10.06.2011 · IWW-Abrufnummer 111808
Oberlandesgericht Frankfurt/Main: Beschluss vom 10.01.2011 – 22 U 174/07
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
22 U 174/07
Tenor:
Der Beklagte hat das Recht, bei der zahnärztlichen Untersuchung der Klägerin durch den Sachverständigen anwesend zu sein.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
Dem Beklagten, der die Klägerin in den Jahren 2002 und 2003 zahnärztlich behandelt hat, war erstinstanzlich seitens des durch das Landgericht bestellten Sachverständigen Dr. SV1 mit Schreiben vom 30.03.2006 (Bl. 231 d.A.) mitgeteilt worden, er könne an dem auf den 02.05.2006 anberaumten Untersuchungstermin teilnehmen. Am Terminstag stellte der Sachverständige Dr. SV1 es in die Entscheidungskompetenz der Klägerin, ob sie dem vor Ort anwesenden Beklagten gestatten wolle, der Untersuchung beizuwohnen. Die Klägerin verneinte dies, wobei zwischen den Parteien streitig ist, für welchen Zeitraum der Widerspruch der Klägerin gegen die Anwesenheit des Beklagten gelten sollte. Unstreitig wollte die Klägerin zumindest zunächst allein mit dem Sachverständigen sprechen. Der Beklagte entfernte sich daraufhin.
Schon erstinstanzlich (Schriftsatz vom 07.07.2006, dort S. 2, Bl. 260 d.A.) und erneut mit der Berufung rügte der Beklagte unter anderem die fehlende Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme und machte geltend, es sei ihm mangels Einräumung des Anwesenheitsrechts nicht möglich gewesen, dem Gutachter gegenüber "subjektive Angaben der Klägerin" (Bl. 260 d.A.) vor Ort richtig zu stellen. Der Senat hat den Parteien in der mündlichen Verhandlung vom 04.02.2010 und im Beweisbeschluss vom 22.04.2010 (Bl. 616 d.A.) mitgeteilt, dass er das erstinstanzlich eingeholte Gutachten wegen der Verletzung des Grundsatzes der Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme für nicht verwertbar halte und erneut Beweis erheben werde. Zum Sachverständigen wurde Dr. Dr. Dr. SV2 bestimmt.
Der Sachverständige hat im Zuge der den Untersuchungstermin vorbereitenden Terminsabsprachen unter Berufung auf die Entscheidung des OLG München vom 15.10.1999 (1 W 2656/99) die Ansicht vertreten, der Beklagte habe nur dann ein Anwesenheitsrecht bei der zur Durchführung der Begutachtung notwendigen Untersuchung, wenn die Klägerin damit einverstanden sei (Schreiben des Sachverständigen vom 04.10.2010, Bl. 683 f d.A.). Die Klägerin hat daraufhin ihre zunächst abgegebene Erklärung, sie habe keine Einwendungen gegen die Anwesenheit des Beklagten bei der Untersuchung (Schriftsatz vom 06.10.2010, Bl. 694 d.A.), "nicht mehr aufrechterhalten" (Schriftsatz vom 15.10.2010, Bl. 696 d.A.) und sich der Rechtsmeinung des OLG München angeschlossen.
Der Senat ist der Auffassung, dass im vorliegenden Fall ein Anwesenheitsrecht des Beklagten bei der zahnärztlichen Untersuchung der Klägerin durch den Sachverständigen besteht. Zwar stellt jede ärztliche Untersuchung einen Eingriff in die Privat- und Intimsphäre einer Person dar, jedoch greift andererseits jede Beweisaufnahme ohne Anwesenheit einer Partei in deren Recht auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren ein. Beide Rechtsgüter sind sch ützenswert, so dass in jedem Einzelfall eine Abwägung erforderlich ist, in die die Schwere der jeweiligen Beeinträchtigungen einzustellen ist.
Hier geht es um eine zahnärztliche Untersuchung, die - da inzwischen anderer Zahnersatz eingegliedert ist - nur in eingeschränktem Umfang Feststellungen in der Mundhöhle der Klägerin erfordert. Die Mundhöhle ist kein Bereich, bezüglich dessen gemeinhin eine besondere Scheu zur Offenbarung zu bestehen pflegt (vgl. OLG München NJW-RR 1991, 896). Der Beklagte hat in den Jahren 2002 und 2003 als der damalige Behandler der Klägerin diese bereits mehrfach zahnärztlich behandelt und untersucht. Die Befugnis hierzu hat er durch die Beendigung des Arzt-/Patientenverhältnisses und durch das damit einhergehende Entfallen der von der Klägerin erteilten Einwilligung zwar verloren; durch seine Anwesenheit bei der Untersuchung durch den Sachverständigen wird die Klägerin jedoch wegen seiner durch das ehemalige Behandlungsverhältnis bestehenden Vorkenntnisse nicht so stark belastet wie durch die Anwesenheit gänzlich fremder Personen.
