· Fachbeitrag · 63. Deutscher Verkehrsgerichtstag
Die Empfehlungen des VGT 2025
| Der VGT 2025 geht zu Ende. Wie immer schließt er mit den Empfehlungen der Arbeitskreise. Diese stellen wir Ihnen nachstehend vor. |
Arbeitskreis I: Cannabis-Missbrauch im Straßenverkehr
Die Erhöhung des THC-Grenzwertes birgt Gefahren für die Verkehrssicherheit und zahlreiche Probleme für die Arbeit von Polizei, Fahrerlaubnisbehörden und Begutachtungsstellen:
- 1. Bezüglich des Mischkonsums von Cannabis incl. Medizinalcannabis und Alkohol sollte der Gesetzgeber im Straßenverkehrsgesetz eine Nulltoleranz festlegen, analog zu Fahranfängern.
- 2. Der Arbeitskreis empfiehlt die Aufnahme des Mischkonsums (Cannabis und Alkohol) in die Anlage 4 der Fahrerlaubnisverordnung (FEV) aufgrund der unvorhersehbaren Gefahren der Wechselwirkung.
- 3. Der Arbeitskreis fordert eine zügige Anpassung der Begutachtungsleitlinien zum Thema Cannabis an die aktuellen wissenschaftlichen Standards, um die neue Realität des Freizeitkonsums abzubilden.
- 4. Bei Ersttätern geht der Arbeitskreis von Cannabismissbrauch aus, wenn Zusatztatsachen vorliegen, die erwarten lassen, dass künftig nicht zwischen Konsum und Fahren getrennt wird. Diese Zusatztatsachen sind vom Gesetzgeber zu definieren. Sie können u.a. aus dem Konsummuster resultieren, dem Vortatgeschehen oder aus den Umständen des Tatgeschehens.
- 5. Der Arbeitskreis fordert die Bundesregierung bzw. den Gesetzgeber dringend auf, die zeitnahe Entwicklung von verdachtsausschließenden Vortestmöglichkeiten hinsichtlich der verschiedenen aktuellen Grenzwerte zu unterstützen.
- 6. Der Arbeitskreis begrüßt das Vorhaben des Gesetzgebers, bei Gefahrguttransporten THC-Nüchternheit festzulegen.
- 7. Der Arbeitskreis fordert, zur nötigen Fortentwicklung der „Vision Zero“ die Aufklärungsmaßnahmen bezüglich der Risiken des Cannabiskonsums für die Verkehrssicherheit sowie der geltenden Rechtslage erheblich zu intensivieren.
Arbeitskreis II: MPU-Vorbereitung unter der Lupe
- 1. Der Arbeitskreis ist der Auffassung, dass eine qualifizierte Vorbereitung auf die medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Verkehrssicherheit leistet. Die Vorbereitung zielt darauf ab, die Ursachen für vergangenes Fehlverhalten frühzeitig zu identifizieren und eine stabile Einstellungs- und Verhaltensänderung herbeizuführen.
- 2. Um dies zu ermöglichen, sind die Fahrerlaubnisbehörden anzuhalten, die Betroffenen schnellstmöglich ‒ entgegen der bestehenden Praxis ‒ über fahrerlaubnisrechtliche Folgen (z. B. MPU) zu informieren. Die Information sollte in einfacher Sprache verfasst sein, z. B. in Anlehnung an das von der Projektgruppe MPU-Reform entwickelte Infoblatt.
- 3. Der Arbeitskreis stellt fest, dass für eine zeitnahe Information ausreichend Mitteilungspflichten an die Fahrerlaubnisbehörden in den bestehenden Vorschriften enthalten sind, wie z. B. in § 2 Abs. 12 StVG und Nr. 45 Abs. 1 und 2 Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra). Von diesen sollte unmittelbar Gebrauch gemacht werden.
- 4. Es erscheint sinnvoll, Anbieter von MPU-Vorbereitungsmaßnahmen, die die Kriterien für fahreignungsfördernde Interventionen (FFI-Kriterien) erfüllen, auf Positivlisten zu erfassen. Die Fahrerlaubnisbehörden sollen berechtigt werden, diese Listen herauszugeben.
