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  • 21.09.2021 · IWW-Abrufnummer 224806

    Kammergericht Berlin: Beschluss vom 01.07.2021 – 3 Ws (B) 167/21

    Diese Entscheidung enhält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    In der Bußgeldsache gegen

    x

    wegen    einer Verkehrsordnungswidrigkeit

    hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 1. Juli 2021 beschlossen:

    Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 14. April 2021 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

    Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird verworfen.

    Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.

    Gründe:

    Das Amtsgericht Tiergarten hat den Betroffen wegen eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt und unter Gewährung des Erstverbüßerprivilegs ein einmonatiges Fahrverbot festgesetzt. Die Urteilsfeststellungen haben folgenden abschließenden Wortlaut:

    „Am 10.07.2020 gegen 8.50 Uhr befuhr der Betroffene mit dem PKW xxx in B. die A.-straße in Richtung G.-straße. Er befand sich hier zunächst auf der rechten von zwei Geradeausfahrspuren. Obwohl die Lichtzeichenanlage für ihn rot zeigte und auf beiden Geradeausspuren die jeweils ersten Fahrzeuge bereits standen und die jeweils zweiten Fahrzeuge im Anhalten begriffen waren, scherte der Betroffene, der sich dahinter befand, nach rechts auf eine Sperrfläche aus und überfuhr auf dieser Sperrfläche die Haltelinie und überquerte die Kreuzung geradeaus.“

    Im Rahmen der rechtlichen Würdigung führt das Urteil aus:

    „Der Betroffene hat sich eines Rotlichtverstoßes nach §§ 37 Abs. 2, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO schuldig gemacht, wobei feststeht, dass hier auch schon länger als eine Sekunde rot für den Betroffenen leuchtete, als er die Haltelinie überfuhr. Denn es ist lebensfremd, anzunehmen, dass bereits mehrere Fahrzeuge an einer roten Ampel stehen und derjenige, der erst danach die Kreuzung überfährt, hier erst sehr kurz, also maximal eine Sekunde, rot haben sollte.“

    Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen bleibt in Bezug auf den Schuldspruch erfolglos, dringt aber mit der Sachrüge gegen den Rechtsfolgenausspruch durch.

    1. Die gegen den Schuldspruch gerichtete Rechtsbeschwerde ist aus den in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Berlin genannten Gründen unbegründet im Sinne der §§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO.

    2. In Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch hat die Rechtsbeschwerde Erfolg.

    Die Urteilsfeststellungen lassen nicht erkennen, dass der Betroffene einen sog. qualifizierten Rotlichtverstoß begangen hat. Sie belegen zwar, dass der Betroffene bei rotem Ampellicht über die Haltlinie und hiernach in den gesperrten Kreuzungsbereich eingefahren ist, enthalten aber nichts dazu, wie lange das rote Ampellicht bereits leuchtete, als der Betroffene über die Haltlinie fuhr. Feststellungen hierzu waren erforderlich, weil das Tatgericht den Sachverhalt entsprechend gewürdigt und die erschwerten Rechtsfolgen festgesetzt hat.

    Es kann offen bleiben, ob die Ausführungen zur rechtlichen Würdigung dieses Säumnis unter dem Gesichtspunkt heilen können, dass die Urteilsausführungen eine Einheit bilden (vgl. BGH AfP 78, 103; Senat, Beschlüsse vom 25. April 2015 ‒ 3 Ws (B) 183/15 ‒ und vom 31. Oktober 2014 ‒ 3 Ws (B) 538/14 ‒). Denn jedenfalls trägt die Beweiswürdigung nicht die Feststellung, das Ampellicht habe sicher bereits eine volle Sekunde geleuchtet, als der Betroffene über die Haltlinie fuhr.

    a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Das Rechtsbeschwerdegericht hat die subjektive Überzeugung des Tatrichters von dem Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts grundsätzlich hinzunehmen, und es ist ihm verwehrt, seine eigene Überzeugung an die Stelle der tatrichterlichen Überzeugung zu setzen. Allerdings kann und muss vom Rechtsbeschwerdegericht überprüft werden, ob die Überzeugung des Tatrichters in den getroffenen Feststellungen und der ihnen zugrundeliegenden Beweiswürdigung eine ausreichende Grundlage findet. Die Urteilsgründe des Tatgerichts müssen also erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatrichter gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 387). Daher müssen die Urteilsgründe regelmäßig erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine Überzeugung gestützt hat. Nur so ist gewährleistet, dass das Rechtsbeschwerdegericht die tatrichterliche Beweiswürdigung auf Rechtsfehler überprüfen kann.

    Bei einem sog. qualifizierten Rotlichtverstoß gilt für die Würdigung der Rotlichtdauer: Wegen der erheblichen Auswirkungen im Rechtsfolgenausspruch muss insbesondere die Feststellung, dass das Rotlicht ‒  im maßgebenden Zeitpunkt des Überfahrens der Haltlinie ‒ länger als eine Sekunde andauerte, vom Tatrichter nachvollziehbar aus dem Beweisergebnis hergeleitet werden (OLG Köln VRS 100, 140). Damit die Feststellungen eines von einem Zeugen beobachteten „qualifizierten“ Rotlichtverstoßes eine tragfähige Grundlage für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht bilden, ist es erforderlich, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen die von dem Zeugen angewandte Messmethode darstellt und sie hinsichtlich ihrer Beweiskraft bewertet (OLG Hamm NStZ-RR 2018, 124; OLG Köln ZfSch 2012, 292).

