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  • 10.10.2024 · IWW-Abrufnummer 244218

    Kammergericht Berlin: Beschluss vom 14.06.2024 – 3 ORbs 100/24 - 162 SsBs 18/24

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Kammergericht
    3. Senat für Bußgeldsachen

    Beschluss vom 14. Juni 2024 


    In der Bußgeldsache gegen 

    wegen    einer Verkehrsordnungswidrigkeit

    hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 14. Juni 2024 beschlossen: 

    Auf die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Januar 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.

    Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung ‒ auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde ‒ an das Amtsgericht Tiergar-ten zurückverwiesen.

    G r ü n d e:

    Die Polizei Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 29. Juni 2023 gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 44 km/h eine Geldbuße von 1.000 Euro verhängt und auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 BKatV ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Auf seinen Einspruch hat das Amtsgericht den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung um 26 km/ zu einer Geldbuße von 500 Euro verurteilt. Ein Fahrverbot ist nicht verhängt worden. Hiergegen wendet sich die Amtsanwaltschaft Berlin mit der Rechtsbeschwerde. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg. 

    1. Allerdings ist die durch die Amtsanwaltschaft erhobene Inbegriffsrüge nicht zulässig. Die Amtsanwaltschaft beanstandet, dass das Amtsgericht keine Zeugen vernommen habe. Der Senat versteht den Einwand so, dass die für erwiesen erachtete Geschwindigkeit nicht durch den Inbegriff der Hauptverhandlung festgestellt worden ist, sondern unzulässig anderweitig ermittelt worden ist. Die zulässige Erhebung der Verfahrensrüge hätte aber Vortrag dazu erfordert, dass die gemessene Geschwindigkeit auch nicht anderweitig, etwa durch nach § 77 Abs. 2 OWiG zulässige Verlesung, in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist. 

    2. Die auf die Sachrüge zu prüfende Beweiswürdigung hält rechtlicher Prüfung indes nicht stand. 

    a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. 

    aa) Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 206, 207). Lückenhaft ist die Beweiswürdigung, wenn sich das Tatgericht nicht mit allen wesentlichen, den Betroffenen belastenden und entlastenden Indizien auseinandergesetzt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2010, 152; 2009, 377). Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht die für den Schuldspruch bedeutsamen Beweise erschöpfend gewürdigt, dass es die entscheidungserheblichen Umstände erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt hat (vgl. BGH NStZ 2020, 693; NStZ-RR 2003, 206, 207).

    bb) Für die Beweiswürdigung bei der Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit ungeeichtem und nicht justiertem Tachometer ist zu berücksichtigen, dass sie kein standardisiertes Messverfahren ist (vgl. Senat DAR 2015 99; a. A. wohl noch BGH NJW 1993, 3081), so dass sich der Tatrichter in jedem Einzelfall mit der Zuverlässigkeit der Messung und der Einhaltung der Voraussetzungen für die Verwertbarkeit auseinandersetzen muss. 

    aaa) Die Grundlagen der Messung müssen dem Urteil zu entnehmen sein. Namentlich muss sich ergeben, dass die Messstrecke ausreichend lang und der Abstand des nachfolgenden Fahrzeugs gleichbleibend und möglichst kurz war; zugleich muss die Geschwindigkeitsüberschreitung wesentlich sein (vgl. Zusammenstellung und Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche Owi-Verfahren, 7. Aufl., Rn. 2032). Bei in Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnissen durchgeführter Messung sind zusätzlich Angaben über die Beobachtungsmöglichkeiten der Polizeibeamten erforderlich (BayObLG DAR 2000, 320; OLG Hamm DAR 2002, 176). Für die hierbei festgestellten Rahmenbedingungen gilt im Einzelnen: Bei Geschwindigkeiten von 100 km/h und mehr sollen die Urteilsfeststellungen belegen, dass die Messstrecke nicht kürzer als 500 Meter war (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2001 - 3 Ws (B) 516/01 - [juris]; OLG Bamberg DAR 2006, 517; OLG Braunschweig DAR 1989, 110). Bei Geschwindigkeiten über 90 km/h soll der Verfolgungsabstand nicht mehr als 100 Meter betragen (vgl. BayObLG DAR 1996, 288; OLG Düsseldorf NZV 1990, 318; Thüringisches OLG aaO). Je kürzer die Messstrecke ist, desto genauere Angaben sind im Urteil über den Abstand zu machen (vgl. Hanseatisches OLG Hamburg DAR 1977, 52; Schleswig-Holsteinisches OLG Verk-Mitt 1974, Nr. 42).

    bbb) Die Bemessung des in Abzug zu bringenden Sicherheitsabschlags ist Tatfrage (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2009 ‒ Ss OWi 94/09 ‒ [juris]; OLG Stuttgart VRS 108, 223). 

    Der Tatrichter hat sie in freier Beweiswürdigung zu beurteilen und zu entscheiden (vgl. OLG Hamm NZV 2003, 249). Gegebenenfalls muss ein Sachverständiger gehört werden (vgl. OLG Hamm NZV 1995, 199). Will das Tatgericht von den der obergerichtlichen Rechtsprechung entsprechenden Toleranzwerten abweichen, bedarf es eingehender Darlegungen, warum dies im konkreten Fall ausnahmsweise geboten erscheint (vgl. Senat VRS 121, 107; OLG Celle NZV 2011, 411 [jeweils zu Lasten des Betroffenen]). 