Der Senat teilt nicht die Auffassung anderer Oberlandesgerichte (Nachweise siehe unten), dass bei jedweder Untersuchung einer Prozesspartei kein Anwesenheitsrecht der Gegenpartei bestehe. Vielmehr hat im jeweiligen Einzelfall nach Auffassung des Senats eine Abwägung unter Gewichtung der beiderseitigen Interessen stattzufinden. Dabei ist es durchaus von Bedeutung, auf welche Bereiche des Körpers sich die vom Sachverständigen durchzuführenden Untersuchungen beziehen und inwieweit Erläuterungen der Prozessparteien gegenüber dem Sachverständigen zu erwarten sind. Auch wenn die dem Schutz der Persönlichkeitsrechte in jedem Falle den Vorrang gebende Betrachtungsweise Entscheidungen klar und einfach macht, hat doch der vom Senat beschrittene Weg der Würdigung des Einzelfalls den Vorteil der größeren Einzelfallgerechtigkeit. Die Abwägung der beiderseitigen Interessen führt nicht in allen denkbaren Fällen zum Ergebnis des Vorrangs der Persönlichkeitsrechte.
Hier ist der relativ geringe Eingriff in die Privat- und Intimsphäre der Klägerin durch die Anwesenheit des Beklagten bei der zahnärztlichen Untersuchung gegen das Recht des Beklagten, die Untersuchung der Klägerin durch den Sachverständigen zu beobachten und während der Untersuchung sachbezogene Fragen und Anregungen anzubringen, abzuwägen. Der Senat kommt bei dieser Abwägung zu dem Ergebnis, dass die Beeinträchtigungen zwar auf Seiten der Klägerin durchaus Gewicht haben, dass jedoch im konkreten Fall die Beeinträchtigungen auf Seiten des Beklagten noch schwerer wiegen: Der Beklagte hat geltend gemacht, er hätte bei Anwesenheit während der Untersuchung einigen von ihm als "subjektiv" bezeichneten Angaben der Klägerin gegenüber dem Gutachter gleich widersprochen, was zu einem anderen Ergebnis des Gutachtens geführt hätte. Ob der erstinstanzlich tätige Gutachter tatsächlich zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, kann seitens des Senats nicht festgestellt werden; jedenfalls ist eine erhebliche Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens gegeben, wenn der Gutachter unter 2. (S. 2 - 4 des Gutachtens vom 24.05.2006, Bl. 236 ff d.A.) als "Spezielle Anamnese" "Angaben der Patientin beim Untersuchungstermin" in das Gutachten aufnimmt, die in einem Gespräch zwischen Gutachter und Klägerin gemacht wurden, zu dem dem Beklagten der Zutritt verwehrt wurde.
Die Abwägung führt - wie gezeigt - hier zu dem Ergebnis, dass im hier vorliegenden Fall die Anwesenheit des Beklagten bei der Untersuchung der Klägerin durch den Sachverständigen zulässig ist. Wenn die Klägerin diese dennoch nicht gestatten will, sieht die ZPO nicht die Vornahme irgendwelcher Zwangsmaßnahmen vor. Jedoch wird ein solches Verhalten bei der Beweiswürdigung, evtl. unter dem Gesichtspunkt einer partiellen Beweisvereitelung, zu berücksichtigen sein.
Der Senat hat die Rechtsbeschwerde nach § 574 I Nr. 2 ZPO zugelassen.
Mit der vorliegenden Entscheidung weicht er von den in Beschwerdeverfahren wegen Befangenheit ergangenen Beschlüssen des OLG München vom 15.10.1999 (1 W 2656/99), des OLG Köln vom 25.03.1992 (27 W 16/92, NJW 1992, 1568) und des OLG Hamm vom 16.07.2003 (1 W 13/03) ab. Zwar sind Anordnungen des Prozessgerichts nach § 404 a ZPO als Bestandteile oder Ergänzung eines Beweisbeschlusses grundsätzlich ebenso wenig anfechtbar wie dieser selbst (§ 355 II ZPO); jedoch sind hiervon solche Fälle auszunehmen, in denen die Zwischenentscheidung selbst bereits einen für die Partei bleibenden rechtlichen Nachteil zur Folge hat, der sich im weiteren Verfahren jedenfalls nicht mehr vollständig beheben lässt (vgl. BGH I ZB 118/07 vom 18.12.2008, zitiert nach juris). Ein solcher später nicht mehr vollständig zu behebender Nachteil ist der vom Senat nach Abwägung der beiderseitigen Parteiinteressen hingenommene Eingriff in die Privatsphäre der Klägerin durch die Anwesenheit des Beklagten bei der zahnärztlichen Untersuchung.