    Auch für die Bestimmung der Rotlichtdauer gilt der Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung, weshalb es auch hierfür keinen Numerus Clausus möglicher Beweismittel gibt. Für die Feststellung eines „qualifizierten“ Rotlichtverstoßes bedarf es also nicht zwingend einer geeichten Uhr oder gar einer fest installierten, zugelassenen und geeichten Verkehrsüberwachungsanlage. Auch das sog. Sekundenzählen durch gezielt überwachende Polizeibeamte wurde ‒ insbesondere in etwas älteren Entscheidungen ‒ als ggf. zuverlässiges Beweismittel anerkannt (vgl. OLG Köln, VRS 100, 140; OLG Brandenburg DAR 1999, 512; OLG Düsseldorf VRS 93, 462; NZV 2000, 134; OLG Hamm NZV 2010, 44; 1997, 13; a. A. OLG Hamm NZV 2001, 177). Soll aber durch Zeugenbeweis und ohne technische Hilfsmittel ein qualifizierter Rotlichtverstoß bewiesen werden, so ist eine kritische Würdigung des Beweiswertes geboten (OLG Köln, a.a.O.).

    b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht ausreichend gerecht. Der Beweiswürdigung fehlt in Bezug auf die angenommene „Qualifizierung“ des Rotlichtverstoßes, also den Umstand einer bereits länger als eine Sekunde andauernden Rotlichtphase, eine tragfähige Grundlage; sie ist lückenhaft.

    Das Amtsgericht hat seine Überzeugung davon, dass das Rotlicht zumindest eine Sekunde leuchtete, darauf gestützt, dass wenn „bereits mehrere Fahrzeuge an einer roten Ampel stehen, (…) derjenige, der erst danach die Kreuzung überfährt,“ mindestens eine Sekunde „Rot“ gehabt haben müsse (UA S. 4).

    Diese Argumentation fußt schon nicht auf den getroffenen Feststellungen, nach denen „die jeweils ersten Fahrzeuge bereits standen und die jeweils zweiten Fahrzeuge im Anhalten begriffen waren“ (UA S. 3). Diese Formulierung ist nicht anders zu verstehen als dass der Betroffene ausscherte, als ein Fahrzeug vor ihm stand und ein zweites ‒ offenbar direkt vor ihm fahrendes ‒ „im Anhalten begriffen war“. Die Formulierungen „jeweils erste“ und „jeweils zweite Fahrzeuge“ beziehen sich ersichtlich auf verschiedene Fahrspuren. Auf der vom Betroffenen genutzten Fahrspur befand sich demnach also ein stehendes und ein noch fahrendes Fahrzeug, als er ausscherte und an den beiden Fahrzeugen vorbei in den durch rotes Ampellicht gesperrten Kreuzungsbereich fuhr.

    Die Würdigung des Amtsgerichts, dass die Ampel zuletzt bereits mindestens eine Sekunde rotes Licht zeigte, stellt sich ohne weitere Feststellungen als freie Schätzung (vgl. OLG Hamm jurisPR-VerkR 24/2019 Anm. 3 [m. Anm. Krenberger], Volltext bei juris) und letztlich als bloße Vermutung dar. Zur Feststellung von Zeitintervallen im Sekundenbereich sind solche Schätzungen generell ungeeignet, weil hierbei erfahrungsgemäß ein erhebliches Fehlerrisiko besteht (vgl. BayObLG DAR 2021, 159; BayObLGSt 2002, 100). Tatsächliche Anhaltspunkte, welche dem Senat wenigstens eine Plausibilitätsprüfung ermöglichten, etwa die Geschwindigkeit des Betroffenen und sein Abstand von der Haltlinie beim Umschalten auf Rotlicht, teilt das Urteil nicht mit. Die Darstellung des äußeren Geschehens wird auch nicht ersetzt durch die Einschätzung eines polizeilichen Zeugen, es habe sich „offensichtlich“ um einen „qualifizierten Rotlichtverstoß“ gehandelt (UA S. 3). Und auch die Mitteilung, beide polizeiliche Zeugen hätten übereinstimmend angegeben, sie seien „verblüfft gewesen“, dass „noch ein Fahrzeug, zumal durch Ausscheren über die Sperrfläche, über die Ampel fährt, obwohl schon offensichtlich sehr lange rot gewesen sei“ (UA S. 4), beschreibt das innere Erleben der Zeugen, kann aber gleichfalls keine substantielle Schilderung der äußeren Tatsachen ersetzen, welche die Beweiswürdigung und namentlich die Zeitschätzung nachvollziehbar erscheinen lassen.

    c) Die Dauer der Rotlichtzeit ist eine sog. doppelrelevante Tatsache; sie betrifft sowohl den Schuld- als auch den Rechtsfolgenausspruch (vgl. Senat NZV 2017, 340). Durch die nunmehr getroffene Entscheidung ist der Schuldspruch, dem zufolge der Betroffene einen fahrlässigen Rotlichtverstoß begangen hat, rechtskräftig. Die Dauer des Rotlichts ist vom Amtsgericht nicht substantiell festgestellt worden, so dass sie schon deshalb nicht an der Rechtskraft des Schuldspruchs teilhaben kann. Das Amtsgericht wird unter Beachtung der mit dem Schuldspruch bindend gewordenen Feststellungen nochmals klären müssen, ob zwischen dem Einspringen des roten Wechsellichts und dem Überfahren der Haltlinie mindestens eine Sekunde vergangen ist. Dass dies gelingt, ist vor dem Hintergrund freier richterlicher Beweiswürdigung gut möglich, so dass der Senat nicht nach § 79 Abs. 6 OWiG in der Sache selbst entscheiden konnte.

    RechtsgebieteOWiG, StPO, StVOVorschriftenOWiG §§ 46, 71, StPO §§ 261, 267, StVO § 37 Abs. 2