- 5. Der Arbeitskreis beobachtet mit Sorge, dass Manipulationsversuche und Straftaten im Zusammenhang mit dem Fahrerlaubnisverfahren zunehmen. Täuschungen und Fälschungen müssen ‒ auch unter Beachtung der o. g. Mitteilungspflichten ‒ angezeigt und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln des Strafrechts bekämpft werden.
- 6. Zur verbesserten Nachvollziehbarkeit der MPU-Gutachten sollen die im Rahmen der Begutachtung vorgelegten Belege über Abstinenz und MPU-Vorbereitung als Teil des Gutachtens gelten und demselben als Anlage beigefügt werden. Dies dient auch der Fälschungssicherheit. Der Arbeitskreis empfiehlt, unter Wahrung des Datenschutzes die technischen Möglichkeiten zur Verifizierung von Gutachten zu nutzen.
Arbeitskreis III: Hinterbliebenengeld und Schockschaden
- 1. Es besteht Einigkeit im Arbeitskreis darüber, dass sich das im Jahre 2017 eingeführte Hinterbliebenengeld grundsätzlich bewährt hat. Es kann den betroffenen Hinterbliebenen die Verarbeitung des erlittenen Verlusts erleichtern.
- 2. Der Arbeitskreis vertritt die Auffassung, dass im Falle einer eigenen psychischen Gesundheitsverletzung des Hinterbliebenen infolge der Tötung einer nahestehenden Person (Schockschaden) der Anspruch auf Hinterbliebenengeld im Anspruch auf Schmerzensgeld wegen des Schockschadens aufgeht. Folglich können nicht beide Ansprüche nebeneinander gewährt werden.
- 3. Der Arbeitskreis hält das bisherige System der Bemessung des Hinterbliebenengeldes im Einzelfall für richtig, sodass eine gesetzliche Festlegung bestimmter Beträge nicht für sinnvoll erachtet wird.
- 4. Der bisher in der Praxis als Orientierungshilfe der Bemessung eines Hinterbliebenengeldes dienende Betrag von 10.000 € erscheint dem Arbeitskreis angemessen.
Arbeitskreis IV: Die „sieben Todsünden“ des § 315c StGB auf dem Prüfstand
Die in § 315c Abs. 1 Nr. 2 Strafgesetzbuch (StGB) genannten Verkehrsverstöße („7 Todsünden“) bilden aktuell nicht mehr in Gänze die typischen Fehlverhaltensweisen von Fahrzeugführenden mit hohem Unfallrisiko ab. Um einem verkehrsgefährdenden Verhalten bereits auf präventiver Ebene effektiv zu begegnen, bedarf es neben einer Förderung von Präventionsarbeit einer verstärkten Kontrolldichte und moderner Kontrollmöglichkeiten.
Der Arbeitskreis empfiehlt, die Vorschrift (§ 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB) zu modifizieren. Folgende, grob verkehrswidrig und rücksichtslos begangene Verhaltensweisen mit konkreter Gefährdung von Leib oder Leben einer anderen Person oder fremden Sachen von bedeutendem Wert sollten einbezogen werden:
- 1. neben dem falschen Fahren an Fußgängerüberwegen („Zebrastreifen“) das falsche Fahren an durch Lichtzeichenanlagen gesteuerten Fußgängerfurten, da dort ein zumindest gleichwertiges Gefährdungspotenzial besteht;
- 2. aus demselben Grund die Missachtung des Vorrangs der zu Fuß Gehenden beim Abbiegen;
- 3. das falsche Fahren im Bereich von Baustellen, Arbeitsstellen, Unfallstellen oder liegengebliebenen Fahrzeugen, um den besonderen Gefahrensituationen an diesen Stellen Rechnung zu tragen;
- 4. die Benutzung eines elektronischen Gerätes, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist.
Die Norm erfasst derzeit auch denjenigen, der haltende oder liegengebliebene Fahrzeuge nicht auf ausreichende Entfernung kenntlich macht, obwohl das zur Sicherung des Verkehrs erforderlich ist. Mit Blick auf die aktuelle Unfallstatistik stellt dies kein besonders unfallträchtiges Verhalten dar, welches eine Strafwürdigkeit noch trägt. Der Arbeitskreis empfiehlt die Streichung dieser Alternative (§ 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. g StGB).
Arbeitskreis V: Kfz-Schadensgutachten: Gut ist nicht genug!
