieteStVG, OWiG, StPOVorschriften§ 25 StVG, § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 OWiG, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG, § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, § 80a Abs. 1 OWiG, § 228 StPO, § 229 StPO, § 349 Abs. 2 StPO