13.03.2013 · IWW-Abrufnummer 130860
Oberlandesgericht München: Urteil vom 29.07.2011 – 10 U 1131/11
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OLG München
29.07.2011
10 U 1131/11
In dem Rechtsstreit
...
erlässt der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München
durch
die Richter am Oberlandesgericht ..., ... und ...
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 01.07.2011
folgendes Endurteil
Tenor:
1.
Die Berufung der Klägerin gegen das Endurteil des LG München I vom 11.01.2011 (Az. 17 O 11374/08) wird zurückgewiesen.
2.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A.
Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
I.
Das Landgericht hat im Ergebnis zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall verneint.
1.
Das Landgericht ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass zugunsten der Beklagten ein Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtspflichtverletzung zu Lasten der Klagepartei gegeben ist
Die höchstrichterliche Rechtsprechung nimmt einen Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen regelmäßig dann an, wenn auf einer Kreuzung oder Straßeneinmündung zwei Kraftfahrzeuge zusammenstoßen. Voraussetzung für die Annahme eines Anscheinsbeweises ist aber stets, dass es sich bei der Beweisfrage um einen typischen Geschehensablauf handelt, der unter Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze die Bejahung der Beweisfrage nahelegt und damit dem Richter die Überzeugung in vollem Umfang begründet. Ein solcher Erfahrungssatz für eine Vorfahrtverletzung besteht, wenn ein Wartepflichtiger beim Überqueren einer Vorfahrtstraße oder beim Einbiegen nach links mit einem Vorfahrtberechtigten zusammenstößt bzw. wenn es beim Einbiegen nach rechts zu einer Kollision mit einem sich von links nähernden Vorfahrtberechtigten kommt. Anders ist es jedoch dann, wenn ein Wartepflichtiger nach rechts in eine Vorfahrtstraße einbiegt und dabei auf der rechten Fahrbahnseite gegen einen von rechts kommenden und im Überholen begriffenen Verkehrsteilnehmer stößt. Im Hinblick darauf, dass die Wartepflichtige bei einer solchen Fallgestaltung keine Vorfahrtverletzung begeht, wenn keine Anzeichen dafür sprechen, dass eines der sich auf der Vorfahrtstraße nähernden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechselt, und auch das Vorhandensein solcher Anzeichen nicht sachverhaltstypisch ist, spricht hier kein erster Anschein für eine Vorfahrtverletzung der Klägerin als Ursache des Zusammenstoßes (vgl. BGH VersR 1982, 903). Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der BGH in seiner Entscheidung vom 26.09.1995 (NZV 1996, 27 [BGH 26.09.1995 - VI ZR 151/94]) vorgehende Rechtsprechung nicht aufgegeben, sondern lediglich präzisierend klargestellt, dass ein Vertrauen des rechts Abbiegenden auf freie Fahrt dann nicht entstehen kann, wenn bei einer herannahenden Kolonne mindestens ein Fahrzeug so verdeckt ist, dass der Abbiegende nicht sehen kann, ob der Fahrer dieses Fahrzeug nicht den linken Blinker betätigt hat, um ein Überholmanöver anzukündigen. Dies war hier nicht der Fall.
Auf Grund der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme, also der Anhörung der Klägerin und des Beklagten zu 1), der Einvernahme der Zeugin Sandra H. (auf die Einvernahme des Zeugen O. hat die Klägerin verzichtet) und des Zeugen M. sowie des Sachverständigen Dr. G., der sein erstinstanzlich erstattetes Gutachten im Lichte der vom Senat erholten Beweise erläutert hat, steht fest, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Einfahrens in die Kreuzung das bereits überholende Fahrzeug des Beklagten zu 1) hätte erkennen müssen. Dieses Fahrverhalten stellt als Missachtung des für sie geltenden Stopp-Schildes einen so schweren Verstoß gegen § 8 StVO dar, dass der Senat entgegen seiner vorläufigen Auffassung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Klägerin deshalb in vollem Umfang selbst für ihren Schaden aufzukommen hat, weil eine Haftung der Beklagten aus Betriebsgefahr dahinter zurückzutreten hat.