- 1. Mit Blick auf das jährliche Gesamtvolumen bei Schadensfällen mit Fahrzeugen in Höhe von über 30 Mrd. Euro und die Komplexität heutiger Fahrzeuge hält der Arbeitskreis unter Berücksichtigung der Verkehrssicherheit und des Verbraucherschutzes eine hohe Qualität in der Schadenfeststellung für unverzichtbar.
- 2. Hierzu wiederholt der Arbeitskreis mit Nachdruck die bereits auf den Verkehrsgerichtstagen 1985, 2003 und 2012 aufgestellte Forderung an den Gesetzgeber, eine Berufsordnung für Sachverständige für Kraftfahrwesen und Straßenverkehr, insbesondere für Fahrzeugschäden und -bewertung zu schaffen.
- 3. Mit der Richtlinie VDI-MT 5900 Blatt 2 werden erstmals allgemein anerkannte Mindestanforderungen an die Ausbildung und Qualifikation von Sachverständigen für Kfz-Schäden und -Bewertung sowie die Berufsausübung definiert. Diese Richtlinie stellt aus Sicht des Arbeitskreises die geeignete Grundlage für die Ausbildung und Qualifizierung der Sachverständigen sowie für die Gesetzgebung dar. Daher wird der Gesetzgeber aufgefordert, bei der Novellierung des Kraftfahrsachverständigengesetzes die Richtlinie VDIMT 5900 zu berücksichtigen.
Arbeitskreis VI: Fußgänger im Straßenverkehr ‒ Opfer oder Täter?
Der Fußverkehr ist zu stärken und als gleichberechtigte Verkehrsart anzuerkennen. Die Attraktivität des Fußverkehrs ist zu steigern. Die Anzahl der Unfälle mit Fußgängern muss deutlich gesenkt werden („Vision Zero“). Zur Erreichung dieser Ziele fordert der Arbeitskreis VI die zuständigen Stellen auf:
- ausreichende Flächen für den Fußverkehr bereit zu stellen,
- durchgängige und barrierefreie Fußwegenetze zu errichten und dabei einen sicheren und selbsterklärenden Verkehrsraum zu schaffen,
- sichere Querungen dort, wo offenkundiger Bedarf dafür besteht, einzurichten,
- das Parken an Querungsstellen und in Sichtfeldern zu unterbinden,
- Fuß- und Radwege möglichst voneinander zu trennen, insbesondere innerorts,
- Fußgängerzonen möglichst nicht für andere Verkehrsteilnehmer freizugeben,
- längere Querungszeiten und getrennte Grünphasen für Fußgänger und Abbiegeverkehr (konfliktfreie Ampelschaltung) zu schaffen,
- Assistenz- und Schutzsysteme in Kraftfahrzeugen stetig weiterzuentwickeln und verpflichtend anzuwenden, z.B. Systeme, die Fußgänger erkennen und selbst aktiv bremsen können sowie
- die Kontrolldichte und das Sanktionsniveau zu erhöhen sowie Regelverstöße konsequent zu ahnden.
Der Arbeitskreis würdigt die Bemühungen des Bundes und der Länder, den Handlungsspielraum der Kommunen im Straßenverkehrsrecht zu erweitern. Dennoch wird die Bundesregierung aufgefordert, diesen auch für präventive Verkehrssicherheitsmaßnahmen zu öffnen, insbesondere bei Geschwindigkeitsbegrenzungen. Der besondere Gefährdungsnachweis in § 45 Abs. 9 S. 3 StVO ist zu überdenken. Zudem wird der Gesetzgeber aufgefordert, den Vorrang des Fußverkehrs in § 9 Abs. 3 S. 3 StVO zu stärken und zu verdeutlichen. Die Fußverkehrsstrategie ist zu einem Nationalen Fußverkehrsplan weiterzuentwickeln. Für die Sicherheit des Fußverkehrs sind Regelkenntnis und -verständnis bei allen Verkehrsteilnehmern zu erhöhen. Kampagnen sowie die haupt- und ehrenamtliche Präventionsarbeit sind zu fördern.
Arbeitskreis VII: Fahrtüchtigkeitstest der Polizei
Der Arbeitskreis ist sich einig, dass polizeiliche Fahrtüchtigkeitstests ein wertvolles Instrument darstellen, um die Verdachtsgewinnung einer bestehenden Fahrunsicherheit von Fahrzeugführern zu verbessern.