    Welcher Toleranzabzug im Einzelnen vorzunehmen ist, wird in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte unterschiedlich entschieden (vgl. Zusammenstellungen bei Burhoff, a.a.O., Rn. 2044 und König in Hentschel/König/Dauer, StVR 47. Aufl., §  3 StVO Rn 62 a. E). Der Senat erfordert in ständiger Rechtsprechung einen Toleranzwert von 20% des sog. Ablesewertes („Bruttowert“), sofern die Messung durch Nachfahren und mit ungeeichtem und nicht justiertem Tachometer erfolgt. Dieser Betrag liegt über den von anderen Oberlandesgerichten geforderten Abschlägen.

    b) Gemessen an diesen Maßstäben ist die Beweiswürdigung hier lückenhaft. 

    aa) Unklar und insoweit lückenhaft ist die Beweiswürdigung bereits insoweit, als nicht erwähnt wird, auf welche Beweismittel das Tatgericht seine Erkenntnisse stützt. In der Beweiswürdigung wird lediglich geschildert, dass zwei namentlich bezeichnete Polizeibeamte dem Betroffenen nachgefahren sind. Wie diese Umstände festgestellt wurden, bleibt aber offen. Dass Zeugen vernommen worden sind, wird nicht ausgeführt. Dabei ist die Kenntnis, von welchem Beweismittel sich eine tatrichterliche Feststellung ableitet, Ausgangspunkt der rechtsbeschwerderechtlichen Überprüfung der Beweiswürdigung. Wurden Zeugen zu zentralen Gesichtspunkten vernommen, muss sich dies aus den Urteilsgründen ergeben, und zumindest aus ihrem Gesamtzusammenhang muss sich erschließen, ob und inwieweit ihnen geglaubt werden konnte. 

    Hier bleibt nicht nur offen, ob Zeugen überhaupt vernommen wurden. Bejahendenfalls bliebe auch unklar, was sie bekundet haben und ob und wie sie sich zu den Umständen geäußert haben, die das Tatgericht offenbar als so problematisch angesehen hat, dass es entgegen üblicher Praxis einen Toleranzabzug von 30 % vorgenommen hat. Dies gilt insbesondere für die Einschätzung des Amtsgerichts, „eine Ungenauigkeit beim Einhalten des gleichbleibenden Abstands“ sei nicht auszuschließen (UA S. 3). Ohne dass mitgeteilt wird, wie die Zeugen die Situation beschrieben haben ‒ denkbar wäre etwa ein sich während der Messung sogar vergrößernder Abstand ‒, ist es dem Rechtsbeschwerdegericht nicht möglich, die Beweiswürdigung nachzuvollziehen und substanziell zu bewerten. Zudem ist anerkannt, dass die Messung bei Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnissen „Angaben über die Beobachtungsmöglichkeiten der Polizeibeamten“ erforderlich macht (BayObLG DAR 2000, 320; OLG Hamm DAR 2002, 176). Auch hieran fehlt es. 

    bb) Der vom Amtsgericht zum Ausgleich von Messungenauigkeiten in Abzug gebrachte Wert von 30% (= 54 km/h) ist (auch) unter Zugrundelegung der Ausführungen der Beweiswürdigung nicht nachvollziehbar. Das Amtsgericht geht zunächst von der gesetzlich erlaubten Standardabweichung des Tachometers aus, die es mit „10 Prozent und weiteren 4 km/h“ beziffert. Dies wären, ausgehend von dem Bruttowert von 180 km/h, in der Summe 22 km/h. Zusätzliche 5% (9 km/h) bringt es dafür in Anschlag, dass die Messung zur Nachtzeit erfolgte, „was es abermals erschwert, den Abstand exakt einzuhalten“ (UA S. 3). Einen weiteren (Grund-) Wert schlägt das Tatgericht schließlich dafür auf, dass „eine Ungenauigkeit beim Einhalten des gleichbleibenden Abstands nicht ausgeschlossen“ werden könne (UA S. 3). Der Wert wird nicht bezeichnet, muss sich aber bei einem Gesamtabzug von 30% auf 12,8 % (= 23 km/h) belaufen. Das Amtsgericht bringt damit allein für den möglicherweise nicht gleichbleibenden Abstand einen Toleranzabzug von fast 18% in Anschlag.

    Dies ist nicht nachvollziehbar. Möchte das Tatgericht einen derart hohen Abschlag vornehmen, so hat es dies in einer auf die konkrete Beweisaufnahme gestützten Weise tatsachenbasiert zu begründen. Dies gilt umso mehr, als die Messung auf der AVUS erfolgte, die schnurgerade ist und damit als idealtypisch für eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren erscheint. Auch dieser Umstand stellt die Überlegung des Amtsgerichts, eine nicht auszuschließende „Ungenauigkeit beim Einhalten des gleichbleibenden Abstands“ begründe das Erfordernis größerer Toleranzen, in Frage und hätte einer auf die konkrete Beweisaufnahme bezogenen Auseinandersetzung bedurft. 

    3. Auf die revidierende Amtsanwaltschaft nicht beschwerende Bedenken gegen die Rechtsfolgenbemessung kommt es daher nicht mehr an. Als problematisch erscheint insoweit die Berücksichtigung von „Voreintragungen“ (UA S. 4), wobei die Urteilsfeststellungen nur eine solche belegen. Ebenso bleibt unklar, welche Umstände das Amtsgericht veranlassten, den Betroffenen, der an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, aber durch seinen Verteidiger eine sogar höhere als die gerichtlich festgestellte Geschwindigkeit einräumen ließ, als „uneinsichtig“ zu bezeichnen (UA S. 4). 

    4. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

    RechtsgebieteOWiG, StPOVorschriftenOWiG § 46 Abs. 1; StPO §§ 261, 267