Zweifel an der Qualifikation des Sachverständigen bestehen nicht. Soweit die Klägerin in der Beweisverhandlung meinte, das Gutachtensergebnis mit der Behauptung angreifen zu müssen, Fahrstreifenwechsel ließen sich auch unter einer Sekunde bewerkstelligen, hat der Sachverständige schon auf den ihm vom Klägervertreter während der Anhörung gemachten Vorhalt überzeugend erläutert, dass die beiden hier durchzuführenden Fahrvorgänge (nach links lenken zum Ausscheren und zurücklenken zur Wiederherstellung der Fahrbahnparallelität) die von ihm angesetzte Zeit benötigt und unter eine Sekunde nicht machbar sind. Der Senat als Spezialsenat für Verkehrsunfälle aller Art verfügt über keine Erkenntnisse, dass diese vom Sachverständigen erläuterte Auffassung fehlerhaft sein könnte.
Entgegen der Auffassung der Klägerin erstreckt sich nach der Auffassung des BGH (s.o.), der sich der Senat anschließt, das Vorfahrtsrecht auf die gesamte Fahrbahn. Ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 5 II, III Nr. 1 StVO war im vorliegenden Fall nicht gegeben, da nach der durchgeführten Beweisaufnahme feststeht, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Kollision noch nicht in die bevorrechtigte Straße eingefahren war (Einlenkung von nur 20 ) und der Beklagte zu 1) beim Ausscheren zum Überholen allenfalls die an der Haltelinie stehende Klägerin wahrnehmen hat können. In dieser Situation durfte er trotz der Enge der Straße und der weiteren Verengung der Straße nach der Kreuzung davon ausgehen, dass die Klägerin sein Vorfahrtsrecht achtet und von einem Einfahren absieht. Das Überholverbot aus § 5 StVO schützt nur den Gegenverkehr, Vorausfahrende und den nachfolgenden Verkehr (vgl. BGH VR 68, 578), daher nicht den Querverkehr.
Auch wenn der Senat grundsätzlich dabei bleibt, dass der Beklagte zu 1) durch sein Überholmanöver den Anforderungen an einen Idealfahrer (§ 17 II StVG) deutlich nicht genügt hat, überwiegt doch der grobe Verkehrsverstoß der Klägerin in so großem Umfang, dass eine Mithaftung der Beklagten bei der nach § 17 II StVG vorzunehmenden Abwägung unterbleiben muss. Soweit die Klägerin in ihrer Anhörung ausgeführt hat, sie habe zuerst nach rechts geschaut, dann nach links und dann erneut nach rechts geschaut, kann ihr im Hinblick auf die Ausführungen des Sachverständigen kein Glauben geschenkt werden. Die Klägerin konnte, ein bewusstes Hineinfahren in die Kreuzung trotz Bemerkens des Überholvorgangs wird der Klägerin natürlich nicht unterstellt, nicht ein zweites Mal nach rechts geblickt haben, bevor sie in die Vorfahrtsstraße hineingerollt ist. Dies ist ihr zum Vorwurf zu machen. Alleine die Existenz des Stopp-Schilds, aber auch die Enge der Verkehrslage wirken sich in erster Linie zu Lasten der wartepflichtigen Klägerin aus und erforderten ihre gesteigerte Aufmerksamkeit. Auch ist zu beachten, dass sie selbst eingeräumt hat, die herannahenden Fahrzeuge des Zeugen M. und des Beklagten zu 1) vorher wahrgenommen zu haben. Sie durfte sich gerade im Hinblick auf die beengte Straßensituation in der Vorfahrtsstraße, die keine Mittellinie enthält, nicht darauf verlassen, dass eines dieser Fahrzeuge für sie keine Bedrohung darstellen würde. Auf Grund der durch den Sachverständigen erläuterten Zeitabläufe steht fest, dass zwischen dem behaupteten "ersten" Blick nach rechts und dem Einbiegen soviel Zeit vergangen ist, dass die Klägerin keinen sicheren Schluss mehr ziehen durfte, wo sich die von rechts kommenden Fahrzeuge bei ihrem Einbiegen befinden, so dass ein weiterer Blick nach rechts vor der Anfahrt unverzichtbar war, um sicher zu gehen, dass sie freie Fahrt hat. Der Sachverständige hat unmissverständlich darauf hingewiesen, dass der Beklagte zu 1) seinerseits nach Durchführung des Fahrstreifenwechsels in die Gegenfahrbahn keine Möglichkeit mehr hatte, den Unfall zu vermeiden. In der Summe muss es daher bei dem klageabweisenden Endurteil des Landgerichts verbleiben.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 I ZPO.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
Verkündet am 29.07.2011