Der Arbeitskreis empfiehlt:
- 1. Es ist eine qualifizierte Schulung der Polizeibeamten in der Anwendung von Fahrtüchtigkeitstests sicherzustellen. Dafür ist die Einbindung von
- Fachärzten mit verkehrsmedizinischer Zusatzqualifikation,
- Toxikologen,
- Verkehrspsychologen und
- Juristen
- erforderlich.
- 2. Der Erhaltung des erworbenen Qualitätsstandards ist besondere Bedeutung beizumessen. Dazu fordert der Arbeitskreis eine jährliche qualifizierte Fortbildung der Polizeibeamten und eine wiederkehrende Überprüfung ihres Wissenstandes.
- 3. Die angewandten Fahrtüchtigkeitstestverfahren und ihr Aussagegehalt über eine Fahrunsicherheit des betroffenen Fahrzeugführers sind wissenschaftlich zu überprüfen, ggf. zu optimieren und von der Beurteilung der Fahreignung zu trennen.
- 4. Eine einheitliche Anwendung der Fahrtüchtigkeitstests einschließlich ihrer Dokumentation ist herzustellen.
- 5. Staatsanwaltschaften, Gerichte und Fahrerlaubnisbehörden sind mit der polizeilichen Anwendung von Fahrtüchtigkeitstests vertraut zu machen.
Nach Ansicht des Arbeitskreises dürfen Fahrtüchtigkeitstests durch die Polizeibeamten nicht anlasslos angewendet werden. Der betroffene Fahrzeugführer ist insbesondere über die Freiwilligkeit seiner Mitwirkung an Fahrtüchtigkeitstests in verständlicher Weise zu belehren. Die polizeiliche Sicherstellung des Führerscheins ohne Straftatverdacht wird kritisch gesehen.
Arbeitskreis VIII: Aktuelle Probleme bei Fahrgastrechten im Schienenersatzverkehr
Der Schienenersatzverkehr hat angesichts der aktuell verstärkten Bautätigkeit im deutschen Schienennetz, aber auch bei sonstigen Streckensperrungen ‒ z. B. aufgrund witterungsbedingter Störungen ‒ eine zunehmende praktische und auch rechtliche Relevanz. Der Arbeitskreis empfiehlt daher, die Rechte der Fahrgäste im Schienenersatzverkehr im Kontext der Fahrgastrechte für den Eisenbahnverkehr speziell zu regeln, da die bestehenden
allgemeinen Regelungen der Eisenbahn-Fahrgastrechte-Verordnung (EU) 2021/782 dieser Konstellation nicht umfassend gerecht werden. Insbesondere folgende Punkte sollten geregelt werden:
- Der Begriff des Schienenersatzverkehrs sollte legal definiert werden.
- Im Schienenersatzverkehr sollten grundsätzlich die Fahrgastrechte nach der Eisenbahn-Fahrgastrechte-Verordnung (EU) 2021/782 gelten. Insbesondere für kurzfristig erforderliche Schienenersatzverkehre (mit einer Vorlaufzeit von z. B. weniger als 72 Stunden) können sachlich gerechtfertigte Ausnahmen vorgesehen werden.
- Das Eisenbahnverkehrsunternehmen sollte gegenüber den Fahrgästen für die korrekte Durchführung des Schienenersatzverkehrs verantwortlich sein und für sie als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.
- Verantwortlichkeiten weiterer Beteiligter, z. B. der ausführenden Unternehmen, sollten ausgestaltet werden.
Bei der Organisation des Schienenersatzverkehrs sollen die Beteiligten ‒ namentlich die Eisenbahnverkehrsunternehmen, die Aufgabenträger im öffentlichen Verkehr, die Eisenbahninfrastrukturbetreiber, die ausführenden Unternehmen und die betroffenen Kommunen ‒ zusammenarbeiten und dabei insbesondere auf Verkehrssicherheit und Barrierefreiheit achten. Die Verankerung einer gesetzlichen Pflicht zur Zusammenarbeit wird empfohlen. Die Empfehlungen richten sich an den europäischen und den nationalen Gesetzgeber im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten.