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  • · Fachbeitrag · Interview

    „Jeder Arzneimittelhersteller sollte mindestens zwei Produktionsstätten haben ‒ eine davon in Europa“

    | Lieferengpässe sind seit Jahren ein Ärgernis für Apotheken. Die Bundesregierung kann die Situation nun auf europäischer Ebene verbessern, denn seit dem 01.07.2020 hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Bereits im Vorfeld hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn angekündigt, dass die Produktion von kritischen Arzneimitteln wieder nach Europa verlagert werden soll. Dr. Peter Liese ist Sprecher der EVP-Fraktion für Umwelt, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) fragte ihn nach einem konkreten Fahrplan, um die Lieferengpässe zu überwinden. |

     

    Frage: Welche konkreten Schritte sind auf europäischer Ebene notwendig, um Europa bei Arzneimitteln unabhängiger von Asien zu machen?

     

    Antwort: Wir müssen in der Europäischen Union unbedingt Maßnahmen ergreifen, um Arzneimittelengpässe zu vermeiden. Dafür brauchen wir kurzfristige Maßnahmen, z. B. eine bessere Abstimmung in den Mitgliedstaaten über die tatsächlich vorhandenen Mengen. Es scheint so zu sein, dass teilweise Arzneimittel noch reichlich vorhanden sind und in den anderen EU-Ländern schon sehr knapp. Hier sollte man sich gegenseitig aushelfen.

     

    Frage: Damit ist aber noch kein zusätzliches Arzneimittel in Europa produziert. Und das sollte doch eigentlich das Ziel sein, oder?

     

    Antwort: Wir brauchen langfristig einen Plan, um die Versorgung zu sichern. D. h., wir müssen die Arzneimittelproduktion in Europa stärken. Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen, auch finanzielle Unterstützung aus dem europäischen Wiederaufbauplan. Außerdem benötigen wir aus meiner Sicht einen gesetzgeberischen Rahmen, der sicherstellt, dass bei Ausschreibungen nicht nur der Preis, sondern auch die Versorgungssicherheit zählt.

     

    Frage: Wie könnte die Versorgungssicherheit denn verbessert werden?

     

    Antwort: Es sind Anreize für die Industrie erforderlich, im Zweifel ist aber auch ein gesetzlicher Zwang nötig, um die Produktion zu diversifizieren. Entscheidend ist, dass man mehrere Produktionsstätten für wichtige Wirkstoffe hat. Vorzugsweise sollte mindestens eine davon in der Europäischen Union liegen.

     

    Wir sollten uns also nicht allein auf die Frage konzentrieren, ob die Produktion in Europa oder gar in Deutschland stattfindet. Denn wenn ein Medikament in Deutschland hergestellt wird, kann auch etwas passieren, z. B. ein Brand oder eine Verunreinigung. Dann ist das Arzneimittel auch in diesem Fall knapp, wenn wir keine Alternativen haben.

     

    Frage: Wie könnte so ein gesetzlicher Zwang aussehen?

     

    Antwort: Ich glaube, wir müssen darauf setzen, dass jeder, der lebenswichtige Arzneimittel auf den europäischen Markt bringt, nachweisen muss, dass er mindestens zwei Produktionsstätten hat. Davon sollte eine am besten in Europa liegen.

     

    Frage: Die Produktion in Europa dürfte teurer werden als in Asien. Wer soll die höheren Kosten tragen?

     

    Antwort: Sicherlich werden die Kosten steigen, aber Gesundheit ist ein hohes Gut und es muss uns die Sache wert sein. Ich denke, dass es ‒ wie in ähnlichen Fällen ‒ eine Mischung geben muss. Die Kostenträger, also z. B. in Deutschland die Krankenversicherungen, müssen bereit sein, einen höheren Preis zu zahlen. Außerdem geben wir Mittel aus dem europäischen Wiederaufbauplan.

     

    Frage: Was ist mit der pharmazeutischen Industrie?

     

    Antwort: Sie muss möglicherweise auch auf einen Teil ihrer Gewinnmarge verzichten, wo diese erheblich ist. Das ist aber bei manchen knappen Arzneimitteln nicht unbedingt der Fall.

     

    Frage: Von welchem Zeithorizont reden wir hier?

     

    Antwort: Wir brauchen kurzfristige Maßnahmen. Die Verlagerung der Produktion wird aber einige Jahre benötigen. Wichtig ist, dass im nächsten halben Jahr unter deutscher Ratspräsidentschaft die richtigen Entscheidungen getroffen werden.

     

    Frage: Die Bundesländer fordern, dass auch in Deutschland mehr Arzneimittel produziert werden als zurzeit. Wie kann diese Forderung in eine europäische Strategie integriert werden?

     

    Antwort: Die Forderung, das Ganze auf Deutschland zu konzentrieren, finde ich nicht besonders sinnvoll. Natürlich sollte die Bundesregierung im Rahmen ihrer Verantwortung alles tun, um die deutsche Arzneimittelindustrie zu stärken. Es muss aber nicht alles in Deutschland stattfinden. Jedes europäische Land hat unterschiedliche Stärken und wir sollten dafür sorgen, dass diese unterschiedlichen Stärken optimal ausgenutzt werden.

     

    Frage: Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass es während einer möglichen zweiten Corona-Welle zu gefährlichen Lieferengpässen kommt?

     

    Antwort: Das Risiko, dass es in der Pandemie zu weiteren Lieferengpässen kommt, ist leider sehr hoch. Die Vorfälle bei Tönnies zeigen, dass Corona weiter unter uns ist, und offensichtlich war ja das Klima in dem Zerlegebetrieb eine wichtige Ursache für die Verbreitung. Dieses Klima werden wir im Herbst und Winter in ganz Europa haben. Deswegen müssen wir sehr aufpassen, dass das Virus sich nicht verbreitet, und auch jetzt schon Maßnahmen ergreifen, damit sich Arzneimittelengpässe wie im März/April nicht wiederholen.

    Quelle: Ausgabe 09 / 2020 | Seite 7 | ID 46684943